Die politische Gemengelage bei der Neuordnung der Region
Im Mittleren Osten eskaliert der Dritte Weltkrieg
Amed Dicle, Journalist
Es wäre falsch, den Krieg, der heute Irak und Syrien umfasst, als nur regionale Entwicklung zu betrachten. Vielmehr sollte der sich allerdings regional und speziell in Irak und Syrien verschärfende Krieg als »Miniatur-Weltkrieg« verstanden werden. Das ist die Einschätzung vieler sowie politischer Autoritäten in der Region. Wir haben es mit einer Kriegsregion zu tun, die sich von Mûsil (Mosul) in Irak bis nach Al-Bab in Nordsyrien erstreckt. Aber die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieses Krieges berühren die Interessen aller regionalen Kräfte sowie aller globalen Großmächte.
Eigentlich haben diese Entwicklungen unmittelbar damit zu tun, dass die nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen politischen und geografischen Grenzen, d. h. der Status quo des letzten Jahrhunderts, nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Dass dieser Status quo zerfällt, ist klar, offen bleibt jedoch die Frage, was an dessen Stelle treten wird. Das Kalkül aller regionalen und internationalen Kräfte ist es, an der Neuordnung der Region teilzuhaben, sie entsprechend ihren Interessen zu beeinflussen und die eigene Existenz zu sichern. Das wiederum führt dazu, dass sich diese Mächte gegeneinander positionieren müssen. In der Region kann keine Kraft allein den Kurs bestimmen. Deshalb kommt es zu den verschiedensten Beziehungen und Bündnissen. Jedes neue Bündnis bedeutet gleichzeitig auch einen neuen Feind. Ein neuer Feind ist gleichbedeutend mit einem neuen Konfliktfeld und einer neuen Konfrontation. Und mit diesen Auseinandersetzungen bleiben die Bündnisse niemals nachhaltig, sondern wechseln manchmal täglich. Die Region in Form absoluter »nachhaltiger Beziehungen und Bündnisse« oder absoluter »nachhaltiger Konflikte und Konfrontationen« zu interpretieren, wäre ein großer Fehler. Aber in Grundzügen lässt sich darlegen, was wer plant.
Wenn wir die Situation vor Ort und die Kalkulationen der verschiedenen Seiten unter die Lupe nehmen, werden wir ein realistischeres Bild zeichnen können.
Der Krieg um Mûsil
Beginnen müssen wir mit Mûsil, bekanntlich die zweitgrößte Stadt in Irak, seit Juni 2014 vom Islamischen Staat (IS) besetzt. Die Sunniten in der Mitte Iraks haben sich unter seiner Flagge gesammelt und die Stadt übergeben. Es gab keinerlei Gefechte. Die Besetzung Mûsils hat nicht nur die Stadt und ihre Umgebung verändert. Gleichzeitig wurden alle politischen Balancen Iraks zerstört. Die Zentralregierung Al-Malikis war gezwungen zurückzutreten. Die in der Bagdader Regierung bestimmende schiitische Autorität hat die noch weiter gehende Ausgrenzung von Sunniten als riskant eingeschätzt und die Situation in Mûsil und Umgebung zu verändern versucht. Doch man kann nicht behaupten, dass sie dabei sehr erfolgreich war. Denn der sunnitische Block, in dem auch die Türkei und die südkurdische Demokratische Partei Kurdistans (PDK) ihren Platz finden, hat mit Unterstützung Qatars und Saudi-Arabiens gewährleistet, dass Mûsil vom IS besetzt bleibt. Hätten einige Sunniten ihre anvisierte Position in der Leitung in Bagdad erreicht, hätte das die Situation ändern können. Aber es würde gleichzeitig auch ein großes Risiko bedeuten. Denn in der sunnitisch-schiitischen Polarisierung auf der gegnerischen Seite zu stehen, würde einen rigorosen Ausschluss mit sich bringen, und keine einzige sunnitische Gruppe hätte bedingungslos mit der Bagdader Regierung zusammenarbeiten können. Mit intensiven Bemühungen der USA und internationaler Kräfte, der Regierung Al-Abadi und natürlich dem politischen und militärischen Einfluss Irans wurde ein wenn auch begrenzter politischer Konsens für die Einnahme Mûsils geschaffen. Das Zurückwerfen des IS in Syrien durch kurdische Kräfte und die Ablehnung dieses barbarischen Gebildes durch die Welt hat, wenn auch nur relativ, den Weg für die Entwicklung einer stabilen Beziehung der Sunniten in Mûsil und Umgebung mit Bagdad den Weg eröffnet. Es ist eine Art Vereinbarung über eine »ausreichende« Vertretung der Sunniten in der Leitung in Bagdad. Auf dieser Grundlage hat am 17. Oktober die Mûsil-Operation militärisch begonnen. Deren Beginn war wichtig, aber etliche Beobachter meinen, es sei zu früh gewesen. Der ungenügend gereifte oben beschriebene politische Konsens gefährdet die Operation. Ja, Mûsil wird vom IS zurückerobert. Aber wer wird es danach wie verwalten? Was wird mit den sunnitischen Gruppen in Irak? Die Antworten auf diese Fragen sind von großer Bedeutung für die Zukunft der Gesellschaften in dieser Region.
Sowohl die Türkei als auch die mit ihr agierende PDK in Südkurdistan waren gewissermaßen gezwungen, der Operation in Mûsil zuzustimmen. Denn sonst wären sie in der Position gewesen, den IS zu schützen. Die sunnitischen Gruppen in Irak haben der Operation aufgrund der Versprechen zugestimmt, wollten zudem auch nicht die Zielscheibe der Welt bleiben. Hätten sie sich weiter mit dem IS bewegt, wäre das eine Entscheidung dafür gewesen, Ziel der Schiiten zu sein und nicht nur der Schiiten, sondern der ganzen Welt. Aus diesen Gründen kann man sagen, dass die Entscheidungsgremien der Sunniten in Irak ebenfalls gezwungen waren, der Mûsil-Operation zuzustimmen.
Die Türkei hingegen wollte an dieser Operation teilnehmen. Dieses Ziel hat sich nicht verwirklicht. Sie wollte durch den Raumgewinn dort die Stärkung der Kurden verhindern. Sie hatte sowieso niemals das Bedürfnis, diese Ziele zu verheimlichen. Wäre sie in Mûsil einmarschiert, hätte sie ein Mitspracherecht im Hinblick nicht nur auf die Kurden, sondern auf die politische Arena Iraks allgemein gehabt. Die PDK und einige sunnitische Gruppen in Irak haben diese Position unterstützt und sich an die Türkei angelehnt. Ankara hat deshalb in Başika ein Militärcamp errichtet. Wäre sie in die Operation einbezogen worden, hätte sie ihre Kräfte verstärkt und eine nicht auf Mûsil beschränkte Operation bis nach Şengal (Sindschar) durchgeführt. Das Risiko eines Angriffs auf Şengal darf immer noch nicht ignoriert werden.
Weil der Mûsil-Plan der Türkei durchkreuzt wurde, ist auch der Plan der PDK ins Leere gelaufen. Die kurdischen Kräfte haben die Operation bis an den Rand von Mûsil begleitet, in das Stadtzentrum konnten sie nicht. Dass die Kurden nicht in das Zentrum Mûsils kommen, lag auch im türkischen Interesse. Demnach sollen die Kurden nicht in Mûsil bleiben, und über die PDK ist dieser Plan bislang durchgesetzt worden. Weil die Türkei nicht in die Mûsil-Operation integriert wurde, sind ihre politischen und militärischen Kalkulationen durchkreuzt worden. Doch ihr Einsatz dafür, die Kurden aus dem Stadtzentrum Mûsils zu halten, ist durch die PDK verwirklicht worden.
Warum wurde die PKK nicht einbezogen?
Es war gewissermaßen diskutiert worden, ob PKK-Kräfte an der Mûsil-Operation beteiligt werden sollten. Der einzige Grund für die Nichteinbeziehung der PKK, die gegen den IS am stärksten kämpft und dabei ziemliche Erfahrungen gesammelt hat, ist der türkische Staat. Bagdad wollte der Türkei keinen »Angriffs«-Grund bieten und lehnte die Teilnahme der PKK ab. Die PDK verteidigt dieselbe These: »Wenn es die PKK gibt, wird es uns nicht geben.«
Doch weil in Şengal von der PKK ausgebildete Kräfte sind, war es eine notwendige Bedingung, sie in gewisser Weise teilnehmen zu lassen. Die Kräfte von Şengal begannen Anfang November einen Vorstoß, die Verbindungen zwischen dem Şengal-Berg und IS-Gebiet wurden getrennt. Aber Bagdad verlangte den Abbruch, Al-Abadi wollte unter dem Druck Ankaras keine Operation in Şengal.
Die Position Irans
Die Rolle Irans ist für die Mûsil-Operation von existenzieller Bedeutung. Teheran hat in Irak einen kleinen Iran geschaffen, dessen Zentren sind Bagdad und Basra. Nun ist es ihr Ziel, in Mûsil Einfluss zu gewinnen und dort den sunnitischen Kräften direkt entgegenzutreten. Aus diesem Grund wurden die Volksmilizen (Hashid Shaabi) organisiert und kürzlich als offizielle Kraft in Irak akzeptiert.
Iran wollte ebenfalls nicht die Türkei in Mûsil und sieht eine Stärkung der Türkei als Konkurrenz. Derselbe Iran wollte ebenso keine Teilnahme der PKK an der Mûsil-Operation, denn auch in Iran stellt sich die kurdische Frage und eine Präsenz der Kurden in Mûsil würde ihn ebenfalls schwächen. Iran hat seine ganze Politik über Bagdad laufen lassen und ist zurzeit in der Mûsil-Gleichung die stärkste Kraft, die ihr Kalkül durchsetzen kann. Iran in der Region zu unterschätzen, wäre politische Kurzsichtigkeit. Aus diesem Grund muss seine Position aufmerksam beobachtet werden.
Während die Mûsil-Operation fortschreitet, hat Iran um Kirkuk herum Kräfte gesammelt. Al-Abadi hat den »Unabhängigkeits«-Erklärungen der Kurden eine scharfe Absage erteilt. Richtiger wäre, das als Position Irans zu interpretieren. Wenn also Mûsil vom IS befreit und Iran in Mûsil gestärkt ist, werden die Kurden stärker in die Zange genommen werden. Es ist riskant, dass die PDK »im Namen der Kurden« in der sunnitisch-schiitischen Polarisierung Stellung bezieht. Für die Kurden ist die richtige Politik, keine Partei in den sektiererischen Konflikten zu ergreifen und überall das demokratische Leben zu organisieren. Doch die gegensätzlichen politischen Aktivitäten der PDK fördern das Risiko für die kurdische Region.
Wenn wir die Mûsil-Operation zusammenfassen: Ein Ende der Operation in kurzer Zeit darf nicht erwartet werden. Wenn der IS vertrieben wird, wird in Mûsil leider noch mehr Blut fließen. Auch wenn der IS bis auf die Wurzel beseitigt ist, werden sich die verschiedenen Seiten weiterhin mit »Bomben« gegenseitig Botschaften schicken. Einen Tag wird es in einem schiitischen Viertel, den anderen Tag in einem sunnitischen Viertel Explosionen geben. Daher wäre es falsch, in Mûsil und in Irak allgemein in kürzester Zeit Stabilität zu erwarten.
Wenn der IS aus Mûsil vertrieben wird, gibt es nur eine Adresse, wo er hinkann, und zwar mitten nach Syrien. Sein Haupteinzugsgebiet ist das Gebiet Dair az-Zaur. Über diese Linie wird er sich bis nach Ar-Raqqa positionieren. Andererseits läuft gegen Ar-Raqqa die Operation der kurdischen und demokratischen Kräfte. In dieser Hinsicht erwartet den IS nichts Gutes.
Die Ar-Raqqa-Operation
Die Ar-Raqqa-Operation wird das Schicksal Syriens verändern. Aus diesem Grund ist sie äußerst wichtig. Doch auch von ihr wird kein kurzfristiger Erfolg erwartet. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) haben unter der Führung der kurdischen Verteidigungseinheiten eine dreistufige Operation zur Befreiung Ar-Raqqas begonnen und sind bislang 25 Kilometer vorgerückt. Somit ist die erste Stufe der Operation beendet. Die zweite Stufe wird die Umzingelung des Stadtzentrums sein. In der dritten Stufe hingegen wird es um dessen vollständige Befreiung gehen.
Wenn sich die Demokratischen Kräfte Syriens dieser Operation nicht angeschlossen hätten, hätten sie die USA und die Türkei über eine irgendwie geartete Vereinbarung abgewickelt. Die Stadt Al-Bab wäre den türkischen Kräften übergeben worden – und diese hätten sich dann südöstlich Richtung Ar-Raqqa bewegt. Doch das wäre schwierig umzusetzen gewesen. Weil sich die USA dieser Realität bewusst sind, haben sie die Operation zusammen mit den kurdischen Kräften machen wollen. Wären die Kurden nicht Teil gewesen, hätte sich die Türkei noch weiter in Syrien ausgebreitet und die Basis für ihr Besatzungsvorhaben in Rojava noch mehr gestärkt. Die Vereinigung der Kantone wäre nicht mehr möglich geworden. In dieser Hinsicht ist die Ar-Raqqa-Operation mehr ein politischer und diplomatischer denn militärischer Vorstoß; und sie ist erfolgreich. Der Vormarsch der Türkei wurde gestoppt.
Für das vollständige Ende dieser Operation wird die politische und militärische Unterstützung der USA entscheidend sein. Die QSD wollen schwere Waffen von den USA. Diese benutzen ihr mitgebrachtes Arsenal selbst und überlassen sie nicht den lokalen Kräften. Ar-Raqqa ist eine große Stadt und weil im Zentrum Luftangriffe wirkungslos sind, braucht es andere Waffen. Doch die sind noch nicht gekommen. An diesem Punkt wird auf die Haltung der neuen US-Regierung gewartet.
Der politische Aspekt dieser Angelegenheit betrifft die Frage nach der politischen Gestaltung Syriens nach Ar-Raqqa. Werden die Kurden auch mit am Tisch sitzen? Wenn nicht, warum kämpfen sie dann gegen den IS? Es braucht politische Schritte. Ar-Raqqa würde entweder für vieles den Sieg bringen oder den Verlust. Bislang sind die politischen Versprechen für die Kurden nichts als »Worte«. Deshalb ist zu erwarten, dass sie sich im Umfeld von Ar-Raqqa misstrauisch verhalten werden.
Die USA haben erklärt, sich wegen Ar-Raqqa mit der Türkei geeinigt zu haben. Weil diese auch nicht weiß, wie sie in die Zukunft Ar-Raqqas einbezogen wird, herrscht große Unsicherheit. In dieser ernsthaft unsicheren Atmosphäre wartet jeder auf die Schritte des anderen und positioniert sich entsprechend.
Zusammengefasst: Die Ar-Raqqa-Operation wird vom kommenden Frühling abhängen und anschließend wird über die politische Zukunft Syriens zu diskutieren begonnen.
Die Situation in Al-Bab
Die Befreiung Ar-Raqqas vom IS wird bedingt von den Entwicklungen in der Region Al-Bab. Ohne Klarheit dort können die Demokratischen Kräfte Syriens Ar-Raqqa nicht einnehmen. Denn dessen Hinterland ist Al-Bab und muss daher zuerst befreit werden. Die Türkei will mit ihrem Einmarsch in Al-Bab einen Korridor nach Aleppo und Ar-Raqqa schlagen. Dieser Plan ist von Russland und den USA akzeptiert worden. Aber Iran ist auch nicht an einem Fortschritt der Türkei in Syrien interessiert. In dieser Hinsicht treffen sich die Berechnungen Irans und der Kurden in Al-Bab. Damaskus will ebenso keinen Einmarsch der Türkei in Al-Bab. Deshalb hat sich der Weg der Türkei nach Al-Bab erschwert. Wahrscheinlich wird Al-Bab von den Regime-Kräften eingenommen werden. Die QSD sind auch in dieser Region vertreten. Sie könnten über einen »Handel« mit dem Regime den IS besiegen und den Einmarsch der Türkei verhindern. Als Gegenleistung würde die Regierung in Damaskus die Öffnung eines faktischen Korridors zwischen den Kantonen Rojavas akzeptieren.
Der aus Al-Bab vertriebene IS würde in Ar-Raqqa Unterschlupf suchen. Die von der Türkei unterstützten Gruppen hingegen würden Aleppo nur von Weitem sehen können.
Wenn sich die Demokratischen Kräfte Syriens Ar-Raqqa zuwenden, wird Damaskus eine Operation gen Idlib durchführen. Die Eroberung Idlibs wird die Pläne der Türkei in Syrien gründlich zerstören und sie wird auf die Linie Cerablus (Dscharabulus)/Mare beschränkt bleiben. Dann werden diese Orte auch ohne Bedeutung für sie sein. Ein solches Bild wird sich abzeichnen; der aus Mûsil vertriebene IS wird nach Ar-Raqqa fliehen, ebenso der aus Al-Bab. Ar-Raqqa wird durch die Demokratischen Kräfte Syriens und das südöstliche Dair az-Zaur durch das syrische Regime vom IS befreit werden, dem so der tödliche Schlag versetzt werden wird. Sein Einfluss in Syrien wird enden. Gleichzeitig wird Syrien, natürlich mit Unterstützung Russlands und Irans, die Operation gegen Idlib durchführen. Dann werden die als Freie Syrische Armee (FSA) bezeichneten und an die Türkei gebundenen Gruppen am Ende sein. Cerablus, Al-Rai und Mare werden weiterhin unter türkischer Besatzung stehen. Doch weil ihr Umfeld von den Demokratischen Kräften Syriens und ihr Süden von syrischen Soldaten eingeschlossen werden, wird der Einfluss der türkischen Kräfte lokal begrenzt bleiben.
Natürlich wird die Türkei diese Szenerie nicht akzeptieren. Deshalb wird sie die Kräfte Rojavas und, wenn sie Mut hat, auch die Kräfte Syriens angreifen, Provokationen schaffen und die Spannungen erhöhen.
Wenn die Situation in Al-Bab, Ar-Raqqa und Idlib klarer wird, werden die Diskussionen um eine politische Lösung in Syrien beginnen. Die USA, Russland und die regionalen Kräfte kalkulieren jetzt schon entsprechend.
Zusammengefasst: Im Winter und den kommenden Frühlingsmonaten wird syrisches Territorium wieder zur Bühne für Gefechte werden. Der geschwundene Einfluss von IS und FSA wird anderen bewaffneten Gruppen den Weg öffnen. Aber sie werden nicht so stark sein wie zuvor. In der Geografie Syriens werden die Regierung in Damaskus und die Kurden starke politische Akteure sein. Sie werden entweder politische Kompromisse schließen oder sich gegenseitig bekämpfen. Natürlich verfügen die sunnitischen Kreise in Syrien über Kräfte und Rechte, die nicht ausgegrenzt werden dürfen. Deshalb bedarf es für Syrien eines demokratischen Rezeptes. Doch wenn die USA und Russland die Entscheidungen treffen, gibt es keine Grundlage für die demokratischen Forderungen lokaler Kräfte. Die Regierung in Damaskus sieht immer noch keinen Status für die Kurden vor. In dieser Situation ist der Boden für Auseinandersetzungen bereitet. Die USA und Russland können die Zukunft Syriens unter sich ausmachen und allen aufzwingen.
In dieser Lage wird Syrien nicht das alte Syrien sein, aber wie »neu« es sein wird, ist offen und diskussionswürdig. Für die Kurden ist das größte Problem zurzeit nicht mehr der IS. Für sie ist sogar nicht die militärische, sondern die politische Unsicherheit das ernsthafteste Problem. Militärisch sind sie in der Lage sich zu verteidigen. Doch wenn diese Kraft keinen politischen Wiederklang findet, wird eine risikoreiche Phase beginnen. In dieser Hinsicht stellt die Türkei den gefährlichsten Faktor dar. Die Türkei will keinesfalls, dass die Kurden in Syrien über politische Rechte verfügen. Das wird sie in Zukunft den verschiedenen Seiten zur Bedingung stellen. Wenn sich die Möglichkeit bietet, wird sie ihren Plan zur militärischen Besatzung vorantreiben. Damit die Kurden in Syrien Rechte erlangen, muss das Hindernis Türkei überwunden werden. Die Situation in Syrien wird auch die Zukunft der kurdischen Frage in der Türkei gestalten. Und zurzeit ist es nicht möglich, diese Frage auf politisch-demokratischem Wege zu lösen. Von dieser Realität ausgehend findet die Auseinandersetzung der Kurden mit dem türkischen Staat nicht nur innerhalb der türkischen Staatsgrenzen statt. Auch in Syrien und Irak wird dieser Kampf auf das Heftigste ausgefochten.
Für einen Platz im neuen regionalen Status quo müssen die Kurden das gegenwärtige Paradigma des türkischen Staates überwinden. In Ankara gibt es noch immer keine Autorität, die die Kurden akzeptieren würde. Aber ihre zunehmende Stärkung in der Region wird dem Niedergang dieser Autorität und dem Ende der Erdoğan-Diktatur den Weg ebnen.