Die Stiftung der freien Frau in Syrien WJAS organisiert Bildung in al-Hol

Besuch im Camp al-Hol

Bericht einer Frauendelegation

 

Mitarbeiterinnen_WJAS_Al-HolIm September 2023 besuchte eine Frauendelegation aus Deutschland Projekte der Frauenstiftung WJAS (Weqfa Jina Azad a Sûrî) in Nord- und Ostsyrien1, darunter das Bildungsprojekt für Frauen in al-Hol.

Unser Besuch des al-Hol Camps war wohl der emotional am stärksten herausfordernde. Al-Hol ist ein ­trostloser Ort, an dem Tausende von Frauen und Kindern untergebracht sind, die keine Zukunftsperspektive haben. So verwundert es nicht, dass der IS im Camp fest verankert ist und es gar als Kaderschmiede für zukünftige Kämpfer betrachtet. Aber auch hier gibt es ein Pflänzchen der Hoffnung. Im Bildungszentrum der Frauenstiftung haben wir fröhliche Gesichter junger Frauen gesehen, die trotz der Bedingungen im Camp Hoffnung haben und dem tristen Lageralltag mit Hilfe der Bildungsarbeit der Frauenstiftung etwas entgegensetzen.

Das Camp al-Hol war ursprünglich für 20.000 geflüchtete Iraker:innen des Golfkriegs von 1991 geplant und wurde später auf eine Kapazität von 40.000 Geflüchteten erweitert. Als der IS 2014 in Syrien und Irak ein großes Gebiet besetzte, kamen Menschen ins Camp, die vor dem IS geflohen waren. Als der IS 2019 von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD2) geschlagen wurde, wurden viele Frauen und Kinder aus den befreiten Gebieten ins Camp gebracht. Heute sind ca. 50.000 Menschen im Camp untergebracht, ca. 25.000 Iraker:innen, ca. 18.000 Syrer:innen und ca. 7.500 Staatsangehörige aus Drittländern.

Im Camp leben also IS-Unterstützer:innen und IS-Angehörige, darunter auch die aus Drittstaaten, die in einem eigenen Bereich untergebracht sind, den sie nicht verlassen dürfen und der von anderen Camp-Bewohner:innen nicht betreten werden darf. Daneben leben im Camp aber auch Menschen, die vor dem IS geflohen sind, Menschen, die jahrelang unter der IS-Herrschaft gelebt (und gelitten) haben sowie noch einige der ursprünglich untergebrachten Iraker:innen aus dem Golfkrieg. Man kann also nicht davon sprechen, dass in al-Hol 50.000 IS-Familien leben; vielmehr ist es notwendig zu differenzieren, denn die IS-Angehörigen, die im Camp leben – Frauen, Mädchen und Jungen –, stellen eine große Bedrohung für die anderen Gruppen dar. In Gesprächen mit Mitarbeiterinnen der Frauenstiftung und Frauen aus dem Camp wurde uns berichtet, dass die IS-Frauen im Camp für den IS mobilisieren. Frauen, die vor der IS-Herrschaft geflohen sind, sehen sich hier mit Frauen konfrontiert, die sie zum IS »bekehren« wollen, sie bedrohen und auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. Die Situation war und ist für die im Camp lebenden Frauen und Kinder sehr belastend und auch gefährlich, da die IS-Frauen, als sie ins Camp kamen, sofort angefangen haben ihre IS-Strukturen aufzubauen und die anderen Frauen ideologisch zu beeinflussen. Auch heute noch werden Frauen unter Druck gesetzt sich der Ideologie anzuschließen, müssen Kinder an den IS abgeben, oder werden selbst verkauft. Im Camp leben, bis auf einige ältere Männer, hauptsächlich Frauen und Kinder, aber auch männliche Jugendliche, die im Alter von 15/16 Jahren von den Frauen als Männer angesehen werden. Eine Kursteilnehmerin im Stiftungshaus hat uns z.B. berichtet, dass sie vor diesen Männern Angst hat. Eine andere sagte, dass es viel Gewalt in den Zelten gibt und Frauen manchmal nachts aus Angst vor Gewalt nicht schlafen. Sie selbst ist allein mit ihren Kindern und hat Angst, dass ihre Nachbar:innen sie und ihre Kinder nachts umbringen.

Die Selbstverwaltung übernimmt Verantwortung

Die Situation im Camp ist aus humanitärer und sicherheitstechnischer Sicht extrem schwierig. Die Autonome Administration Nord- und Ostsyrien (AANES) übernimmt Verantwortung für das Camp, aber sie hat dafür nicht annähernd ausreichende Ressourcen. Sicherheitskräfte der QSD bewachen den Ein- und Ausgang des Camps, patrouillieren im Camp und führen Razzien durch. Dies konnte aber nicht verhindern, dass sich im Camp Bereiche gebildet haben, in denen der IS das Sagen hat. Der IS sendet auch Waffen und Geld an seine Unterstützer:innen im Camp und versucht Unterstützer:innen herauszuschmuggeln. Bei Durchsuchungen des Camps wurden Tunnel, Gräben und Waffen, aber auch Unterrichtsmaterial gefunden. Es ist schon länger bekannt, dass Jugendliche in den Trakt geschleust werden und mit besonders radikalisierten IS-Frauen Kinder zeugen.

Die Autonome Administration hat Schulen im Camp aufgebaut, aber die IS-Frauen schicken ihre Kinder nicht in diese Schulen. Sie unterrichten ihre Kinder heimlich im Zelt mit den eingeschmuggelten Unterrichtsmaterialien, um sie in der IS-Ideologie zu erziehen und von anderen, demokratischen Einflüssen, fernzuhalten. Die Indoktrination der Kinder und die Tatsache, dass sie der IS als potentielle nächste Generation sieht, macht al-Hol zu einem der gefährlichsten Orte weltweit. Es besteht durchaus die Gefahr eines Angriffs des IS auf das Camp, um diese Kinder zu befreien und zu Kämpfern auszubilden.

Internationale Verantwortung

Vor dieser Gefahr darf die internationale Staatengemeinschaft, insbesondere auch Deutschland, nicht die Augen verschließen. Wenn ein weiteres Erstarken des IS verhindert werden soll, benötigt die Selbstverwaltung internationale Unterstützung, um die Sicherheit des Camps, sowohl für die im Camp lebenden Menschen, als auch zum Schutz der Region vor Ausbrüchen zu gewährleisten. Es bedarf außerdem wirksamer Resozialisierungsprogramme und Hilfe zur Eingliederung für diejenigen, die nicht dem IS angehören.

Die einzige langfristige Lösung ist aber, die Menschen in ihre Ursprungsländer zurückzuführen. Darüber gibt es ein weitreichendes Übereinkommen. Der Syrische Demokratische Rat hat z.B. 2020 entschieden, dass alle Syrer:innen frei sind das Camp zu verlassen und erkennt damit an, dass nicht alle Syrer:innen dem IS ideologisch verbunden waren. In der Praxis ist dies aber schwierig. Viele der Frauen haben Angst in ihre Kommunen zurückzukehren, da ihnen das Stigma einer Insassin von al-Hol anhaftet. Und dann gibt es auch noch das Problem der Identitätsnachweise: Wenn Syrer:innen das Camp verlassen möchten, brauchen sie Identitätsnachweise und müssen sich registrieren. Viele besitzen aber keine solchen Nachweise, weil sie in den Kriegsjahren durch Vertreibung verloren gegangen sind oder nicht mitgenommen wurden.

Für die Iraker:innen im Camp gibt es Ansätze der irakischen Regierung zur Rückführung, aber diese laufen langsam und stückchenweise, nur ca. 150 Familien verlassen jeden Monat das Camp. Da aber 25.000 Iraker:innen im Camp untergebracht sind, ist das weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Für die Angehörigen von Drittstaaten gibt es wenig Anstrengungen. Insbesondere westliche Regierungen nehmen kaum Staatsangehörige zurück. Frankreich hat z.B. vor kurzem erklärt, es werde keine weiteren Rückführungen vornehmen, obwohl noch einige seiner Staatsangehörigen im Camp sind. Auch Deutschland nimmt derzeit keine IS-Angehörigen mehr zurück, obwohl noch weitere deutsche IS-Angehörige im al-Hol-Camp oder anderen Einrichtungen untergebracht sind. Auch die Drittstaaten müssen Verantwortung für ihre Staatsangehörigen übernehmen und sie nicht einfach der AANES und den QSD zuschieben, die dafür völlig unzureichend ausgerüstet sind. Die Drohung, die das Camp al-Hol für eine potentielle Wiederkehr des IS darstellt, ist nicht nur eine Gefahr für die Region, sondern auch für uns.

Gebäude_der WJAS_in_Al-HolDie Bildungsarbeit der Frauenstiftung im Al Hol Camp

Um so wichtiger ist die Arbeit der Frauenstiftung im al-Hol Camp. Die Stiftungsfrauen, die im Camp arbeiten, empfinden ihre Arbeit als sehr wichtig; sie erreichen Frauen, die noch nicht ideologisiert sind, machen ihnen Angebote, unterstützen und stärken sie, damit sie sich gegen die IS-Frauen und deren Kinder wehren können. Auch kommen Frauen zu ihnen, die aus der al-Hol-Atmosphäre heraus wollen. Sie wollen sich ändern, ihre durch den IS geprägte Einstellung ändern, erzählt eine Mitarbeiterin. Daraus ziehen die Frauen der Stiftung ihre Motivation diese gefährliche Arbeit durchzuführen und auszubauen. Sie haben uns eine andere Seite des Camps gezeigt. Ihre Erzählungen von Frauen aus dem Camp, die lernen und ihren Kindern etwas beibringen wollen, die ihnen die Möglichkeit zum Lernen geben wollen und die Motivation, die sie daraus ziehen, haben uns beeindruckt. Wir konnten selbst sehen, wie gut es den Frauen aus dem Camp tut, in das Stiftungszentrum zu kommen. Sie entspannen, sind gelöst, können abschalten.

Wie konnte das gelingen? Als die Stiftung begann das Bildungszentrum im al-Hol Camp aufzubauen, sind die Stiftungsfrauen im Camp herumgegangen, um die Arbeit der Stiftung und ihre Ziele bekannt zu machen. Es gab zu der Zeit immer wieder Angriffe auf das Gebäude der Stiftung und teils auch auf die Mitarbeiterinnen, sie haben aber immer weiter gemacht. Inzwischen hat sich die Situation gebessert, das Stiftungszentrum und die Stiftungsfrauen werden akzeptiert. Sie haben es geschafft Kontakt zu Irakerinnen und einigen nicht-ideologischen Syrerinnen aufzubauen und die Frauen ins Stiftungszentrum einzuladen. So hat sich die Arbeit der Stiftung herumgesprochen, und heute kommen neue Frauen, weil sie von anderen Frauen davon gehört haben. Inzwischen ist die Nachfrage so groß, dass das ursprüngliche Gebäude nicht mehr ausreichte und ein größeres renoviert und bezogen werden musste.

Das neue Stiftungsgebäude hat drei Räume und eine kleine Küche. Es ist von 9:00 bis 14:30 Uhr geöffnet. Die Frauen, die das Stiftungszentrum besuchen, kommen nur aus einigen Bereichen des Camps. Es ist in acht Bereiche unterteilt. Die Frauen im Bereich für Drittstaatenangehörige können nicht in das Zentrum kommen, da sie ihren Bereich aus Sicherheitsgründen nicht verlassen dürfen. Aus den meisten anderen Bereichen kommen Frauen in das Stiftungszentrum. Damit sind durchaus auch Schwierigkeiten verbunden, denn die Stiftungsfrauen wissen zunächst nicht, ob auch dogmatische Frauen unter den Teilnehmerinnen sind. Besonders bei neuen Frauen gibt es Unsicherheiten, da viele Frauen auch sehr verschlossen sind. Deshalb geht es den Stiftungsfrauen bei neuen Frauen aus dem Camp zunächst um ein gegenseitiges Kennenlernen, im Verlauf dessen beide Seiten offener und entspannter werden können.

Kurse und Seminare

Im Stiftungszentrum werden Kurse und Seminare, sowie eine (Aus-) Bildung in der Nähwerkstatt angeboten. Die Ausbildung geht über zwei Stunden am Tag, an drei Tagen der Woche und dauert insgesamt eineinhalb Monate. Die Lehrerin ist Schneiderin und kommt selbst aus dem Camp. Eine Kursteilnehmerin (18 J.) sagt uns: »Ich wollte die Ausbildung machen, um Kleidung für meine Kinder, meine Mutter und mich nähen zu können. Ich möchte auch Kleidung nähen und sie verkaufen, um damit eigenes Geld zu verdienen.« Bei unserem Besuch war gerade eine Bildung beendet und wir konnten an der Zertifikatsverleihung teilnehmen. Die jungen Frauen waren ganz aufgeregt und präsentierten stolz ihre Zertifikate. Zum Abschluss gab es auch eine gemeinsame Feier, bei der auch noch kurz getanzt wurde.

Naturheilkunde campholDreimal pro Woche finden außerdem Kurse und Seminare im Zentrum und in einzelnen Zelten statt. Die Seminarthemen bilden ein breites Spektrum ab: Frau und Familie, Kinderehen, Gesundheit, Werte und Prinzipien, Mentalität, um einige Beispiele zu nennen. Das Interesse an der Bildung wie den Seminaren ist groß; bis zu 20 Frauen können an einem Seminar teilnehmen. Als wir ankamen, fand gerade ein Kurs zur Naturheilkunde statt – den gibt es dort jeden Donnerstag. Die Leiterin erzählt über verschiedene Mittel, um einfache Krankheiten zu behandeln – auch was gut für die Haare und für die Haut ist – und bietet Mixturen und Cremes für verschiedene Behandlungen an. Die Stimmung im Kurs ist gelöst.
Aber auch außerhalb der Seminar- und Bildungszeiten kommen Frauen in das Stiftungszentrum und nutzen diesen Ort auch als einen sozialen Ort, einen Treffpunkt, in dem sie unter Gleichgesinnten sein und gemeinsam Zeit verbringen können. Nach dem Kurs erzählen uns verschiedene Teilnehmerinnen ihre Geschichte. Eine sagt z.B.; »Ich wurde mit 11 Jahren verheiratet und habe zwei Kinder bekommen. Jetzt bin ich 17 und lebe seit vier Jahren im Camp. Es ist gut einen Ort zu haben, an dem man lernen kann, es hilft mir sehr Neues zu lernen. Wir werden dort unterstützt, und ich kann entspannt sein. Im Zelt bin ich alleine, bei der Stiftung kann ich mit anderen Frauen zusammen kommen, reden, lachen. Deshalb komme ich jeden Tag hierher, auch wen ich an keiner Bildung teilnehme.« Eine andere Teilnehmerin gibt sich kämpferisch: »Ich sollte mit 12 Jahren verheiratet werden. Ich wollte das nicht und habe dagegen gekämpft. Das Leben besteht nicht nur darin, mit einem Mann verheiratet zu sein, man muss sich auch eigene Gedanken machen und einen eigenen Kopf haben.« Aber auch im al-Hol Camp ist es so – sobald eine Kamera da ist, verschleiern sich die Frauen komplett. Sobald die Kamera weg ist und sie vertrauen zu den Frauen im Raum haben – wird die Gesichtsverschleierung, manchmal auch die ganze Burka, abgenommen.

Die Motivation der Mitarbeiterinnen

Zum Schluss unseres Besuches erzählen uns die Mitarbeiterinnen, warum sie diese Arbeit machen und von den Herausforderungen darin. Für die Arbeit im Camp brauchen sie z.B. mehr und vor allem geschulte Kolleginnen, die sich u.a. in der Traumapädagogik auskennen. Aber es gibt wenige, die dort arbeiten wollen; und wenn jemand gefunden ist, ist es häufig so, dass sie mehr Lohn verlangen, als die Stiftung finanzieren kann. Auch haben die Stiftungsmitarbeiterinnen den Wunsch, die Arbeit mit Kindern auf- und auszubauen. Aber auch dazu fehlen die finanziellen Mittel. Eine Stiftungsmitarbeiterin, die seit 2015 im al-Hol Camp arbeitet, sagt uns: »Ein Ort für die Kinder wäre gut, die Hälfte der Frauen schickt ihre Kinder nicht zur Schule. Sie akzeptieren die Campschulen nicht, weil sie von der Autonomen Administration sind. Die Kinder sollten auch etwas anderes kennenlernen, z.B. Musikunterricht bekommen, malen, mit Spielzeug spielen können, nicht immer nur über Religion lernen.«

Die Arbeit im Camp ist nicht einfach, es besteht immer auch das Risiko, dass die Stiftungsmitarbeiterinnen von ideologisierten IS-Frauen angegriffen werden. Sie empfinden aber die Arbeit im al-Hol Camp als sehr wichtig und machen sie gerne. Sie ziehen Motivation z.B. daraus, dass die Teilnehmerinnen der Bildungen und Kurse lernen eigene Stärke zu entwickeln und dass sie andere Werte kennenlernen. »Die Frauen wollen lernen, haben Wünsche und Bedürfnisse, sie wollen ihren Kindern etwas beibringen können und ihnen die Möglichkeit zum Lernen geben.« erzählt eine Mitarbeiterin. Und weiter: »Veränderungen finden statt. Wenn Frauen hierherkommen ist es schon eine Veränderung. Sie lernen, sie haben ein eigenes Handwerk und können Geld verdienen und unabhängig von den Männern werden.« Eine andere Mitarbeiterin hebt hervor: »Wir können uns bewegen, die Frauen aus dem Camp können das nicht, wenn wir etwas brauchen, können wir das besorgen, die Frauen hier können das nicht. Es ist menschlich Frauen und Kindern zu helfen.« Die Bildungsarbeit der Frauenstiftung im Camp wird so gut angenommen, dass die Nachfrage nicht erfüllt werden kann. Wie eine Mitarbeiterin sagt: »Die Nachfrage nach Bildung hier im Camp ist groß, aber es fehlt an finanziellen Mitteln, die Arbeit weiter auszubauen.« Bildung bietet aber den Frauen die Möglichkeit sich außerhalb der Religion zu bilden und eigene Sichtweisen zu entwickeln. Dies ist ein zentraler Effekt der Arbeit der Frauenstiftung im al-Hol Camp, der weiter unterstützt werden sollte.

 

 Fußnoten

1 Vgl. auch das Interview mit der Delegation im KR 230, S. 23-26

2 Quwetên Suriya Dimokratîk (Demokratische Kräfte Syriens, auch SDF abgekürzt)


  Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024