Neubestimmung demokratischer Politik in der Theorie Abdullah Öcalans und ihre Relevanz in Deutschland

Vom Staat abgrenzen und ein radikales Demokratiekonzept entwickeln!

Ali Çiçek, Akademie der demokratischen Moderne

 

Der folgende Text basiert auf einem Vortrag, den Ali Çiçek am 25.11.2023 in Berlin im Karl-Liebknecht-Haus auf der Konferenz zum 30 jährigen PKK-Verbot halten wollte. Diese Konferenz musste leider ausfallen. Der Autor hat uns sein Manuskript als Beitrag zur Diskussion in der gegenwärtigen Situation zur Verfügung gestellt.


1. Einführung

Im Kontext des Krieges in Gaza wiederholte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am 8. Oktober 2023 die Aussage seiner Vorgängerin Angela Merkel und erklärte: »Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.«

Die Staatsräson ist ein »vernunftgeleitetes Interessenkalkül einer Regierung, unabhängig von der Regierungsform, und einzig der Aufrechterhaltung des funktionierenden Staatsgebildes verpflichtet«. Das »Wörterbuch zur Politik« bietet drei verschiedene Definitionen der Staatsräson:

– Staatsräson als »Vorrang der Staatsinteressen vor allen anderen Interessen«,

– Staatsräson als »Staatsnotwendigkeit, im Gegensatz zur individuellen Vernunft und Notwendigkeit«,

– »Grundsatz, dem zufolge oberster Maßstab staatlichen Handelns die Wahrung und Vermehrung des Nutzens des Staates ist, auch unter Inkaufnahme der Verletzung von Moral- und Rechtsvorschriften«.

Wenn man sich die seit über 150 Jahren währende strategische Partnerschaft zwischen Deutschland und der Türkei (Stichwort: »deutsch-türkische Waffenbrüderschaft«) vor Augen führt und das 30-jährige Festhalten der deutschen Bundesregierung am PKK-Verbot, dann lässt sich sagen: »Das PKK-Verbot und die strategische Beziehung zur Türkei sind deutsche Staatsräson.«

Denn so, wie die deutsche Bundesregierung gegenwärtig jegliche Palästina-Solidarität diffamiert und Stimmen gegen den Genozid Israels an der Zivilbevölkerung in Gaza mit Antisemitismus-Vorwürfen unterdrückt, so unterstützt sie politisch, wirtschaftlich und militärisch auch die Türkei in deren genozidaler und kolonialer Politik in Kurdistan.

Es ist nicht unser Thema, die unzähligen Beispiele für diese Unterstützung in den letzten Jahrzehnten aufzuführen. Wie sehr die strategische Beziehung Deutschlands mit der Türkei Staatsräson ist und eine über 150-jährige historische Kontinuität besitzt, lässt sich auch historisch nicht nur an der kurdischen Frage belegen, sondern auch mit dem Genozid an den Armenier:innen.

Diese Staatsräson geht über Leichen. Es gibt keine großen Unterschiede zwischen den Worten von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg im Dezember 1915: »Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht«, und der Antwort des ehemaligen Bundesinnenministers Thomas de Maizière im Jahr 2016 auf die Frage eines Journalisten, warum Kritik an der Türkei im Hinblick auf Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz und Achtung der Menschenrechte ausbleibe: »Alle, die uns jetzt sagen, man muss die Türkei von morgens bis abends kritisieren, denen rate ich mal, jetzt das nicht fortzusetzen. Wir haben einen Interessensausgleich mit der Türkei vor uns. Wir haben Interessen, die Türkei hat Interessen. Das ist ein wichtiger Punkt. Natürlich sind in der Türkei Dinge entstanden, die wir zu kritisieren haben. Aber die Türkei, wenn wir von ihr etwas wollen, wie, dass sie die illegale Migration unterbindet, dann muss man auch Verständnis dafür haben, dass es dann im Wege des Interessenausgleichs auch Gegenleistungen gibt«, und weiter: »Wir können nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein.«

Wir können wahrlich von einer Staatsräson sprechen, wie sie oben definiert wurde; sie ist unabhängig davon, welche Partei Teil der Bundesregierung ist. In diesen 30 Jahren PKK-Verbot haben wir die SPD, CDU, FDP und Grünen an der Regierung erlebt und über die Grundsätze des PKK-Verbots gab und gibt es einen Konsens. Duran Kalkan, ein Mitbegründer der PKK und Betroffener im Düsseldorfer Prozess [1989–1994; Anm. d. Red.], formulierte diese Realität in einem Interview wie folgt: »Die deutsche Regierung betrachtet die Türkei als ein Bundesland.«

Die erste rechtlich nicht verbindliche Reaktion auf den Antrag der PKK auf Verbotsaufhebung Anfang dieses Jahres war ablehnend, und dabei wurde als Grund ganz offen aufgeführt, dass dies Beziehungen mit der Türkei negativ beeinträchtigen würde.

2. Prämissen für einen Umgang mit dem PKK-Verbot für demokratische Kräfte

Angesichts dieser strategischen Interessen des deutschen Staates ist es für die Fragen »Wie das PKK-Verbot aufheben?« und »Was für eine Relevanz hat die neue politische Philosophie Öcalans in Deutschland?« wichtig, ausgehend von diesen Prämissen zu denken:

1. Das PKK-Verbot und die Unterstützung für die genozidale Politik der Türkei gegen die kurdische Gesellschaft sind eine deutsche Staatsräson, so wie es auch für Israel ist. Dokumentierte Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen (kurz: türkischer Staatsterror) spielen dabei keine Rolle, diese Unterstützung aufzugeben.

2. Unabhängig von der Kriminalisierungspolitik gegen die Kurdinnen und Kurden gibt es ein allgemeines Demokratiedefizit in Deutschland. Die »Würde des Menschen in Deutschland ist antastbar«. Wie in den Redebeiträgen heute gehört wird diese Würde von Kurdinnen und Kurden in Deutschland Tag für Tag angetastet.

3. Der Umgang mit dem Staat im neuen Paradigma

Die Frage, wie die kurdische Frage gelöst werden und die kurdische Gesellschaft politische Anerkennung finden kann, beschäftigte Öcalan seit Beginn seines Befreiungskampfes. Als die einseitig erklärten Waffenstillstände der PKK von der Türkei nur mit noch brutaleren Kriegen beantwortet wurden, schrieb er angesichts des Desinteresses der Staaten an der Lösung der kurdischen Frage und der Demokratisierung im Allgemeinen: »Ich suche einen Gesprächspartner.« Wir können sagen, dass dies auch für die kurdische Community und ihre Vereine und Organisationen in Deutschland gilt, die nur als Sicherheitsfrage behandelt werden anstatt als politische Akteure.

Mit dem Paradigmenwechsel der kurdischen Freiheitsbewegung Anfang der 2000er und der Deklaration des demokratischen Konföderalismus im Jahr 2005 wurde diese Sackgasse überwunden. Es gibt heute keine Erwartung mehr an die jeweiligen Staaten. Seit dem Paradigmenwechsel lautet die Devise der kurdischen Freiheitsbewegung: »Wir warten nicht, bis sich etwas tut, sondern packen es selber an, wir bauen unsere eigene Lösung!«

Öcalan nutzt hierbei die Formel »Staat plus Demokratie«, um diese Idee zu veranschaulichen. Mit der Formel »Staat plus Demokratie« wird die Strategie verfolgt, den Staat zu verkleinern und die demokratische Gesellschaft auszuweiten. In Rojava ist dieses theoretische Konzept heute Praxis. Dabei verbindet die Rojava-Revolution die »partikularen Kämpfe« wie Ökologie, Demokratie und Frauenbefreiung in einem ganzheitlichen Kampf.

Diese Praxis des Aufbaus des demokratischen Konföderalismus, der demokratischen Autonomie und der demokratischen Nation ist hierbei vor allem ein Resultat der politischen Philosophie, die Öcalan in seinen Verteidigungsschriften auf der Gefängnisinsel İmralı entwickelt hat.

4. Relevante Aspekte der demokratischen Moderne für gesellschaftliche Fragen in Deutschland

Zentraler Aspekt in der Theorie Öcalans ist wie folgt formuliert: »Das Problem lautet nicht nur, Staat und Demokratie auseinanderzuhalten, sondern auch systematische Regeln festzulegen, wie beide produktiv koexistieren können, zumindest ohne einander zu negieren. Vielleicht wird das neue Arten von Verfassungen erfordern. (…) In der politischen Theorie besteht äußerst dringender Bedarf einer nach Form und Inhalt richtigen Bestimmung des für Demokratie offenen Staates (der sich nicht an die Stelle der Demokratie setzt und die Demokratie nicht verbietet) und der den Staat nicht negierenden Demokratie (die weder schnell selbst zum Staat wird noch den Staat stets als zu zerschlagendes Hindernis betrachtet). (...) Ich glaube, dass Formen des Staates und der Demokratie, die weniger konfliktträchtig sind und einander produktiver machen, sowohl bitter nötig als auch möglich sind und dass die benötigte, stärkste politische Möglichkeit auf dieser Grundlage entwickelt werden muss. Die existierenden Staaten erkennen die Demokratie im Grunde nicht an.«

Ich denke, es ist aufschlussreich, in diesem Kontext des PKK-Verbots, das im Grunde die demokratische Selbstorganisierung der kurdischen Gesellschaft unterminiert, in Form dieser Dichotomie von Staat und Demokratie zu denken. Die deutsche Bundesregierung als Staat, der die Demokratie für die Kurdinnen und Kurden verbietet und negiert. Und auf der anderen Seite die kurdische Selbstorganisierung in Deutschland als Demokratie. Aus dieser Perspektive sehen wir nämlich einen Staat (Deutschland) der die Demokratie, die organisierte Kraft der Gesellschaft (hier der kurdischen Gesellschaft und ihrer Vereine) nicht akzeptiert.

Die Frage des PKK-Verbots ist in diesem Sinne die Frage, ob Deutschland fähig sein wird, die von der kurdischen Bewegung gelebte und verteidigte Demokratie anzuerkennen. In den Worten Öcalans »offen für die Demokratie ist«.

5. Neudefinition von Politik und Demokratie (demokratische Politik)

In der Theorie Öcalans sind ein zentraler Aspekt die Phänomene von Demokratie, Geschichte, Politik, Moral, die Frage von Gerechtigkeit und Recht, Kultur, Selbstverteidigung, OHNE Staat zu denken.

Demokratie im Denken Öcalans:

Der Begriff Demokratie wird häufig verwendet und daher ist eine korrekte Definition des Begriffs wichtig. Öcalan spricht hierbei von einer Begriffsverwirrung. Demokratie wird von Öcalan als die Selbstverwaltung von Gemeinschaften definiert, die den Staat und die Macht nicht anerkennen.

Wichtig ist für Öcalan, Staat und Demokratie zu differenzieren; die Macht des Staates hat die Tendenz, die Demokratie in ihrer Beziehung zur Gesellschaft zurückzudrängen und zu begrenzen. Die Kräfte der Demokratie hingegen wollen ihre Grenzen ständig erweitern, indem sie den Staat nicht anerkennen. Der Kern des Problems ergibt sich aus der Verwechselung des Staates, der sich als Demokratie tarnt, mit der Demokratie, die ein Staat sein will. In der europäischen Zivilisation hat sich diese Verwechselung systematisch entwickelt. In den östlichen Gesellschaften hingegen ist der Unterschied zwischen dem Wesen der Gesellschaft und dem des Staates tiefer.

Die Begrenzung der Macht des Staates durch die Verfassungen und die Begrenzung der Gesellschaft durch die repräsentative Demokratie mildern die harten Konflikte zwischen beiden ab und ermöglichen ihre Koexistenz. Dieses von der kapitalistischen Moderne entwickelte Modell zielt im Wesentlichen darauf ab, Klassenwidersprüche zu bewältigen, indem es sie abmildert. Die repräsentative parlamentarische Demokratie kann hierbei als liberale Demokratie bezeichnet werden.

Öcalan vertritt ein Verständnis einer »radikalen Demokratie« als Alternative zu dieser liberalen Demokratie des Westens. Dieses Demokratiekonzept ist deshalb radikal, weil es sich eine Demokratie jenseits von Nation und Staat vorstellt. Diese Vorstellung soll mit insgesamt drei Projekten umgesetzt werden: der demokratischen Republik, dem demokratischen Konföderalismus und der demokratischen Autonomie.

»Den demokratischen Konföderalismus können wir als eine nichtstaatliche politische Regierungsform definieren. Demokratische Leitungen dürfen wir nicht mit staatlichen Verwaltungen verwechseln. Staaten verwalten nur, Demokratien regieren. Staaten gründen sich auf Macht; Demokratien basieren auf kollektivem Konsens. In Staaten sind Ernennungen wesentlich, in Demokratien Wahlen. Staaten beruhen auf Pflicht und Zwang, Demokratien auf Freiwilligkeit.«

Politik als Kunst der Freiheit:

Zentral für den Politikbegriff von Öcalan ist auch seine Abgrenzung von Staat und Macht, was er wie folgt formuliert: »Staat bedeutet Regeln, Politik dagegen ist Kreativität. Der Staat regiert das Bestehende, Politik dagegen regiert, indem sie erschafft. Staat ist Handwerk, Politik ist Kunst.«

Staatliche Aktivitäten sind für Öcalan keine politischen, sondern Verwaltungsaktivitäten. Gestützt auf den Staat wird keine Politik gemacht, sondern verwaltet. Angelegenheiten, die keine vitalen gesellschaftlichen Interessen berühren, bilden keine Politik im eigentlichen Sinne.

Politische und staatliche Angelegenheiten sind also nicht dasselbe, sondern stehen im Widerspruch zueinander. Politik wird eingeengt und geschwächt, je mehr sich der Staat ausbreitet und intensiviert. Öcalan nähert sich bei seiner Politikdefinition derjenigen Hannah Arendts, die in ihrem Essay »Freiheit und Politik« schreibt: »Der Sinn von Politik ist Freiheit.«

Der Bereich der Politik wurde schrittweise in das Gewand des Parlamentarismus gezwungen und unter der Verwaltung der nationalstaatlichen Bürokratie geradezu zum Erliegen gebracht. Öcalan plädiert mit seiner Neuinterpretation demokratischer Politik für eine paradigmatische Verschiebung der Politik an sich. Wir dürfen unsere politischen Aufgaben nicht denen überlassen, die die Pluralität von Politik vernichten, Politik für ihre Macht missbrauchen und dies zu einem Beruf entwickelt haben, um davon leben zu können.

Fazit: Im Denken Öcalans werden Politik und Demokratie jenseits von Parlament, Staat, Macht Gewalt, liberaler Demokratie gedacht.

6. Implikationen und Relevanz in Deutschland

Adressaten dieses neuen Paradigmas und dieser Art, Politik und Demokratie zu denken, sind vor allem nichtstaatliche demokratische Kräfte in Deutschland; die Zivilgesellschaft, demokratische, ökologische, feministische und kritische Bewegungen und Gruppen.

Für die Lösung von gesellschaftlichen Problemen, die Stärkung der Demokratie und die Aufhebung des PKK-Verbots ist die Rolle der organisierten Gesellschaft (der Demokratie) entscheidend.

Wir sehen in Deutschland hierbei eine inhaltliche und strukturelle Krise der linken und demokratischen Kräfte in Deutschland und gleichzeitig eine Stärkung von offen rechten Parteien.

Öcalan diagnostiziert für diese Krise demokratischer Kräfte die »Notwendigkeit einer Erneuerung der Systemgegnerschaft«. Der wesentliche Grund für den fehlenden demokratischen und freiheitlichen Aufbruch ist für ihn, dass die demokratischen Kräfte die notwendige paradigmatische Revolution noch immer nicht vollendet haben. Das bedeutet konkret, immer noch im Rahmen des Nationalstaats Politik und Demokratie zu denken. Wir sehen vor allem in Deutschland eine starke kulturelle Hegemonie staatlicher Diskurse.

Die Theorie Öcalans hat daher nicht nur Bedeutung für kurdische Politik, sondern behandelt auch Themen, die für demokratische Kräfte hier essenziell sind: die Differenzierung von Staat und Demokratie, die Frage der Ökologie und Frauenbefreiung, das Verständnis von Gesellschaft, Organisierung der Gesellschaft jenseits des Staates und ein Verständnis von Politik jenseits des Parlaments.

Nur eine starke demokratische Zivilgesellschaft wird Druck ausüben können für politische Veränderungen. Öcalan erklärt dazu: »Die Zivilgesellschaft ist derjenige Bereich, über den die klassische Zivilisation und die demokratische Zivilisation sich am stärksten im Konflikt befinden. Die Demokratisierung der Zivilgesellschaft ist ein prinzipielles Problem, dessen Bearbeitung und Lösung zu den grundlegenden Aufgaben der demokratischen Politik gehören.«

In Deutschland ist es daher eine zentrale und primäre Aufgabe, die Zivilgesellschaft zu demokratisieren und zu stärken! Wir können damit beginnen, wenn wir uns vom Staat abgrenzen und eine demokratische Politik entlang dieser Grundsätze entwickeln.

7. Probleme und Realität der Zivilgesellschaft in Deutschland

Eine Grundbedingung für Parteien und die Zivilgesellschaft in Deutschland ist es, deckungsgleich mit der Politik des Staates zu handeln.

Dies zeigt sich nicht nur im Falle von Kurdistan und dem PKK-Verbot, sondern heute auch mit dem Krieg in Gaza. Die Zivilgesellschaft wird regelrecht vom Staat belagert, der Staat interveniert vor allem durch die Medien und prägt Diskurse, und die Zivilgesellschaft handelt fast deckungsgleich mit der Politik des Staates.

Jüngste Beispiele waren:

1. Die deutsche Fridays-for-Future-Organisation distanzierte sich von »gegen Israel« gerichteten Äußerungen des internationalen Dachverbands. In der BRD fühlte sich nach Thunbergs Auftritt in Amsterdam eine Art »Wächterrat« in Sachen »Israels Sicherheit ist Deutschlands Staatsräson« berufen, erbarmungslos über sie herzufallen. Denunziatorisch hatte der Spiegel die »Umweltikone« schon am 24. Oktober ins Fadenkreuz genommen: »Hier gefährdet eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der Gegenwart jüdisches Leben.« Staatliche Vertreter begrüßten, dass sich die deutsche FFF-Sektion von der internationalen FFF-Bewegung distanziert habe. Der aktuelle Spiegel provozierte nun weiter, er warf Thunberg vor, die Klimabewegung zu spalten, und stellte die »Greta-Frage«: »Ist sie naiv oder Antisemitin?«

2. Die Hamburger Schriftstellerin Regula Venske hat ihr Amt als Generalsekretärin der internationalen Autorenvereinigung PEN aus Protest gegen öffentliche Wortmeldungen der global tätigen Organisation zum Krieg der Hamas gegen Israel zur Verfügung gestellt. Das PEN-Zentrum Deutschland erklärte, dass die deutsche Gruppe der Autorenvereinigung eine andere Position zum Krieg zwischen Israel und der Hamas vertrete als der internationale Verband.

Judith Butler: »Ein Grund, warum es für mich schwierig ist, der deutschen Presse Interviews zu geben, ist, dass es nicht viele gemeinsame Annahmen zwischen dem deutschen Diskurs und dem Rest der internationalen Gemeinschaft gibt.«

3. Ein weiteres Beispiel für diese Vereinnahmung der Zivilgesellschaft war auch der Ukraine-Krieg. Die Forderung auf den Ostermärschen nach Frieden wurde von Gewerkschaftsbossen und SPD-Vertreter:innen als »naiv« abgetan. Wir sehen eine Militarisierung der deutschen Zivilgesellschaft, und Diskurse des Verteidigungsministers bestätigten dies, wie »Resilienz der deutschen Gesellschaft«, »Mentalitätswechsel«, »kriegstüchtig werden«.

Es braucht in diesem Sinne in der Berichterstattung über die kurdische Freiheitsbewegung, aber auch anderer gesellschaftlicher Fragen in Deutschland dringend freie Medien. Öcalan erklärt: »Ohne unabhängige Medien wird der Staat keine Sensibilisierung in Fragen der Demokratie entwickeln. Auch die Demokratisierung der Politik wird ohne sie nicht umsetzbar sein. Das Recht auf freie Information in Kurdistan ist nicht allein ein individuelles, sondern ein kollektives Recht.«

Für die Aufhebung des PKK-Verbots wird daher auch ein anderer Mediendiskurs wichtig sein, der sich nicht auf staatliche Terminologien und Vorhaben stützt und eine kontinuierliche gesellschaftliche Bildungsarbeit leistet.

8. Perspektiven des neuen Paradigmas für Deutschland

Die kurdische Gesellschaft verwendet diese Theorie von demokratischer Politik und demokratischem Konföderalismus in Deutschland bereits in ihrer Praxis. Durch demokratische Politik verteidigt und entwickelt sie ihre Institutionen, ihre Kultur, ihren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dazu werden Räte gebildet, und vor allem Frauen und Jugendliche organisieren sich autonom.

Ein solches Verständnis von demokratischer Politik in Deutschland bietet eine wichtige Lösungsperspektive für die Sackgasse und Krise der demokratischen Kräfte in Deutschland, eine Politik jenseits von Erwartungen an den Staat.

Der Theoretiker Murray Bookchin erklärte zur Strategie der 68er in Deutschland: »Rudi Dutschkes Aufruf zum ›langen Marsch durch die Institutionen‹ bedeutete letzten Endes kaum mehr, als sich den existierenden Institutionen anzupassen, ohne sich die Mühe zu machen, neue zu entwickeln, und führte zum Verlust Tausender an eben diese Institutionen. Sie gingen hinein – und kamen niemals wieder heraus.«

Wir sehen diese Gefahr der Vereinnahmung der starken ökologischen und feministischen Bewegungen wieder.

– Die starke deutsche FFF-Sektion wurde von Bündnis 90/Die Grünen gekapert. Die Einbindung in die Staatspolitik war letztlich der Hauptgrund für die Domestizierung der ursprünglich aufmüpfigen Jugendbewegung.

– Feminismus wird von der deutschen Bundesregierung benutzt; Stichwort »feministische Außenpolitik«, die die Worte »Jin, Jiyan, Azadî« gebraucht und die Bewegung dahinter verbietet.

In diesem Sinne ist es wichtig, Öcalan und PKK als eine ernstzunehmende politische Organisation zu betrachten und von unserem einseitigen und eindimensionalen Bild, durch das sie bloß mit Terrorismus gleichgesetzt wird, Abstand zu nehmen. Wir sollten die Debatte aus einem politischen Blickwinkel heraus betrachten anstatt durch die »Sicherheits-Brille«. Kurz gesagt: Wir sollten die Politik demilitarisieren.

Wenn wir heute auf den Mittleren Osten schauen und es uns gelingt, durch den Schleier und den Dunst des Krieges zu sehen, werden wir erkennen, dass in der Region neue Formen von Politik und Demokratie entstehen. Dieses neue Denken von Politikformen und ein Neudenken von Demokratie kann uns aus den verwurzelten Positionen herausbewegen.


  Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024