Türkischer Nationalismus:
Der letzte Rettungsanker für den politischen Islam?
Murat Çakır
Es bewahrheitet sich wieder: »Nationalstaat« und »Nationalismus« sind an sich »leere Hülsen, in die jede historische Epoche und die Klassenverhältnisse in jedem Lande ihren besonderen materiellen Inhalt gießen« (Rosa Luxemburg). Und es zeigt sich, wie jedes Mal: Wenn herrschende Klassen aus reinen Machterhaltungsinteressen ein nationalistisches Fanal entfachen, diesem immer blutige Begleiterscheinungen wie Pogrome, Kriege, Hass und Zerstörung folgen und die Leidtragenden immer beherrschte Klassen jeglicher Herkunft sein werden.
Gerade heute, in der erzwungenen Wieder-Wahlkampfphase, erleben die Menschen in der Türkei und insbesondere in Kurdistan auf eine dramatische Weise die Folgen des gefährlichen Spiels der Herrschenden mit dem Feuer. Seit den den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 folgenden Tagen lässt die abgewählte AKP-Regierung bewusst die Gewalt eskalieren: »terroristische« Bombenanschläge »unbekannten« Ursprungs, zahlreiche tote Soldaten, Guerillas und Zivilist*innen – darunter von Scharfschützen der Polizei gezielt hingerichtete Frauen, Kinder und Greise –, von den Militärs und Polizei-Sonderkommandos umlagerte und zerstörte kurdische Ortschaften, Ausgangssperren, Repressalien gegen oppositionelle Kräfte, Inhaftierungen von Aktivist*innen und Mandatsträger*innen, Ausschaltung der parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten und Gleichschaltung der Medien, Willkürjustiz und Aufhebung der Gewaltenteilung, Militäroperationen und Bombardierungen auf ausländischem Territorium, staatlich gelenkte und von den Sicherheitskräften geduldete faschistische Pogrome, Brandanschläge auf Parteibüros der HDP (Demokratische Partei der Völker) und Lynchversuche gegen »kurdisch aussehende« Personen – das alles u. v. a. m. geben das aktuelle Bild der Türkei wieder.
Doch wohin steuert nun die Türkei, das gescheiterte Modell des Westens für die islamische Welt – vielleicht in einen blutigen Bürger*innenkrieg, wie bürgerliche Medien in Europa es befürchten? Oder wird nur der »schmutzige Krieg« der 1990er Jahre wieder fortgeführt, welcher in der scheinbaren Prosperitätsära des »türkischen Wirtschaftswunders« im letzten Jahrzehnt unterbrochen war? Ist das rigorose Vorgehen der türkischen Militärmaschinerie nur eine »notwendige und angemessene Verteidigungsmaßnahme im rechtmäßigen Kampf gegen den PKK-Terror«, wie regierungsamtlich behauptet wird, oder der Ausdruck eines von den westlichen Bündnispartnern der Türkei unterstützten, mindestens geduldeten Staatsterrors, mit dessen Hilfe die AKP (Partei für Aufschwung und Gerechtigkeit) ihre Macht erhalten will? Welches Ergebnis werden die Parlamentswahlen überhaupt unter diesen Bedingungen bringen? Und was ist mit dem faschistischen Mob – sind denn alle Türk*innen vom nationalistischem Wahn befallen?
Erdoğan ist angezählt
Von einem Bürger*innenkrieg in der Türkei kann weder im wortwörtlichen Sinne noch in der Realität gesprochen werden. Es gibt keine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Bevölkerungsgruppen, sondern einen realen schmutzigen Krieg des türkischen Staates, welcher mit enormer militärischer wie polizeilicher Gewalt gegen die eigene – kurdische – Bevölkerung geführt wird. Der bewaffnete Kampf der PKK, der in seiner rund dreißigjährigen Geschichte mehrfach durch einseitige Waffenstillstandserklärungen der PKK unterbrochen wurde, ändert an dieser Tatsache überhaupt nichts. Selbst die »Illegalität« – was keineswegs eine Illegitimität bedeutet – eines bewaffneten Kampfes kann nicht als Rechtfertigung für die Ausübung des Staatsterrors dienen. Auch wenn der bürgerliche Staat relativ ein demokratischer Rechtsstaat ist, kann er nur dann als ein demokratischer Rechtsstaat gesehen werden, wenn sogar jene, die ihn mit Waffengewalt zerstören wollen, nur mit den Mitteln des demokratischen Staates verfolgt, dingfest gemacht und bestraft werden. Die Türkei ist nachweislich kein Rechtsstaat.
Der Behauptung ist aber zuzustimmen, dass der türkische Staat die alten Methoden der »Terrorbekämpfung« heute wieder anwendet. Das ist kein Zufall, denn die AKP steht in der Kontinuität der Militärjunta – nur mit dem Unterschied, dass inzwischen die gesamte zivile und militärische Staatsbürokratie ihrer Kontrolle untersteht. Doch die politische und gesellschaftliche Situation ist eine völlig andere als in den 1990er Jahren.
Während sich damals das Regime und die herrschenden Klassen unter dem Protektorat der kemalistischen Staatsbürokratie auf eine relativ funktionierende verfassungsrechtliche Grundlage stützen konnten und eine privilegierte Unterstützung der kapitalistischen Kernländer genossen, stehen sie heute unter einem zweifachen Druck – zum einen von außen, durch die globalen Krisen des Kapitalismus, und zum anderen im Innern, durch die fehlende verfassungsrechtliche Absicherung der autoritären Transformation des Regimes. Die Implikationen der Vielfachkrise, in der sich die Türkei befindet, seien hier nicht benannt.
Gleichzeitig ist festzustellen, dass weder die kurdische Bewegung noch die übrigen gesellschaftlichen Oppositionskräfte so schwach aufgestellt sind wie in den 1990er Jahren. Die kurdische Bewegung hat sich zu einer breiten Volksbewegung der Armen und Frauen entwickelt, die einerseits über eine wirksame militärische Schlagkraft und einen politisch-gesellschaftlichen Einfluss verfügt und andererseits nicht mehr auf eine solch große Ablehnung in den nichtkurdischen Bevölkerungsteilen der Türkei wie in den 1990er Jahren stößt. Zudem hat die kurdische Bewegung durch den erfolgreichen Abwehrkampf gegen das Terrorkalifat des sog. »IS« und die demokratischen Autonomieversuche eine beachtliche internationale Reputation bekommen und ist dabei, diese auszubauen.
So belegen auch die verschiedenen gesellschaftlichen Widerstandsbewegungen gegen neoliberale Maßnahmen, vor allem der »Juni-Aufstand« in 2013 [»Gezi-Park«], die erfolgreichen Arbeitskämpfe der Metallarbeiter*innen und die ernsthaften Bemühungen zur Überwindung der Zersplitterung von linken Kräften, dass die Potentiale der gesellschaftlichen Opposition wachsen. Auch wenn die verschiedenen Widerstandsherde fragmentiert sind, so bilden sie durch ihr Wirken doch eine breite Front gegen die Politik der AKP-Regierung. Und mit der HDP ist auch eine politische Kraft entstanden, die zwar nicht alle linken Kräfte unter ihrem Dach vereinigen konnte und aufgrund ihrer »schwammigen« Programmatik einiges an Kritik verdient, aber dennoch die einzige parlamentarische Stimme breiter Teile der gesellschaftlichen Opposition geworden ist und sich – nun mit steigender Tendenz – in der Wähler*innenschaft verankert.
Die Tatsache, dass zwischen dem »Juni-Aufstand« und dem berechtigten Freiheitsbegehren des kurdischen Volkes eine – wenn auch vorerst provisorische – Brücke gebaut werden konnte, hatte zur Folge, dass die HDP am 7. Juni 2015 mit 80 Abgeordneten in das türkische Parlament eingezogen ist und so die Pläne von Staatspräsident Erdoğan, eine absolute AKP-Mehrheit zu erhalten, vereitelt hat. Am Wahlabend stand für viele Beobachter*innen fest: Das Präsidialsystem ist passé und Erdoğan ist angezählt. Die »Unbesiegbarkeitslegende« der AKP hatte einen kräftigen Dämpfer bekommen und die Auswirkungen des Schwächungsprozesses der AKP-Macht, welcher seit 2010 an Tempo gewonnen hatte, waren nun für alle sichtbar. Für diesen Schwächungsprozess sind verschiedene Gründe verantwortlich.
Das außenpolitische Fiasko
Lange Zeit wurde die AKP vom Westen als ein »Modell für die islamische Welt« angepriesen. Die »Kompatibilität des politischen Islams mit der bürgerlichen Demokratie« und somit »die Chancen für stabile politische Verhältnisse in Verbindung mit Wirtschaftswachstum und Wohlstandszunahme« wurden anhand des »türkischen Wirtschaftswunders« gern und ständig kolportiert.
Auch für die AKP war das ein willkommener Anlass, um ihr ambitioniertes Ziel voranzutreiben: die regionale Führungsmacht zu sein, die die neoliberale Integration des Nahen und Mittleren Ostens in die imperialistisch-kapitalistische Weltordnung verwirklicht. Das war auch ganz im Sinne der imperialistischen Neuordnungsphantasien. Ohne Frage, durch die strategische Partnerschaft mit den USA und Israel, durch die damals aufgebauten politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit der arabischen Welt, den sog. »EU-Heranführungsprozess« und mit ihrem ungezügelten Drang nach Kapitalexport schien die Türkei eine werdende Regionalmacht zu sein, imstande, mit ihrer militärischen Gewaltmaschinerie und der »strategischen Tiefe« ihrer Außenpolitik die gemeinsamen Träume der imperialistischen Kräfte und des türkischen Kapitals alsbald Realität werden zu lassen.
Doch die Umwälzungen in der arabischen Welt ab 2011 haben diesen Träumen ein jähes Ende bereitet. Innerhalb kurzer Zeit wurde deutlich, dass die »Kompatibilität« des politischen Islams mit der bürgerlichen Demokratie ein Wunschtraum ist. Nun ist auch längst die Bewegung der »Muslimischen Brüder«, deren großer Bruder die AKP sein wollte, zerschlagen. Nichts ist von den »guten Beziehungen« zur arabischen Welt übrig geblieben – von der Führungsrolle ganz zu schweigen. Die »strategische Tiefe« erwies sich als ein Fiasko und sämtliche außenpolitischen Ziele der AKP liegen nun in Trümmern.
Inzwischen ist die Türkei ein Land geworden, das seine Botschafter*innen aus Ägypten, Israel, Jemen, Libyen und Syrien abgezogen hat, mit Syrien und der Zentralregierung Iraks verfeindet ist – die einzige »gute« Beziehung zum Barzanî-Regime im Nordirak ist auch kein Trostpflaster –, dem gesuchten Ex-Vizepräsidenten Iraks, Tariq al-Haschimi und den heillos zerstrittenen FSA-Führern sowie islamistischen Terrorbanden Unterschlupf gewährt und die Destabilisierung seiner Nachbarn vorantreibt. Ein Land, das zur Drehscheibe für Geldwäsche geworden ist und Fördergelder aus den Golfkooperationsstaaten an terroristische Organisationen wie die Al-Nusra-Front, Ahrar al-Sham oder Al-Qaida nahestehende Banden verwaltet. Ein Land, in dem syrische Flüchtlinge, zum größten Teil obdachlos, entweder auf den Straßen betteln müssen oder für knapp 90 Euro im Monat täglich 12 Stunden arbeiten »dürfen«! Nicht zuletzt ist die Türkei ein NATO-Land, das z. B. in illegale Waffengeschäfte mit Libyen verwickelt ist.
Dass die Türkei der US-Luftwaffe erlaubt hat, von Incirlik aus Angriffe auf IS-Stellungen zu fliegen, und offiziell auch militärisch Teil der sog. »Anti-IS-Allianz« geworden ist, ändert nichts an der Tatsache, dass in Bezug auf Syrien zwischen der Türkei und ihren NATO-Partnern, vor allem den USA, große Widersprüche bestehen. Während die Türkei die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Einheit (PYD) sowie die Verteidigungseinheiten (YPG und YPJ) als »terroristische Organisationen« bezeichnet, sind die USA anderer Auffassung und sehen diese als Verbündete bzw. unverzichtbare Landkräfte im Kampf gegen das Terrorkalifat an.
Auch die EU ist mit der Ausrichtung der türkischen Außenpolitik zunehmend unzufriedener. Der Abzug der deutschen Patriot-Systeme und lauter werdende Kritik aus der NATO zeugen davon. Jüngst musste Erdoğan bei seinem Besuch in Moskau eine Abfuhr von Putin in Sachen Syrien schlucken und erklärte sodann zuhause, dass »zur Lösung der Probleme in Syrien eine gewisse Zeit mit Assad zusammengearbeitet werden« könne. Vom Paulus zum Saulus und wiederum vom Saulus zum Paulus – so könnte Erdoğans Zickzackkurs bezeichnet werden.
Weil aber die Türkei für den Westen aus geostrategischen, geoökonomischen und geopolitischen Gründen einen unschätzbaren Wert hat und weder die USA noch die EU in der Lage sind, eine Alternative zu Erdoğan auf die Beine zu stellen, sind sie gezwungen, ihn noch weiter zu ertragen. Das ist übrigens ein weiterer Beweis dafür, dass die imperialistischen Kräfte doch nicht so übermächtig sind, wie öfter dargestellt. Zwar können sie vieles verhindern, was sie nicht wollen, aber nicht alle ihrer Pläne verwirklichen. Dennoch steht es außer Frage, dass sie Erdoğan sofort fallenlassen würden wie eine heiße Kartoffel, wenn er nicht mehr über genügend Rückhalt verfügt.
Eskalation als Wahlkampfstrategie
Erdoğan ist sich dessen bewusst, dass ihm seine strategischen Partner bei der nächsten Gelegenheit die kalte Schulter zeigen würden, und gleichwohl, dass ihm, falls er keine parlamentarische Mehrheit mehr bekommt, eine Untersuchung wegen Korruptionsvorwürfen droht, die durchaus mit einer Verurteilung enden kann. Deshalb krallt er sich mit aller Kraft an die Macht und will bei den Neuwahlen die absolute Mehrheit für seine AKP erreichen.
Derweil profitieren Erdoğan und die AKP von der Repräsentationskrise des türkischen Kapitals. Das Großkapital hatte nach der Wahl vom 7. Juni eine »AKP-CHP-Koalition« präferiert, konnte dies jedoch nicht durchsetzen. Zwar steht die AKP voll hinter dem neoliberalen Programm und verteidigt Kapitalinteressen »wie ein Löwe«, aber die bevorzugte Behandlung der Interessen jener Kapitalfraktionen, die der AKP nahestehen, regierungsamtliche Interventionen in die kapitalistische Konkurrenz, die Durchsetzung von Niedrigzinskrediten zugunsten von klein- und mittelständischen Unternehmen durch politischen Druck auf die Zentralbank sowie die persönlichen Attacken Erdoğans auf einzelne Großunternehmen wie die Doğan-Holding lassen das Großkapital ohnmächtig erscheinen. Sie sind auf Erdoğan und die AKP angewiesen, da eine regierungsfähige Alternative derzeit fehlt.
Diese kapitalseitige »Alternativlosigkeit«, der auch die westlichen Partner nichts entgegensetzen können, macht die AKP noch angriffslustiger. Erdoğan und seine AKP wissen, dass sie ihre Macht nur dann erhalten können, wenn sie ein autoritäres Sicherheitsregime installieren und dafür die notwendige gesellschaftliche Legitimation erhalten. Daher drängt Erdoğan auf eine endgültige Entscheidung und wirbt für sein Präsidialsystem, das nichts anderes als Protektionismus zugunsten des sunnitisch-konservativen Kapitals und zugleich ein diktatorisches Sicherheitsregime sein wird.
Um dafür die gesellschaftliche Legitimation abpressen zu können, drehen Erdoğan und die AKP-Regierung an der Eskalationsschraube. Während oppositionelle Medien mit Razzien, Verhaftungen und Ausschluss aus staatlichen Netzen unter enormen Druck gesetzt werden, verbreiten staatliche wie regierungsnahe Medien nationalistische Propaganda. Berufsverbände, Kammern, Unternehmensvereinigungen und regierungsnahe Gewerkschaften werden verpflichtet, Massenkundgebungen wie »Millionen gegen den Terror« zu organisieren, die wiederum von Erdoğan und Ministerpräsident Davutoğlu in Wahlkampfkundgebungen umgewandelt werden. Beisetzungen von Soldaten oder Polizeibeamten werden für Hasstiraden und rassistische Hetze instrumentalisiert, selbst kritische bürgerliche Journalist*innen werden bedroht, verprügelt und es wird für ihre Entlassung gesorgt.
Es ist offensichtlich, dass die AKP darauf spekuliert, mit der Entfachung eines nationalistischen Fanals die für ihre absolute Mehrheit notwendigen Stimmen auf sich zu vereinigen. Diese Spekulation beruht auf der Tatsache, dass die sunnitisch-konservative Mehrheitsgesellschaft schon immer für nationalistisches Gebaren empfänglich war. Dabei war die AKP-Propaganda noch vor zwei Jahren darauf ausgerichtet, »jeglichen Nationalismus, sei es der türkische oder kurdische, mit Füßen zu treten« – so Erdoğan im O-Ton. »99 Prozent« seien Muslim*innen und allein das sei das »verbindende Nationalelement«. Damals hoffte die AKP, damit die sunnitisch-konservativen Kurd*innen für sich zu gewinnen. Aber der Erfolg der kurdischen Bewegung hat die Bestrebungen für einen »einenden islamischen Konservatismus« letztlich ins Leere laufen lassen.
Jetzt, im Angesicht der drohenden zweiten Wahlniederlage, will die AKP die neofaschistische Partei für eine Nationalistische Bewegung (MHP) rechts überholen. Dazu sollte auch der Transfer des MHP-Abgeordneten Tuğrul Türkeş dienen – ältester Sohn des verstorbenen Faschistenführers Alparslan Türkeş, inzwischen einer der stellvertretenden Ministerpräsidenten im Davutoğlu-Kabinett. Türkeş sollte der Keil zwischen den MHP-Abgeordneten sein.
Dennoch, die Strategie des nationalistischen Fanals ist nicht aufgegangen. Wahlumfragen zufolge konnte die AKP nur einen minimalen Zuwachs verzeichnen. Die Hetze auf Beisetzungen von Sicherheitskräften verstummte teilweise unter Protestrufen der Angehörigen. Staatlich gelenkte und von den Sicherheitskräften unterstützte Pogrome gegen HDP-Büros endeten abrupt, weil außer den AKP-Anhänger*innen, bezahlten Kleinkriminellen und übrigen Faschist*innen größere Massen nicht auf die Straße gebracht werden konnten. Im Übrigen: In der Türkei gab es seit der Gründung der Republik kein einziges Pogrom, kein Massaker, das aus der Spontaneität der Massen heraus entstanden ist. Immer wurden sie vom Staat organisiert, gelenkt und durchgeführt. Trotz des in der Mehrheitsgesellschaft weit verbreiteten türkischen Nationalismus waren größere Bevölkerungsteile nie Teil solcher Pogrome.
Sicherlich ist der türkische Nationalismus eine starke Waffe in den Händen der Herrschenden. Und sicherlich lassen sich große Teile der Mehrheitsgesellschaft – ob laizistisch oder konservativ – für die nationalistische Staatsdoktrin und die neoosmanischen Hegemonieambitionen begeistern. Der berühmte Satz »Wie glücklich ist der-/diejenige, der/die sagen kann, ich bin Türk*in« ist nicht nur eine rassistische Propagandaphrase, sondern der Schlüssel, der die Teilhabe an den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Ressourcen ermöglicht.
Es war der Erfolg der AKP, den türkischen Nationalismus mit dem islamischen Konservatismus zu verbinden und diese Verbindung zum Schlüssel der Teilhabe zu machen. Sie hat ein Bild geschaffen, das vorgaukelte, dass »einfache Menschen, die das unter dem paternalistischen Joch der kemalistischen Eliten leidende Volk vertreten, jetzt an der Macht« seien. Sunnitisch-konservative Bevölkerungsgruppen – in der Mehrzahl aus der arbeitenden Klasse – hatten das Gefühl, der Staat wäre endlich »ihr Staat«. Nun waren sie die »privilegierten Personen«, die in den Ämtern, Behörden, aber auch in den Banken bevorzugt behandelt wurden. Bei Personaleinstellungen in der Staatsbürokratie oder den Kommunalverwaltungen standen sie jetzt in der ersten Reihe. Die Teilnahme an Freitagsgebeten, demonstratives Fasten im Ramadan, islamische Bekleidung und selbst der Begrüßungscode »es-salamun-alaykum« anstatt eines schlichten »merhaba« öffneten Türen und gewährleisteten Aufstiegschancen. Auch die baurechtliche Legalisierung von ungenehmigt errichteten Gebäuden war jetzt einfacher, was zusätzlich höhere Renditen versprach. Es war einfach nützlich, sich besonders nationalistisch und islamisch zu geben.
Nun ist die türkische Mehrheitsgesellschaft, wie jede andere, sehr pragmatisch und denkt zuallererst an das Überleben. In der Prosperitätsära profitierte sie vom Wirtschaftswachstum und erhoffte sich zudem mehr Wohlstand von ihrem Staat, der den wiedererweckten (osmanischen) Eroberungsgeist repräsentierte. Und solange sie weiter konsumieren konnte, interessierte sie nicht, wie ihre »Vertreter*innen« sich durch Korruption bereicherten und dass ihr gefühlter Wohlstand fremdfinanziert war. Die »türkisch-islamische Synthese« schien endlich ein »Erfolgsmodell« geworden zu sein.
Doch seit einigen Jahren hat die ökonomische Realität sie eingeholt. Insolvenzen, nicht mehr bediente Kredite, Teuerungsraten, reelle Kaufkraftverluste durch Wertverlust der Lira, wirtschaftliche Stagnation sowie Verarmungsprozesse sind Entwicklungen, die mit nationalistischen Phrasen nicht weggedacht werden können. Insofern kann konstatiert werden, dass der türkische Nationalismus wenig geeignet ist, bei den bevorstehenden Wahlen als Rettungsanker für den politischen Islam zu fungieren.
Andererseits jedoch dient er dazu, die Staatsbürokratie, insbesondere die Sicherheitskräfte, unter Kontrolle zu halten. Polizei und Militär können dank höchststaatsamtlichen Freibriefs willkürlich in den kurdischen Gebieten wüten und ihrem rassistischen Wahn freien Lauf lassen. Für die AKP ist die Eskalation des Staatsterrors das wichtigste Instrument zur Machterhaltung. Denn ihr Regime hat sich in eine fragile Situation hineinmanövriert, in der es den einzigen Ausweg in der offenen Diktatur sieht.
In der Tat, Erdoğan und seine AKP stehen mit dem Rücken zur Wand. Das ist der Grund für ihre Aggressivität. Sicher, die aktuelle Situation in der Türkei birgt große Gefahren, bietet aber zugleich Chancen für einen anderen Weg. Die kurdische Bewegung scheint gut gewappnet zu sein, was aber nicht ausreichend ist. Es liegt an den linken Kräften in der Türkei, vorhandene Widerstandspotentiale zu nutzen und die provisorische Brücke zum kurdischen Volk zu einer festen Brücke der Solidarität und des gemeinsamen Kampfes umzubauen. In Kürze, am Abend des 1. Novembers, werden wir beobachten können, ob sich für die Opposition neue Möglichkeiten eröffnen oder die Welt um ein weiteres faschistoides Regime reicher geworden ist.