Mûsil und die Zukunft des Iraks in der Post-IS-Ära

Halit Ermiş

Als der sog. Islamische Staat (IS) im Jahr 2014 eine geostrategisch und politisch so wichtige Stadt wie Mûsil (Mossul) binnen eines Tages unter seine Kontrolle gebracht hatte, war die gesamte Welt geschockt. Denn nicht nur die zweitgrößte Stadt des Iraks war nun unter der Kontrolle des IS. Die gesamte Situation im Mittleren Osten war mit der Eroberung dieser Stadt fortan eine andere. Deshalb kann man zurecht von einer Zäsur sprechen.

Ohne die Eroberung von Mûsil wären die schnellen und großen weiteren Gebietsgewinne des IS nicht vorstellbar gewesen. Massaker und Vertreibungen hätten nicht oder nicht in dem Ausmaß stattgefunden. Den Völkern der Region wäre viel Leid erspart geblieben. Und auch die Ausrufung des Kalifats durch den IS war ein direktes Ergebnis der Eroberung von Mûsil.

Der Kampf um Kobanê stoppt Expansion des IS

Die darauf folgende schier unaufhaltsame Expansion des IS stieß erstmals im Norden Syriens, genauer in Kobanê, an ihre Grenzen. Nachdem die Organisation nicht nur durch den Widerstand der YPG/YPJ gestoppt, sondern mithilfe der Internationalen Koalition Schritt für Schritt zurückgedrängt worden war, erwuchs auch die Hoffnung auf eine baldige Befreiungsoffensive auf Mûsil. Als dann nach langem diplomatischem und politischem Vorspiel der Startschuss für die Operation gegeben wurde, hatte die irakische Armee einen IS zum Gegner, der schon lange seinen Zenit hinter sich gelassen hatte und von lauter verlorengegangenen Schlachten äußerst gezeichnet war. Nichts war mehr übrig vom Image der scheinbar unbesiegbaren »Armee des Kalifats«. Nach achtmonatigen Kämpfen wurde Mûsil schließlich vom IS befreit.

Mûsil ist nicht mehr wie vorherMûsil und die Zukunft des Iraks in der Post-IS-ÄraMûsil und die Zukunft des Iraks in der Post-IS-Ära

Seit der Machtübernahme durch den IS hat sich das Leben in der Stadt Mûsil nachhaltig verändert. Keiner kann erwarten, dass die Menschen von Mûsil nun nach ihrer Befreiung ihr Leben so weiterführen können wie vor der Zeit des IS. Zu viel Leid und Gräuel haben die Menschen am eigenen Leibe miterlebt. Und es ist nicht nur die Psyche der Menschen, die in Mitleidenschaft gezogen wurde. Mûsil war eine historische und kulturelle Hochburg des Mittleren Ostens. Der IS und der Krieg um die Befreiung haben dieses historische Erbe weitgehend zerstört. Auf dem Schutt dieser Zerstörung müssen die Menschen nun ihr Leben neu aufbauen.

Und während die Menschen zusehen müssen, wie das Leben irgendwie weitergeht, können sie wohl nicht davon ausgehen, dass der Krieg sie endlich in Ruhe lässt. Denn die Kontrolle über die Stadt Mûsil wird von strategischer Wichtigkeit für den Machtkampf der Regional- und Weltmächte sein. Bereits bei der Frage, wer alles an der Befreiungsoperation auf Mûsil mitwirken dürfe, brach ein heftiger Streit unter den Mächten der Region aus. Jeder wusste, dass die Beteiligung am Krieg gegen den IS in der Stadt ein Mitspracherecht über die Zukunft der Stadt mit sich bringen würde. Heute, wo die Stadt vom IS befreit worden ist, droht dieser Streit jederzeit in einen offenen Konflikt umzuschlagen.

Die Kontrolle über Mûsil war beim Abkommen von Lausanne nach dem 1. Weltkrieg eine der Schlüsselfragen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass bei zukünftigen Lösungsverhandlungen für den aktuell geführten Krieg im Mittleren Osten, der von vielen als 3. Weltkrieg bezeichnet wird, auch Mûsil zu einer der wichtigsten Streitfragen werden wird.

Warum ist Mûsil für den Irak so wichtig?

Es ist klar, dass die irakische Zentralregierung nicht gewillt ist Mûsil aus der Hand zu geben, auch wenn die Regionalmächte aufgrund des wirtschaftliche Reichtums, der Handelswege und der demographischen Zusammensetzung großes Interesse an der Stadt haben. Dass Bagdad aber diesen Mächten nicht den Hauch einer Chance geben will, Ansprüche auf Mûsil zu stellen, hat es bei den Diskussionen über die Teilnahme an der Befreiungsoperation bereits unter Beweis gestellt. Besonders die Türkei schielt seit dem 1. Weltkrieg in Richtung Mûsil. Denn seit dem Zerfall des Osmanischen Reiches wurden die neoosmanischen Träume einer Türkei, welche die Grenzen von Misak-ı Millî1 umfasst, nie aufgegeben. Nach dem 1. Weltkrieg wurden diese Träume von den Briten vereitelt, die stattdessen einen irakischen Staat unter ihrem Protektorat gründeten. Mit dem Auftauchen des IS und der Befreiungsoperation auf Mûsil entflammten die neoosmanischen Träume nun von Neuem. Doch wird kaum zu erwarten sein, dass die irakische Zentralregierung für Träume dieser Art etwas übrig hat. Denn ein Irak ohne Mûsil würde letztlich eine wirtschaftliche und politische Selbstaufgabe bedeuten.

Doch Tatsache ist auch, dass die Multikulturalität von Mûsil großen Raum für Provokationen von außen bietet. Die ethnische und religiöse Vielfalt der Stadt wird von unterschiedlichen Akteuren dazu missbraucht, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. So ist die Tatsache, dass der IS an einem Tag die Kontrolle über die Stadt übernahm, nicht der besonderen militärischen Stärke dieser Organisation geschuldet. Es waren vor allem die alten militärischen Eliten aus dem gestürzten Baath-Regime Saddam Husseins, die durch ihre Unterstützung für den IS den Machtwechsel in der Stadt ermöglicht haben. Die Baathisten wollten damit vor allem der schiitischen Zentralmacht in Bagdad einen Schlag versetzen, was ihnen letztlich auch gelang.

Nun stellt sich die Frage, ob nach dem Sieg über den IS die Gefahr der internen Auseinandersetzungen in Mûsil gebannt ist? Ist Mûsil eine Stadt, in der die Vielfalt der Gesellschaft frei miteinander leben kann?

Eigentlich sind das die entscheidenden Fragen, für die eine Antwort gefunden werden muss. Denn während Mûsil bei der Befreiungsoperation in Schutt und Asche gelegt wurde, sind die Ursachen, die zu dieser Zerstörung geführt haben, nicht automatisch unter diesem Schutt aus der Welt geschaffen worden. Im Gegenteil, die Probleme und Widersprüche sind noch größer geworden. Wegen der strategisch wichtigen Bedeutung von Mûsil für den Irak und die Region wird deshalb die Frage nach dem zukünftigen Leben in der Stadt auch Auswirkungen auf den gesamten Mittleren Osten haben. Damit Mûsil zu einer Modell-Stadt werden kann, in der die ethnischen und religiösen Gruppen friedlich miteinander leben können, bedarf es definitiv eines Mentalitätswechsels.

Schaut man in die jüngere Geschichte der Stadt, so mag man vielleicht zu dem Schluss kommen, dass die Stadt problembehaftet ist, so als gäbe es ein »Mûsil-Problem«. Denn Auseinandersetzungen, Kämpfe und Vertreibung von ethnischen und religiösen Gruppen in der Stadt gab es schon weitaus länger, als es den IS gibt. Doch das Problem ist nicht Mûsil. Es ist die vorherrschende Mentalität, die aus der Pluralität der Bevölkerungszusammensetzung eine Quelle für Auseinandersetzungen schafft. Dieses Politikverständnis muss aus der Welt geschafft werden, und das umso mehr, nachdem der IS nun besiegt worden ist.

Der Irak hat an Prestige gewonnen, aber ...

Ohne Frage, mit der Befreiung von Mûsil ist die irakische Zentralregierung nun in einer deutlich stärkeren Position. Auch dass es Bagdad gelungen ist, den sunnitischen Block, der von der Türkei angeführt wird, weitgehend aus der Befreiungsoperation herauszuhalten, kann als Erfolg gewertet werden. Denn damit wurde der Plan der Türkei, über die im Irak lebenden Turkmenen Einfluss auf die Geschicke des Landes zu nehmen, vereitelt. War die irakische Regierung im Zuge des Siegeszuges des IS quasi in die Ecke gedrängt, hat sie nun mit der Befreiung von Mûsil an Prestige und Selbstbewusstsein gewonnen. Doch man kann noch lange nicht davon sprechen, dass die Gefahr für Bagdad völlig gebannt ist.

Denn die Gemengelage im Irak bleibt kompliziert, fast schon undurchsichtig. Es ist nicht zu erwarten, dass in solch einer Situation die Auseinandersetzungen von einem Tag auf den anderen einfach verstummen. So hat beispielsweise die Türkei ihre Träume von Misak-ı Millî nicht ad acta gelegt. Die turkmenische Bevölkerung des Iraks gilt ihr hierbei als Faustpfand. So kann man davon ausgehen, dass wenn die Türkei vom Schutz der Rechte der Turkmenen im Irak spricht, sie eigentlich auf die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen drängt. So gesehen geht von der Türkei im irakischen Gebiet südlich von Kirkuk bis zu der mehrheitlich von Turkmenen bewohnten Stadt Tal Afar ein erhebliches Bedrohungspotenzial aus.

Mûsil als Zentrum konfessioneller Auseinandersetzungen

Wenn man nun hinzunimmt, dass die Türkei im Sinne ihrer neoosmanischen Vorstellungen eine Politik des sunnitischen Blocks im Irak unterstützt und der Iran über die Zentralregierung in Bagdad Vertreter der schiitischen Hegemonie ist, werden die Konfliktlinien in der Region noch durchsichtiger. Dieser schiitisch-sunnitische (bzw. iranisch-türkische) Konflikt im Mittleren Osten erzeugt täglich aufs Neue radikale Gruppierungen der einen oder anderen Seite, die Unterstützung aus ihren jeweiligen Mutterländern erfahren. Auch wenn nicht zu erwarten ist, dass diese Organisationen wie der IS über einen kurzen Zeitraum große Gebiete unter ihre Kontrolle bringen werden, besteht doch ein permanenter Konfliktzustand, der sich immer wieder in bewaffneten Kämpfen entlädt. In Mûsil drückt sich diese Situation in der Präsenz der schiitischen ­Haschd-al-Shaabi- (arab. für die PMF) und der sunnitischen Haschd-al-Watani-Milizen aus, die beide ihrerseits Zusammenschlüsse zahlreicher kleinerer Gruppierungen darstellen.

Hinzu kommt die Rolle der Kurden als neuer Akteur im Mittleren Osten. Diese waren nach dem 1. Weltkrieg schlichtweg übergangen worden. Doch heute müssen die lokalen und regionalen Machtzentren bei ihren Planungen und Kalkulationen über die Zukunft von Mûsil oder anderen schwerwiegenden Problemen im Mittleren Osten auch den kurdischen Faktor miteinbeziehen.

So gesehen können wir sagen, dass sich die Lösung der Mûsilfrage noch über einige Zeit hinziehen wird. So wie die Zukunft von Mûsil nach dem 1. Weltkrieg zur wichtigen Streitfrage wurde, wird wohl auch beim gegenwärtigen Krieg die Stadt lange Zeit Zankapfel der Akteure in der Region bleiben. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass Mûsil weiterhin das Zentrum der Widersprüche zwischen den sunnitischen und schiitischen Machtzentren sein wird. Eine nachhaltige Lösung für die Stadt wird deshalb auch nur mit einer klaren Perspektive aus dem Chaos des Mittleren Ostens zu finden sein. Und hierfür bedarf es zweifelsohne einer Abkehr von der monistischen, nationalistischen und religiös-sektiererischen Mentalität, wie sie im 20. Jahrhundert im Mittleren Osten dominiert hat. Ohne diese Abkehr wird jede »Lösung« für ein bestehendes Problem der Region lediglich den Grundstein für neue Konflikte legen.


 Fußnote:

1 Gemeint ist damit ein Grenzverlauf, der sozusagen die Autonome Region Kurdistan (Südkurdistan) plus Kirkuk und Mûsil als Teil der Türkei begreift.