Stephanie Barts neuer Roman beschreibt die 1970er Jahre aus der Sicht der RAF-Angehörigen Gudrun Ensslin

»Erzählung zur Sache«

Buchvorstellung von Elmar Millich

Mit dem Roman »Erzählungen zur Sache« ist Stephanie Bart ein Zeitsprung in die bleierne Zeit der 1970er Jahre gelungen. Auf 550 Seiten beschreibt sie aus der Sicht des prominenten RAF-Mitglieds Gudrun Ensslin deren Inhaftierung in Köln-Ossendorf und Stuttgart-Stammheim von ihrer Festnahme 1972 bis zur Todesnacht von Stammheim im Oktober 1977, in der sie zusammen mit Andreas Bader und Jan-Karl Raspe unter bisher ungeklärten Umständen zu Tode kam.

Nicht umsonst beginnt der Roman aber mit dem Angriff der RAF auf das US-Hauptquartier in Heidelberg im Mai 1972. Ihr Hauptziel war ein Computersystem, mit dem die US-Armee ihren Nachschub für die Flächenbombardierungen in Nord- und Südvietnam berechneten. In einer eigenwilligen Sprachform, die das ganze Buch durchzieht, wird hier die subjektive politische Motivation sichtbar, aus der die RAF ihren politischen Kampf entwickelt hatte in Solidarität mit den damaligen Befreiungskämpfen von Palästina bis Lateinamerika.

Bis auf einen weiteren Einschub, die Befreiung von Andreas Baader aus dem Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen 1970, beschreibt der Roman aber die Situation und den Kampf gegen die Haftbedingungen in den Gefängnissen und den Prozess gegen die RAF-Mitglieder in Stuttgart Stammheim. Erstmalig in der Geschichte der deutschen Justiz wurden international gewonnene Erkenntnisse über die persönlichkeitszerstörende Wirkung von Totalisolation gegen die Gefangenen der RAF eingesetzt. Der Roman legt minutiös dar, wie trotz nach außen demonstrierter Aufrechterhaltung des Rechtsstaatsprinzips Bundeskriminalamt, Bundesanwaltschaft und die Innenministerien in Bund und Ländern alle Fäden in der Hand hielten. Dagegen setzten die Gefangenen mehrere Hungerstreikkampagnen, die vom Staat mit Zwangsernährung gekontert wurden und im Tod von Holger Meins im November 1974 gipfelten.

Weiten Raum nimmt auch der Prozess in Stammheim ein, indem einzelne Prozesstage fast protokollarisch wiedergegeben werden. Systematisch versuchte der vorsitzende Richter Prinzing teils auf direkte Weisung der Bundesanwaltschaft die Rechte der Verteidigung – prominent vertreten u.a. durch Klaus Croissant, Otto Schily und Christian Ströbele – auszuhebeln. Auch Teile der Strafverteidiger wurden Opfer der staatlichen Verfolgungshysterie in Form von Kanzleidurchsuchungen und Anklagen.

Spannend macht das Buch, dass es komplett aus der (recherchierten) Sicht von Gudrun Ensslin erzählt wird und keinerlei ideologische oder sprachliche Kompromisse eingeht. Darauf weist die Autorin auch in einem Vorspann hin, um sich vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen. Der von Stephanie Bart vollführte Zeitsprung fünfzig Jahre in die Vergangenheit zeigt aber auch, wie sehr die Deutungshoheit über internationale Entwicklungen zunehmend beim Staat und den führenden Medien liegen und sich die Spielräume für die politische Linke in Deutschland verengt haben. Mittlerweile wird fast jeder dem Westen nicht genehme bewaffnete Widerstand im Trikont mit dem Label »terroristisch« gebrandmarkt, während staatliche Massaker und Kriegsverbrechen entweder unter den Tisch gekehrt oder schöngeredet werden.

Das Buch ist aber auch für Leser:innen des Kurdistan Report von Interesse, weil es eine Kontinuität des Widerstands gibt. Auch wenn sich die RAF formal erst 1998 auflöste, gab es seit dem Beginn der 1990er Jahren in Teilen des mit der RAF sympathisierenden sogenannten antiimperialistischen Lagers in Deutschland eine Umorientierung hin zur kurdischen Befreiungsbewegung. Als Beispiel sei hier Andrea Wolf (Ronahî) erwähnt, die 1998 bei der kurdischen Guerilla ums Leben kam, vom türkischen Staat ermordet.

Am Schluss dieser Rezension soll nicht verschwiegen werden, dass die Lektüre des Buches mehr Konzentration erfordert, als Vergnügen bereitet. Das liegt zum einen am Inhalt des Stoffes, aber auch an der Sprache, die bewusst keine unterhaltenden oder spannungsaufbauenden Stilmittel verwenden will. Stephanie Barts Werk ist eine Dokumentation deutscher Zeitgeschichte in Romanform.

Stephanie Bart, Erzählung zur Sache
Secession Verlag Berlin, 550 S.
28,00 €


  Kurdistan Report 232 | März / April 2024