Über politische Entwicklungen nach den Kommunalwahlen
Das Plädoyer der Wähler für die Autonomie stellt eine neue politische Tatsache dar
Sırrı Süreyya Önder, Parlamentsabgeordneter der HDP, Istanbul
Bei der Parlamentswahl 2011 war ein weiteres Mal klar geworden, dass die kurdische Bewegung bei Wahlen stetig zulegt und sich somit als politische Akteurin in der Türkei etabliert. Parallel zu dieser Expansion und dem Erstarken auf politischer Ebene waren auch immer öfter und umfangreicher die grundlegendsten Elemente ihrer politischen Vision für den Nahen/Mittleren Osten zu vernehmen. Als der Friedensprozess begann, äußerten die Kurden oft: »Heval [kurd. für: Genosse], das ist ein Prozess!«
Wir können uns aktuell der Politik in der Türkei nur aus der Perspektive der Völker widmen, deren Agenda von der Demokratischen Autonomie und dem Friedensprozess bestimmt ist.
Wenn wir uns den Prozess vergegenwärtigen, werden wir feststellen, dass er eigentlich gar nicht so außergewöhnlich verläuft. Denn wie bei allen Lösungsprozessen auf dieser Welt ist auch dieser von Hindernissen und Krisen begleitet. Wer den Staat als vollkommen versteht, kann dem Begriff des »Prozesses« keine Bedeutung beimessen. Bei vereinfachter Betrachtung der Lage können wir die aktuelle Situation so beschreiben: Die kurdische Bewegung hat ihren Willen zu einem Waffenstillstand eindeutig bewiesen und von türkischer Seite dafür nichts als Ignoranz erfahren. Der türkische Staat hat keinerlei rechtliche oder militärische Schritte unternommen, um den Rückzug der kurdischen Guerilla zu unterstützen, und entweder die Initiative für einen dauerhaften Frieden vermissen lassen oder überzogen ängstlich agiert. Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) ist, gemessen an den Maßstäben der Türkei, gealtert und es fehlt ihr nun auch an Dynamik, so dass die Erwartungen der Kurden an den Prozess keine Erfüllung finden. Aus dieser Enttäuschung heraus entsteht Frust, der die Vertiefung des Friedensprozess und die Konzentration auf ihn verhindert. Für die Kurden sind von nun an alle Schritte von staatlicher Seite her bestimmend. Wir stehen an einer sehr scharfen Weggabelung, da die AKP, anstatt etwas zu unternehmen, andauernd darauf hinweist, was sie denn bis dato schon gemacht haben will.
Da auch Ministerpräsident Erdoğan bei seinen Wahlkampfauftritten in den kurdischen Gebieten so gut wie nichts zum Friedensprozess geäußert hat, zweifelt die Bevölkerung an seinen Absichten. Das hat mitunter auch dazu geführt, dass der Block um die BDP/HDP in der Region als einzige Alternative wahrgenommen wird. Das ist nicht einzig und allein auf die Bemühungen der legalen politischen Ebene zurückzuführen. Hierbei hat sich trotz aller Schwierigkeiten die kollektive Linie zwischen Öcalan, der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) und dem Block um die BDP/HDP positiv ausgewirkt. Das hat zur Folge, dass alle Teile der kurdischen Bewegung gemeinsam handeln können. Auch wenn die Akteure in der kurdischen Bewegung im Großen und Ganzen konform gehen, so sind die unterschiedlichen Töne als Beleg für die pluralistische demokratische Gesinnung dieser Bewegung anzusehen. Aus meiner Perspektive kann ich sagen, dass in diesem »Prozess« der größte Vorteil der kurdischen Bewegung im Gegensatz zur AKP darin liegt, dass sie ihre Basis nicht von oben nach unten überzeugen muss. Der Friedensprozess wird nur dann zu einem dauerhaften Frieden führen, wenn die Basis ihn anführt und trägt. Dieser Aspekt stimmt uns, die politischen Vertreter der kurdischen Seite, hoffnungsvoll, da unsere Basis diesen Prozess auf einem sehr hohen Niveau anführt und vertritt.
Der Gesellschaft gegenüber wird der Eindruck vermittelt, dass der Waffenstillstand, der Dialog, viel eher ein Friedensprozess ist. Ja, wir stecken in einem Verhandlungsprozess, aber er bedeutet bis dato nichts anderes als die Einstellung kriegerischer Handlungen. Auch dieser Zustand ist aufgrund ausbleibender Schritte und der Entwicklungen im Nahen/Mittleren Osten höchst fragil. Es wäre sinnlos, den Dialog zwischen den Konfliktparteien in der Türkei unabhängig von Rojava und der Tatsache, dass in Syrien Leib und Leben der Armenier, Alawiten und Kurden höchst bedroht sind, und der Gewaltspirale im Nahen/Mittleren Osten zu betrachten. Allgemein wird diese Phase als Rückzug der kurdischen Kämpfer vom Staatsgebiet der Türkei interpretiert. Fakt ist jedoch, dass der Sachverhalt keinesfalls derart simpel gesehen werden kann.
Die Wahlen in der Türkei haben uns ein weiteres Mal vor Augen geführt, dass eine politische Kraft ohne Selbstverteidigungsmechanismen von der AKP bedrängt, neutralisiert und bei Bedarf eliminiert wird. Es wäre töricht, zum aktuellen Zeitpunkt von einem Friedensprozess zu sprechen, da die AKP die kurdische Bewegung unentwegt um Zugeständnisse bittet, aber selbst keinerlei Anstalten zu einem Beitrag zu möglichen Friedensgesprächen macht. So wäre es auch angebracht gewesen, die kurdischen Kämpfer nicht nur zum Rückzug aufzufordern, sondern ihnen parallel auch die nötige politische und rechtliche Sicherheit zu gewähren, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Solange diese Sicherheiten nicht gewährt werden, sind die Erwartungen der AKP realitätsfern. Der Prozess hängt nun vom Wohlwollen der AKP ab, die bei den Wahlen zwar quantitativ keinen wirklichen Einbruch erlebt, qualitativ aber im Zuge des Machtkampfes mit der Gülen-Bewegung und des darauffolgenden Korruptionsskandals stark eingebüßt hat. Eben diese Tatsache ist keine ausreichende Basis für vertrauenswürdige Gespräche.
Wenn wir die nationalistischen Kräfte außer Acht lassen, lässt sich durchaus zutreffend behaupten, dass die Gesellschaft in der Türkei keine Zweifel mehr am Friedenswillen der BDP/HDP hat. Die AKP nutzt ihre Möglichkeiten nicht, alle gesellschaftlichen Gruppierungen, allen voran die Kurden und Türken, in diesen Prozess einzubinden. Um die Kurden zu überzeugen, sollte die AKP keine »besseren Haftbedingungen« schaffen, sondern sie freilassen. Eine Regierung, die sich einer Demokratisierung der Gesellschaft und des Staatsapparates widersetzt, wird folglich nur einen Weg einschlagen, und zwar denjenigen, zu einem autoritären Regime zu werden, so dass es selbst das größte Hindernis für eine Lösung/den Frieden darstellt.
Die gesamte Bevölkerung hat sich für eine Autonomie ausgesprochen
Das Plädoyer der Wähler für die Autonomie stellt eine neue politische Tatsache dar. Diese Tatsache wird plastisch sichtbar, wenn wir uns allein schon die Landkarte der Türkei im Hinblick auf die Wahlergebnisse anschauen. Dabei erkennen wir unwiderruflich das Bedürfnis der Türkei nach einer Demokratischen Autonomie der Regionen.
Ganz bewusst spreche ich nicht von einer Region, sondern von der Gesamttürkei. Ich beziehe mich dabei nicht allein auf die kurdischen Landesteile, denn wenn wir uns die Region um Izmir anschauen, werden wir feststellen, dass sich hier die Republikanische Volkspartei (CHP) tief verwurzelt hat, und in nationalistisch gesinnten Gegenden gilt dasselbe für die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). In der Türkei haben sich im Zuge dieser Wahl die unterschiedlichen soziopolitischen Profile der Regionen noch klarer herauskristallisiert.
Die einheimische Bevölkerung in Anatolien hat sich für eine religiös-konservativ-rechte Plattform, und meistens für die AKP und mit ihr vergleichbare Parteien, entschieden. Die Türkei hat mit ihrer Wahl bereits von sich aus eindeutig die Demokratische Autonomie skizziert. Betrachten wir diese Regionen aus soziologischer Perspektive näher, erkennen wir schon bei der Lebensweise die Unterschiede überdeutlich. Es ist sinnlos, mit diesem offensichtlichen Tableau zu hadern und dagegen anzukämpfen. Es wäre nur der Versuch, andersartige Menschen zwangsweise den eigenen Vorstellungen anzupassen. Ein solches Vorhaben würde niemanden stärken, sondern nur die gesellschaftlichen Energien unnötig verschwenden.
Kurz gesagt, es ist nicht mehr allein das Thema der BDP-geführten Kommunen, sich zusammenzuschließen, um eine Form der Autonomie zu proklamieren. Die Autonomie überhaupt ist kein Gegenstand der Proklamation an sich, da sie sich in der Praxis herauskristallisiert. Denn die Wähler in der kurdischen Region haben bereits durch ihre Stimmabgabe den Bedarf an einer Autonomie eindeutig formuliert. Es ist daher Fakt, dass dieses Bedürfnis auf die eine oder andere Weise seine Erfüllung finden muss. Diejenigen, die meinen, wegen des Prozesses seien die Kurden politisch gedämpft und somit passiv geworden, irren, wenn sie den Zugewinn an neuen Kommunen und die erstarkende kurdische Bewegung mit den von CHP und MHP gewonnenen Regionen auf eine Stufe stellen.
Die Autonomie hat sich quasi in Amed (Diyarbakır) und Izmir gleichzeitig manifestiert. Das aktuelle Tableau macht uns deutlich, dass die Hauptakteure des aktuellen Prozesses, BDP/HDP und AKP, als einzige politische Kräfte den Anspruch hegen, sich in der gesamten Türkei zu organisieren und zu etablieren. Das ist der Hauptgrund, warum sich der Prozess lediglich zwischen diesen zwei Parteien entwickelt hat.
Dieser Fakt ist auch der Grund dafür, dass nun in der Türkei alle gesellschaftlichen Gruppierungen, von Reaktionären bis hin zu Fortschrittlichen, sich mit dem Prozess auseinandersetzen und dieser an Legitimität gewonnen hat. Um im Namen der Türkei Politik machen zu können, ist es Vorrausetzung, die Türkei erst einmal zu verstehen. Um sie zu verstehen, müssen die gesellschaftlichen Unterschiede, die in eine praktische Autonomie münden, berücksichtigt und verstanden werden. Denn die Autonomie der Regionen ist nicht nur ein Projekt, um der Türkei Frieden zu bringen, sondern sie ist als Lösung für die gesellschaftlichen Probleme unausweichlich. Die Demokratische Autonomie wird nicht nur Frieden bringen, sondern ihn auch für die Zukunft garantieren. Der bedeutendste Beleg dafür ist nicht irgendein Bürgermeister oder eine Partei, sondern die friedliche Koexistenz und die Gestaltung der Autonomie vollkommen unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen in vollkommen unterschiedlichen Städten.
Es ist traurig und bedrückend zu sehen, dass Menschen und Gruppierungen mit linker Erscheinung und Rhetorik sich am stärksten dem Kampf gegen diese Realität widmen. Und die permanente Bekundung des Hasses dieser Gruppen auf BDP-/HDP-Politiker ist unausstehlich und eklig.
Es ist unschwer erkennbar, dass diese sich freiheitlich und links darstellenden Gruppen, die sich den Kurden stets überlegen fühlen und ihnen immer Vorschriften machen wollen, mit diesem Verhalten lediglich im Lager der kemalistisch-nationalistischen CHP landen werden.
Dafür gibt es zwei Gründe:
Der erste wäre, dass sie zu saumselig sind bei der Arbeit und beim Widerstand.
Der zweite, dass ihre hierarchischen Strukturen durch den ungeheuren politischen Erfolg der Kurden erbarmungslos entlarvt wurden.
Diese antworten auf diese Ohnmacht lediglich damit: »Heval, das ist ein Prozess!«
Sırrı Süreyya Önder, geboren 1962 in Semsûr (Adıyaman), ist ein türkischer Regisseur und Journalist und Parlamentsabgeordneter der Demokratischen Partei der Völker (HDP).
Er wurde bei der Parlamentswahl 2011 als unabhängiger Kandidat für Istanbul gewählt, anschließend trat er der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) bei. Er gehörte zu der BDP-Delegation, die sich auf der Gefängnisinsel İmralı Anfang 2013 mit Abdullah Öcalan traf, um den Lösungsprozess zu begleiten; heute ist er als HDP-Abgeordneter dabei.
Önder war auch der erste Abgeordnete, der sich 2013 im Istanbuler Gezi-Park gegen die Polizei stellte und folglich die Protestwelle mit auslöste.
Im Oktober 2013 verließ er mit weiteren vier Abgeordneten die BDP, um sich der HDP anzuschließen. Bei der Kommunalwahl kandidierte er als Oberbürgermeisterkandidat der HDP in Istanbul.
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