kobane berxwedide | Foto: DIHAKobanê, Sozialismus und Intervention:

Die Misere der europäischen Linken

Yasin Sunca, 13.10.2014

Als ISIS in den Schlagzeilen europäischer Tageszeitungen auftauchte, begannen auch die westlichen imperialistischen Staaten, die Legitimität des Krieges gegen die grauenvollen Taten der Organisation, für die sie mitverantwortlich sind, zu thematisieren.


Eine neue imperialistische Intervention wurde in Betracht gezogen, diesmal gegen ISIS, den Feind der Menschheit. Die europäische Linke, welche die bisherigen Massaker des ISIS so gut wie nicht zur Sprache gebracht hat, wendete sich wegen ihrer traditionellen Sozialismus-Interpretation entschieden gegen die Idee einer Intervention. Es ist durchaus verständlich, gegen eine militärische Intervention zu sein, doch was ist die Alternative? Schweigen?

Was ist ISIS?

ISIS, auch bekannt als ISIL oder IS, profitierte von der komplexen politischen und militärischen Situation im Mittleren Osten und proklamierte in den sunnitisch-arabisch dominierten Regionen des Irak und Syriens einen islamischen Staat. Im Namen des Islam wurden von ihm brutalste Gewaltverbrechen begangen.

Die Enthauptung von »Ungläubigen«, die Vergewaltigung und Versklavung von Frauen, Massenerschießungen und viele andere Formen der Gewalt sind zu alltäglichen Bildern aus dem Irak und Syrien geworden. ISIS lässt denen, die nicht sunnitisch-muslimischen Glaubens sind, drei Möglichkeiten: die Konversion zum Islam, die Zahlung der Dschizya (einer Steuer, die allen nicht zur »offiziellen« Religion gehörenden Gruppen auferlegt wird) oder den Tod. Angesichts dieser Brutalität flüchteten viele in die benachbarten Staaten. ISIS vergewaltigt in Mesopotamien die Werte der Menschheit und der Westen schaut sich das alles wie den Film eines berühmten Regisseurs an und überzeugt sich davon, wie »barbarisch« der Rest der Welt ist.

ISIS und andere dschihadistische Gruppierungen sind keine neue Erscheinung und tauchten nicht aus dem »Nichts« auf. Sie greifen die KurdInnen seit mindestens zwei Jahren an und genauso lange versuchen die KurdInnen, pragmatische und vernünftige Entscheidungsträger auf die Gefahr, die von diesen Gruppierungen für die gesamte Welt ausgeht, hinzuweisen. Aber der Westen hat – wie so oft – erst über diese grausamen Organisationen gesprochen, nachdem die Videos von der Enthauptung amerikanischer und britischer Geiseln im Internet auftauchten. Diese Taten sind ohne jeden Zweifel inakzeptabel. Wiederum: Wir hätten solche Szenen nicht mit anschauen müssen, hätten die Entscheidungsträger zur Kenntnis genommen, was den KurdInnen widerfahren ist und widerfährt. Wenig überraschend hat auch die europäische Linke die dschihadistische Gefahr für die Region und mögliche Entwicklungen ignoriert. Der Linken muss es noch einmal gesagt werden: Diese Banden vergewaltigen die Werte der Menschheit, einschließlich die Werte des revolutionären Kampfes.

Misere der Mainstream-Linken

Es gibt hunderte von Gründen, warum sich die Linke ISIS und dem, was er in den letzten zwei Jahren unschuldigen Menschen angetan hat, entgegenstellen muss. Aber diejenigen, die gegen ISIS Stellung beziehen müssten, an erster Stelle linke Parteien und Organisationen, verstehen nicht im Geringsten, was dort geschieht, und haben es schlichtweg nicht geschafft, einen umfassenden Ansatz zu entwickeln, weil sie – zu ihrem Unglück – der orthodoxen Interpretation von Sozialismus versus Imperialismus verhaftet sind. Sie belassen es wieder einmal dabei, ihre jeweiligen Regierungen als Imperialisten zu beschimpfen, was in Wirklichkeit weder für die Regierung noch für die Gesellschaft von besonderer Bedeutung ist.

Im besonderen Fall der anhaltenden Verteidigung von Kobanê (Ain al-Arab) durch die KurdInnen in Rojava (Nordsyrien) stellen sich die Volksverteidigungseinheiten YPG [und Frauenverteidigungseinheiten YPJ] sowohl den brutalen Angriffen der Dschihadisten als auch den militärischen Aggressionen des syrischen Regimes entgegen. Die KurdInnen haben sich aus sehr überzeugenden Gründen gegen eine Kooperation mit dem Regime und der Mainstream-Opposition entschieden. Das Regime hat die KurdInnen und andere Gruppen sehr lange unterdrückt, das macht ein politisches Zusammengehen mit ihm unmöglich. Angesichts der politischen und militärischen Schwierigkeiten hat sich das Regime dazu entschieden, seine Kriegsführung gegen oppositionelle Gruppen auf strategisch wichtige Regionen zu konzentrieren, und verzichtet deswegen auf massivere militärische Angriffe gegen die kurdischen selbstverwalteten Kantone in Rojava.

Außerdem bereitet die Ausrufung der Selbstverwaltung in den kurdischen Kantonen [Syriens] der Türkei, die zu den größten Kritikern des syrischen Regimes zählt, gewisse Probleme. So können wir eher über eine zufällige punktuelle Übereinstimmung zwischen dem syrischem Regime und den KurdInnen sprechen als über eine strategisch begründete Vereinbarung. Mit der etablierten syrischen Opposition konnten die KurdInnen aus zwei wesentlichen Gründen nicht zusammenarbeiten: Erstens hat die arabische Opposition nicht eines der kollektiven Rechte der KurdInnen anerkannt und all deren Forderungen auf die Zeit nach Assad verschoben. Zweitens hat die arabische Opposition keine klare Agenda für die Zukunft Syriens. Sie hat keine klare und überzeugende Antwort auf die Frage, ob eine neue Diktatur oder Demokratie entstehen wird, und so bleiben die KurdInnen, was den Willen der Opposition zur Demokratisierung angeht, skeptisch.

Vor diesem Hintergrund haben sich die KurdInnen für die Politik eines dritten Weges entschieden und damit begonnen, ihre Kantone gemäß einem demokratischen Selbstverständnis, das die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen mit einbezieht, aufzubauen. Die kurdischen Kantone haben niemals irgendeine Gruppe angegriffen, wenn sie nicht selbst militärischen Angriffen ausgesetzt waren. Der Widerstand im Kanton Kobanê resultiert aus den brutalen Angriffen des dschihadistischen ISIS und ist ein Akt der Selbstverteidigung. Die KurdInnen wagen in einer der schwierigsten Regionen der Welt, dem Mittleren Osten, ein sozialistisches Experiment und die internationale Linke trägt gleichermaßen Verantwortung für den Schutz dieser aufkeimenden sozialistischen Hoffnung. Dieses Experiment benötigt die unbedingte Unterstützung aller SozialistInnen und internationale Solidarität.
Leider sind linke europäische Parteien und Organisationen weit davon entfernt zu begreifen, was genau in Kurdistan und Kobanê geschieht, und sie scheinen auch kein Interesse am ideologischen Hintergrund der Politik der Kantone von Rojava zu haben. Sie müssen sich eingestehen, dass sie nicht in der Lage waren, die Politik des dritten Wegs zu begreifen – und genauso verblendet sind wie die Mainstream-Medien, welche die KurdInnen an der Seite Assads positioniert haben, obwohl diese tausendmal unmissverständlich erklärt und in der Praxis gezeigt haben, dass sie in Opposition zum Regime stehen. Sie fahren damit fort, den KurdInnen vorzuwerfen, sie seien StellvertreterInnen des Regimes. Andere wiederum behaupten in einer verkürzten Betrachtungsweise, dass die KurdInnen, wenn sie nicht mit Bashar al-Assad zusammengehen, wohl auf Seiten der Opposition stehen. Es muss noch einmal daran erinnert werden, dass die Gegnerschaft zum Regime nicht automatisch bedeutet, alle Analysen und Prognosen der syrischen Opposition zu akzeptieren. Darüber hinaus wird die Hauptopposition in Syrien im Kampf gegen das Regime von Imperialisten unterstützt. Und so haben die KurdInnen ganz klar begriffen, dass ein dritter Weg der einzig richtige ist.

Die meisten linken Gruppierungen haben dem Dilemma erst Beachtung geschenkt, nachdem die internationale Koalition Luftschläge gegen ISIS angekündigt hatte. Trotz der anhaltenden humanitären Krise in Kurdistan haben diese Gruppierungen weggeschaut und haben ihre Agenda wieder einmal von den Imperialisten bestimmen lassen. Sie hätten mit den Menschen in der Region und dem einzigen demokratisch-sozialistischen Experiment im Mittleren Osten solidarisch sein können. Sie hätten ein Bewusstsein über die Bedrohung durch dschihadistische Gruppen schaffen können, bevor diese die ÊzîdInnen in Sindschar (Şengal) im Nordirak abgeschlachtet haben und vor dem drohenden Massaker in Kobanê. Es ist offenkundig, dass die meisten linken Parteien und Gruppierungen einem staatszentrierten Paradigma verhaftet sind und weder eine eigene Agenda noch Weitblick besitzen. Ihr anhaltendes Schweigen zu den Dschihadisten ist für sie auch ein Druckmittel. Die europäische Öffentlichkeit steht MuslimInnen skeptisch gegenüber und dies wird von den meisten rechtspopulistischen Parteien instrumentalisiert. Dennoch muss die Linke bei der Analyse des Islam in Europa klar zwischen dem Islam als Religion und dem Islam als politisch motivierter, dschihadistischer Herrschaft unterscheiden. Hierbei haben die meisten europäischen linken Gruppierungen komplett versagt.

Fragen, die sich die Linke stellen sollte

Was eine militärische Intervention angeht, haben linke Parlamentsparteien mit »Nein« gestimmt und außerparlamentarische Gruppierungen protestiert. Ich persönlich war nie für irgendwelche militärischen Interventionen und werde es auch niemals sein. Dennoch stellen sich hier einige Fragen, die es zu beantworten gilt: Die KurdInnen werden hauptsächlich durch Waffen westlicher Länder, bereitgestellt durch die NATO-Staaten, getötet, die von ISIS zuvor aus den Arsenalen der irakischen Zentralregierung und der Freien Syrischen Armee erbeutet wurden. Gibt es also gegenüber den Völkern des Mittleren Ostens nicht eine objektive Verantwortung westlicher imperialistischer Staaten, wenn diese mit ihren Waffen massakriert werden? Sollten sich linke Parteien nicht dazu verpflichtet fühlen, ihre Regierungen an ihre Verantwortung zu erinnern? Welche Alternativen zu einer militärischen Intervention können diese Parteien aus linker Perspektive vorschlagen? Was können diese linken Gruppen tun, während die KurdInnen von den Terroristen des ISIS massakriert werden? Und eine letzte Frage: Warum haben sich linke Parteien nicht vor dem militärischen Eingreifen der (Anti-IS-)Koalition mit der kurdischen Frage in Syrien beschäftigt? Es gibt auf keine dieser Fragen eine kurze Antwort, aber eine Konzentration auf diese Fragen ist unerlässlich und entscheidend. Darüber hinaus verdienen es diese Fragen, aus einer linken europäischen Perspektive überdacht und neu konzipiert zu werden, die sich vom traditionellen antiimperialistischen Diskurs unterscheidet. Wenn dies nicht geschieht, wird die Misere nur fortdauern.

Die KurdInnen versuchen in Rojava ein neues demokratisch-sozialistisches Modell umzusetzen, das die Solidarität und Unterstützung der Linken in Europa benötigt. Als in Europa lebende kurdische SozialistInnen sind wir die endlosen Diskussionen mit linken Gruppen leid, die zu keinen Ergebnissen führen. In der Frage der internationalen Solidarität befindet sich die europäische Linke in einem Verzweiflungskreislauf, der sie gänzlich lähmt. Sie sollte diese Lähmung schnellstens überwinden.

yasin suncaYasin Sunca ist Mitarbeiter der Partei der Demokratischen Völker (HDP) in Europa.
(Übersetzung von: http://kurdishquestion.com/insight-research/analysis/kobane-socialism-and-the-question-of-intervention-the-misery-of-the-left-in-europe.html)