Vor der Entscheidung über Barzanîs Zukunft in Südkurdistan

Demokratie oder Autokratie

Deniz Irmak

Vielleicht ist die Frage der Amtszeitverlängerung Herrn Mesûd Barzanîs schon gelöst, bevor dieser Artikel in Druck geht. Wie auch am 20. August entschieden wird, die vor längerer Zeit begonnene Diskussion über einen Regimewechsel in Südkurdistan wird andauern. Ob Herrn Barzanîs Amtszeit verlängert wird oder nicht, ob er vom Volk oder vom Parlament gewählt wird, ist sekundär. Südkurdistan will angesichts des Krieges des Islamischen Staates (IS), der Einmischung der Türkei, Irans etc. einen funktionsfähigen staatlichen Apparat. Spätestens seit den IS-Angriffen zweifeln die Bürger am Mythos des starken Peschmerga-Mannes Barzanî. Sie wollen institutionelle Garantien. Sie wollen ein parlamentarisches System. Es soll keine Person über dem Parlament stehen, sondern das Parlament soll die höchste gesetzgebende Institution sein, dessen Beschlüsse von der Regierung umgesetzt werden. Zwar gibt es seit 1991 ein kurdisches Parlament, eine kurdische Regierung. Dennoch liegt die Macht nicht in den Händen des Volkes, sondern in den Händen der Clans und Parteien. Personen und Parteien sind Parlament und Regierung übergeordnet. Die Bürger fordern die Beseitigung der Autokratie und die Installation der Demokratie. Das ist gegenwärtig die Kernfrage in Südkurdistan, auch wenn die gesamte Debatte von zahlreichen weiteren Aspekten geprägt wird.


PDK hat sich seit 1946 nicht reformiert

Seit der Gründung der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK; im Deutschen auch oft KDP) 1946 wurde dieser Teil Kurdistans stets von dem Namen der Barzanîs geprägt. PDK hieß immer Barzanî-Clan. Erst der Vater, dann der Sohn, seit 69 Jahren wird die Partei von ihnen geführt; Südkurdistan ist von diesem Clan kontrolliert worden. In allen wichtigen Ämtern, in Schlüsselfunktionen trifft man immer auf einen Barzanî. Stammesorientiert, konservativ, religiös. Zudem lässt sich keine einzige Frau aus dem Barzanî-Clan finden, weder in der Politik noch im öffentlichen Leben. Es ist nicht einmal bekannt, wie die First Lady in der KRG [Kurdistan Regional Government; Administrationsbezeichnung für die Autonome Region Kurdistan] heißt.

Parlamentarier der KRG zu Besuch in Maxmur

Während Südkurdistan durch diesen Clan geführt wird, findet eine radikale gesellschaftliche und politische Revolution in anderen Teilen Kurdistans statt, nämlich in Rojava (kurd.: Westen; syrischer Teil) und Bakûr (kurd.: Norden; türkischer Teil). Hier gibt es kein Vater-Sohn-Regime, hier ist die aktive und freie Partizipation der Frauen fester Bestandteil der Demokratie. Hier bestimmen die Bürger über zahlreiche Volksräte über ihre Zukunft. Hier wird Politik von unten gemacht. Außerdem ist hierbei von Bedeutung, vor allem auf die Veränderungen bei Abdullah Öcalan in seiner Definition des Führungsproblems im Mittleren Osten hinzuweisen. Er hatte früh erkannt, wie sich Führungspersönlichkeiten im Mittleren Osten reformieren müssen. Deshalb seine Selbstkritik und Kritik in den 25 000 Seiten Verteidigungsschriften. Er wählte die Strategie, Hilfe zur Selbsthilfe wäre die progressive Form eines Führungsstils, anderen sein Wissen und seine Analysen zur Debatte zu stellen. Er bat in den 25 000 Seiten die Kurden beharrlich, ihre Verteidigung und Sicherheit im Aufbau eigener Strukturen zu suchen. Er schlug ihnen vor, ein eigenes System der Selbstverwaltung von unten nach oben zu entwickeln. Er motivierte in den letzten dreißig Jahren vor allem kurdische Frauen, über sich selbst zu bestimmen und damit die traditionelle frauendiskriminierende Gesellschaft in eine demokratische Gesellschaft umzuwandeln.

Diese Erfahrungen in Rojava und Bakûr stellen eine Alternative dar für die Bürger Südkurdistans: Es ist auch anders machbar.

Genauso wie autokratische Strukturen nach dem Arabischen Frühling ins Wanken geraten, bröckelt auch in Südkurdistan der Mythos Barzanî. Als am 2./3. August 2014 der IS Şengal (Sindschar) angriff, flohen die 16 000 Peschmergas der PDK. Gemäß dem Verfassungsentwurf Südkurdistans ist Mesûd Barzanî als »Staatspräsident« der Oberkommandierende der Armee in Krisenfällen. Der Genozid an den êzîdischen Kurden in Şengal versetzte nicht nur die Kurden, sondern die ganze Welt in Schrecken. Noch immer ist die Frage nicht geklärt, warum die 16 000 Peschmergas samt Ausrüstung vor dem IS flüchteten, Verantwortliche aus der PDK sind immer noch nicht ermittelt. Dafür erwarten die Bürger Südkurdistans eine Erklärung, die von Herrn Barzanî bislang nicht erfolgt ist. Hinzu kommt, dass auch Hewlêr (Arbil), die Hauptstadt Südkurdistans, ein paar Tage nach Şengal durch den IS gefährdet war. Ohne die Kämpfer der YNK (Patriotische Union Kurdistans; im Deutschen auch oft PUK) und PKK wäre auch Hewlêr riskiert worden.

Mangelnde Institutionalisierung des »safe haven« Südkurdistan

Die Debatte um die Verlängerung der Amtszeit des KRG-Präsidenten Mesûd Barzanî beschäftigt Südkurdistan seit Monaten. Je näher der 19. August rückt, umso mehr gehen die Diskussionen in Richtung Krise, allen Beteiligten geht es darum, diese Krise ohne große Verluste zu überwinden. Auf den ersten Blick erscheint sie wie eine innenpolitische Krise in Südkurdistan. Doch der Schein trügt. In keinem anderen Teil Kurdistans sind Außen- und Innenpolitik so vernetzt wie in Südkurdistan. Jede innenpolitische Debatte ist zugleich auch eine außenpolitische. Jede außenpolitische Entwicklung im Mittleren Osten wird auch direkt in Südkurdistan reflektiert.

Nach der Parlamentswahl 2013 wurde die Regierung in Südkurdistan von fünf Parteien gebildet. Die PDK, YNK, Islamische Union (Komela Îslamî), Islamische Einheit Kurdistan (Yekgurtî Îslamî Kurdistan) und Gorran »Wandel«. Ab den 1990ern bis 2013 waren die Regierungen stets zwischen YNK und PDK gebildet worden. Mit dem strategischen Abkommen zwischen ihnen wurde bislang die Politik des Landes bestimmt. Beide Kräfte hatten trotz des Parlaments, der Regierung ihre eigene Macht beibehalten, was Parlament und Regierung mehr zu einem Schein denn einem Sein macht. Sowohl die PDK als auch die YNK, die über eine Zehntausende Mann starke Peschmerga-Armee verfügen, haben sich gewehrt, ihre Streitkräfte dem Peschmerga-Ministerium unterzuordnen. Auch diplomatisch und wirtschaftlich haben beide Parteien ihre eigenständige Bündnispolitik beibehalten.

Die Niederlage der YNK

2013 wurde die Amtszeit Herrn Barzanîs zum erneuten Anlass heftiger Debatten. Damals wie heute sprach man über die Lücken im Gesetz. Denn es existiert keine gültige Verfassung, stattdessen wird immer noch über den Verfassungsentwurf verhandelt. Es war der PDK im politischen Konsens mit der YNK über ein Rechtsvakuum gelungen, die Amtszeit Herrn Barzanîs um zwei weitere Jahre zu verlängern. Gesetze wurde entsprechend dem politischen Klima entwickelt. Das hat der YNK große Probleme bei ihren Anhängern und Mitgliedern bereitet. Außer dass sie intern mit großer Unruhe zu kämpfen und zahlreiche Austritte hinzunehmen hatte, wurde sie nur drittstärkste Partei in Südkurdistan.

Gorran dagegen wurde zweitstärkste. Gorran sprach der Mehrheit der Bürger aus der Seele. Sie hatte die Bekämpfung der Korruption und Vetternwirtschaft und einen funktionsfähigen staatlichen Apparat versprochen und fand großen Zuspruch.
Die YNK hat infolge ihrer Niederlage ihre strategische Bündnispolitik im Hinblick auf die PDK schrittweise verändert und immer mehr die Linie nationaler Einheit übernommen. Des Weiteren sprach sie sich sehr offensiv für die Solidarität mit dem Kampf in Rojava und in Bakûr aus. Das hat dazu geführt, dass sie bei der irakischen nationalen Parlamentswahl als zweite kurdische Partei nach der PDK nach Bagdad kam. Außerdem hatte sie im Gegensatz zur PDK versucht, das politische Gleichgewicht mit Bagdad aufrechtzuerhalten, das aufgrund der Kontroversen zwischen Iraks Staatspräsident Al-Maliki und Barzanî gestört war. Die Türkei hatte alles Erdenkliche unternommen, um die Beziehungen zwischen Hewlêr und Bagdad zu schwächen. Was ihr in großem Umfang gelungen war. Als Grund für den Konflikt wurde der Erdölhandel genannt. Hewlêr verkaufte Öl an die Türkei, ohne Bagdad die genauen Zahlen zu übermitteln. Daraufhin ließ Bagdad die 17 % der Einnahmen des Staatshaushalts, die Kurdistan zustanden, einfrieren. Das hat dort zu unerwarteten wirtschaftlichen Problemen geführt und es dauert immer noch an.

Die YNK hat auf die Forderungen der Bürger hin eine Linie der [kurdischen] nationalen Einheit eingeschlagen, da die PDK-Politik gegenüber der Revolution in Rojava und dem Friedensprozess der PKK in Bakûr auf keine große Sympathie in Südkurdistan stieß.

Die Konstellation des »safe haven« ändert seine Form

Seit dem ersten Golfkrieg des Westens wurde Südkurdistan aufgrund seiner reichen Erdöl- und Wasservorkommen und seiner geostrategischen Bedeutung, nämlich der Nachbarschaft zu Iran, Syrien und der Türkei, für sehr wichtig gehalten. Die Definition dieses Teils in den 1990ern als »safe haven« gilt immer noch. »Safe haven«, aber nicht nur für die Kurden, sondern für alle, die meinen, ein Bollwerk gegen Iran, Syrien, Irak und Türkei errichten zu müssen. Also auch andere haben ein Problem mit den arabischen, türkischen und persischen Machtbestrebungen und nicht nur die Kurden. Diese Staaten sind nämlich als Überbleibsel Produkte des Lausanner Vertrages, sträuben sich immer noch gegen eine neoliberale Öffnung für die freie Martwirtschaft. Sondern beharren auf zentralgesteuerten Machtstrukturen, um ihre Existenz zu sichern. Südkurdistan wurde daher als Drehscheibe für geeignet gehalten, entwickelt und gefördert. Neben dieser Politik der westlichen Länder waren auch die Türkei und Iran, aber ebenso arabische Staaten bemüht, ihren Einfluss hier so weit wie möglich auszudehnen. Da Südkurdistan sein Öl nur über den Landweg über die Türkei oder Iran ausführen kann, wurde die geografische Lage zu einem zentralen politischen Druckmittel entwickelt. Nicht nur Öl, sondern sämtliche Güter, die ein Land braucht, werden entweder aus der Türkei oder Iran importiert.

Der »safe haven« hat 2003 nach dem Fall Saddam Husseins immer mehr die Form einer Autonomie angenommen. Als Teil der irakischen Föderation wurde er dann 2005 als Kurdistan Region of Iraq deklariert und mit dieser Bezeichnung in der irakischen Verfassung verankert. Der »safe haven« hat also einen rechtlichen Status bekommen.

Innenpolitisches Problem: Demokratiedefizite

Ein Konflikt besteht darin, dass immer mehr Menschen in Südkurdistan zu dem Ergebnis gelangen, dass ein funktionsfähiges staatliches System entwickelt werden muss. Bislang blieben Parlament und Regierung pro forma. Entscheidend waren die beiden Parteien YNK und PDK, die sowohl über Ölhandel und Wirtschaft als auch über die Peschmerga-Kräfte verfügen. Die außenpolitische Positionierung, d. h. das PDK-AKP- und das YNK-Iran-Bündnis, hat das Land polarisiert. Vor allem seitdem mit dem IS das schiitische (Iran) und das sunnitische (Türkei) Lager in Machtkonkurrenz stehen und Expansionsbestrebungen hegen. Infolgedessen hat sich diese Polarisierung negativ auf Südkurdistan ausgewirkt.
Diese Polarisierung führte dazu, dass sich bei der Bekämpfung des IS erhebliche Gefahren aufgetan haben.

Fehleinschätzungen in der Außenpolitik, falsche Einschätzung der AKP-Bündnispolitik hat Şengal, Maxmur, Gwer in große Gefahr gebracht. Obwohl es seit den Angriffen der türkischen Armee seit dem 24. Juli sehr offensichtlich ist, dass die AKP keine politische Lösung mit den Kurden in der Türkei will, waren PDK-Politiker bemüht, in öffentlichen Erklärungen Erdoğan, die AKP in Schutz zu nehmen und die PKK zu beschuldigen. Dabei war es die Türkei, die mit ihren Angriffen den fast dreijährigen Waffenstillstand gebrochen hat. Des Weiteren war es international bekannt, dass die AKP mit dem IS gegen die Kurden in Rojava kämpft.

Überwindung autokratischer Tradition

Ob KRG-Präsident Mesûd Barzanî bleibt oder geht, ist nunmehr eine sekundäre Frage. Es geht nicht allein um die Person Mesûd Barzanî, obwohl die PDK es so aufnimmt. Es geht um die Realität, dass Südkurdistan von dem politischen und gesellschaftlichen Wind, der in der Umgebung weht, verschont bleibt. Es geht darum, den politischen Führungsstil in dieser Region, nämlich die »Alleinherrscher«-Macht, d. h. den autokratischen Stil, zu überwinden. Südkurdistan braucht ein politisch-pluralistisches System, d. h. ein funktionsfähiges Parlament, eine Regierung und die Freiheit der zivilen Organisierung.

Die Bürger wollen Demokratie, die Machthabenden die Macht

Erstaunlich auffällig sind die Entwicklungen kurz vor dem 19. August. Bagdad schlug die Gunst der Stunde. Ministerpräsident Haider al-Abadi erklärte mit einer unglaublichen Entschlossenheit, die Korruption in Irak zu bekämpfen. Ferner haben Ministerpräsident und Parlamentspräsident binnen kurzer Zeit den Bericht der Untersuchungskommission zur Einnahme Mossuls durch den IS vor das Hohe Gericht gebracht. Zuvor war auch behauptet worden, dass ebenso zahlreiche PDK-Funktionäre am Fall Mossuls beteiligt gewesen waren. Al-Abadi hat Herrn Barzanî über die sofortige Umsetzung der kurzfristigen Reformen zwei wichtige Drohungen übermittelt: mit der Entsendung des Untersuchungsberichts Mossul eine rechtliche Drohung, mit den Reformen, den politischen Druck in Kurdistan auf Herrn Barzanî zu verstärken.

Haider al-Abadi verspricht sich auch Unterstützung aus den USA. Im Atom-Abkommen zwischen Iran und den USA sieht er die Chance, den Druck auf Barzanî zu erhöhen. Denn es geht Washington jetzt darum, vertrauensbildende Maßnahmen in der Politik mit Iran zu entwickeln. Dabei wird al-Abadi eine wichtige Rolle spielen, da die Schiiten in Irak, zu denen auch er selbst zählt, iranfreundlich sind.

Die Pro-AKP-Politik Barzanîs hat auch die diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und ihm selbst belastet. Während international bekannt ist, dass die AKP den IS unterstützt und die PKK ihn bekämpft, war es kontraproduktiv, die Angriffe der türkischen Armee vom 24. Juli 2015 auf die PKK zu rechtfertigen.

Nicht nur in Rojava, Bakûr und Rojhilat (kurd.: Osten; iranischer Teil), auch in Başûr (kurd.: Süden) sehen die Kurden die PKK als eine Garantie für ihre sichere Existenz, aber auch als Wegweiser zu einer demokratischen und modernen Gesellschaft. Wer sich gegen die PKK stellt, verliert bei den Kurden, wer sich solidarisiert, gewinnt.

Millionen Menschen in Südkurdi­stan haben für den Sieg der Demokratischen Partei der Völker (HDP) bei den türkischen Parlamentswahlen gebetet. Gorran und die YNK hatten mehrere ihrer Mitglieder im Wahlkampf nach Bakûr geschickt, um ihre Solidarität zu bekunden, während die PDK sich den Sieg des Bündnispartners AKP erhoffte. Die Wahlniederlage und der andauernde Konflikt der AKP werden auch die PDK-Politik belasten. Denn von ihr ist zu viel in die AKP investiert worden. Nicht nur wirtschaftlich, auch politisch. Die Zukunft der AKP wiederum hängt von der Politik der PKK ab, die auch international Anerkennung findet. Sowohl innen- als auch außenpolitische Entwicklungen werden der PDK/Barzanî helfen, eine Politik der nationalen Einheit mit der PKK aufzugreifen.

Ob Herr Barzanî weiterhin im Amt bleibt oder nicht, spielt keine große Rolle. Die Erkenntnis in der Bevölkerung, dass Autokratie keine Zukunft mehr hat, ist klar und deutlich. Nicht Autokratie, sondern Demokratie wird auch Herrn Barzanî helfen.