Es gilt, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Gräueltaten des Erdoğan-Regimes und die völkermörderischen und umweltzerstörerischen Verbrechen zu lenken, die es gegen das kurdische Volk und sein Land, Kurdistan, begeht.
Der Kampf in Palästina und Kurdistan sind ein Kampf, der Kampf zweier Völker gegen Völkermord und Vernichtung
Interview mit Zagros Hiwa, Sprecher des KCK (Gemeinschaft der Völker Kurdistans) für Außenbeziehungen im Juli 2024
Die türkische Armee rückt immer weiter im Nord-Irak, Südkurdistan vor. Was lässt sich aus der Sicht vor Ort zum Verlauf dieser Invasion sagen?
Diese Operation hat am 16. April begonnen, sechs Tage vor Erdoğans Besuch in Bagdad. In den letzten Wochen hat die türkische Armee diese Operation ausgeweitet und ist noch tiefer in das irakische Gebiet und die Region Kurdistan vorgedrungen. Sie haben zahlreiche Kontrollpunkte eingerichtet und halten dort Zivilisten fest und verhören sie.
Laut einem CPT-Bericht1 wurden in den letzten Monaten 238 Gebiete bombardiert und ca. 6800 ha landwirtschaftliche Fläche in Schutt und Asche gelegt. Die Menschen aus 602 Dörfern sind von der Vertreibung bedroht, aus 162 Dörfern wurde die Bevölkerung bereits vertrieben. Ihre Heimatorte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Seit Beginn dieses Jahres zählt das CPT 1700 Angriffe.
Dies alles vor dem Hintergrund der Angriffe im Jahr 2023, in dem 1548 Bombardierungen gezählt wurden. Im Vergleich zum letzten Jahr haben die Angriffe deutlich zugenommen. Wir sehen eine erschreckende und nicht zu leugnende Eskalation von Artillerieangriffen, Drohnenangriffen und Angriffen aus Helikoptern. Bis heute haben 8 Zivilist:innen ihr Leben verloren und viele wurden verletzt.
In den einmarschierenden Kampfeinheiten der türkischen Armee befinden sich viele dschihadistische Kämpfer. Die Armee eines NATO Staates lässt unter ihrer Flagge ehemalige Mitglieder des IS, von al Nusra und al Qaida kämpfen – dschihadistische Kämpfer aus vielen verschiedenen Ländern. Offizielle Vertreter der YNK2 sprechen von 300 identifizierten ehemaligen IS Mitgliedern in den türkischen Militärstrukturen.
Dies bestätigen auch Kämpfer:innen der kurdischen Freiheitsguerilla. Sie hören Soldaten auf Arabisch sprechen, rufen und treffen auf sie im Nahkampf.
Welche militärischen Taktiken setzt der türkische Staat ein?
Eine Taktik der kurdischen Freiheitsguerilla ist inzwischen sehr bekannt: Sie benutzt Kriegstunnel, um sich vor Luftangriffen zu schützen und um die türkische Armee anzugreifen. Einige dieser Tunnel wurden von der türkischen Armee entdeckt und sie versucht, in diese Tunnel einzudringen. Aber türkischen Soldaten werden dafür nicht eingesetzt. Die türkische Armee bedient sich dafür verschiedener Taktiken:
– Sie setzt mit Sprengstoff beladene Drohnen ein.
– Sie setzt Hunde mit Sprengstoffgürteln ein. Der Sprengstoff wird mit Hilfe von Fernsteuerung zur Explosion gebracht.
– Sie setzt Dschihadisten als Selbstmordattentäter ein. Diese Kämpfer werden in die Tunnel geschickt um sich dort selbst in die Luft zu sprengen.
Abdul Rahman Mustafa, der Anführer der so genannten Freien Syrischen Armee oder Syrischen Nationalen Armee unter der Kontrolle der Türkei, twitterte im März diesen Jahres, dass sie die türkische Armee bzw. den Nordirak unterstützen würden. Das lässt sich als offizielle Bestätigung bzw. als Eingeständnis eines der hochrangigen Mitglieder dschihadistischer Kräfte verstehen, dass sie unter der Kontrolle der türkischen Armee an den Kämpfen beteiligt sind. Allerdings hat Mustafa seinen Eintrag auf X später wieder gelöscht. Wahrscheinlich, weil die darauf erfolgten Reaktionen nicht erwünscht waren.
Ein weiterer Aspekt dieser türkischen Invasion ist der Einsatz chemischer Waffen, thermobarischer Bomben3 und der Einsatz anderer verbotener Waffen.
Da es nicht gelungen ist, die Kontrolle über die Tunnel mit den oben beschriebenen Taktiken zu bekommen, setzt die türkische Armee chemische Waffen ein. Sie werden in die Tunnel gepumpt, um die Guerrillakämpfer:innen darin zu töten. Das geschieht täglich dutzendmal. Anhand von Überresten dieser Bomben haben wir ihren Einsatz dokumentiert.
Außerdem verwendet das türkische Militär eine Art von Sprengstoff mit sehr starker Sprengkraft, stärker als bei thermobarischen Bomben.
Nun haben die kurdischen Kämpfer:innen eine Umschreibung dafür entwickelt, denn sie wissen nicht, um welche Art von Sprengstoff es sich handelt, aber er hat die Zerstörungskraft einer Atombombe. Die Freiheitsguerillas nennen sie taktische Nuklearwaffen.
Wie kann türkisches Militär – ohne auf Widerstand zu stoßen – in den Irak einmarschieren?
Wir sprechen von zehntausenden türkischen Soldaten, hunderten von Panzern, gepanzerten Fahrzeugen, von Drohnen und Radargeräten, die, ausgestattet auch mit den oben erwähnten Waffen, im Nordirak täglich im Einsatz sind. Sie dringen über die Grenze in den Nordirak ein, und die irakischen Grenzschützer, die irakische Armee schauen zu.
In einem Sicherheitsabkommen zwischen dem irakischen Staat und der Türkei wird die Entsendung irakischer Grenzschutztruppen an die irakisch-türkische Grenze festgelegt.
Aber diese Soldaten befinden sich nicht an der türkisch-irakischen Grenze. Sie wurden 40 km tief in das irakische Staatsgebiet hinein verlegt und bewegen sich nicht in Richtung Grenze. Sie bewachen quasi die eindringende türkische Armee.
Wie kann ein irakischer Grenzsoldat zusehen, wie türkische Panzerfahrzeuge in sein Gebiet eindringen und Operationen durchführen, Dörfer niederbrennen und sie dem Erdboden gleichmachen? Wir schließen daraus, dass diese Operationen mit dem Einverständnis des irakischen Staates durchgeführt werden.
Übrigens sind diese Grenzsoldaten keine regulären irakischen Streitkräfte. Sie sind alle PDK-Kräfte4, aber sie benutzen als Tarnung ausschließlich die irakische Flagge. Die PDK kollaboriert jetzt vollständig mit der türkischen Armee. Sie baut Straßen für die türkische Armee, errichtet Kasernen für die türkische Armee und erlaubt ihr, die Straßen in Irakisch-Kurdistan (Südkurdistan) zu benutzen, um in die Guerillagebiete vorzudringen. Ohne diese Zusammenarbeit und den Verrat der PDK hätte die türkische Armee nicht so tief in das irakische Gebiet eindringen können.
Wir können sagen, dass diese Gebiete inzwischen informell an das türkische Territorium angegliedert sind.
Welche Absicht steht Ihrer Meinung nach hinter diesem Einmarsch in irakisches Territorium durch die Türkei?
Wie ich in der Antwort auf die letzte Frage dargelegt habe, ist die Invasion und die folgende Annexion dieser Gebiete das Hauptziel der Türkei. Es ist ein langfristiges Ziel des türkischen Staates, seit er nach dem Abkommen von Lausanne gegründet wurde.
Zwei Aspekte sind wichtig für das Verständnis:
Erstens erhebt die Türkei Anspruch auf Gebiete, die vor 100 Jahren Teil des Osmanischen Reiches waren und damit auf Städte wie Mosul und Kirkuk. Die türkische Politik betrachtet diese Gebiete als Teil der Türkei. Die Operationsgebiete der Invasionstruppen sprechen dafür.
Die Türkei hat bereits eine große Militärbasis in der Nähe von Mosul, ca. 15 bis 20 km nördlich der Stadt. Dieser Stützpunkt fungiert als Ausgangsbasis.
Wenn es der Türkei gelingt, in die Gebiete in Behdînan einzudringen, in die Städte von Duhok, in die bergigen Gebiete von Dohuk, dann wird die Türkei in der Lage sein, eine Landbrücke zwischen diesen Gebieten und ihrer Basis in Mosul zu schaffen. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung der Annexion von Mosul und Kirkuk.
Zweitens verfolgt die Türkei das langfristige Ziel einer demografischen Veränderung in Kurdistan.
Kurdistan, das angestammte Land der Kurd:innen, ist auf vier Staaten (Irak, Iran, Syrien und Türkei) aufgeteilt und durch Staatsgrenzen getrennt. Die Menschen auf der einen Seite der Grenze sind kurdisch und auf der anderen Seite der Grenze sind die Menschen ebenso kurdisch.
Die Grenzen teilen Städte, Dörfer und Stämme. Große Bevölkerungsgruppen und sogar Familien wurden geteilt. Diese erzwungene Teilung kennzeichnet Kurdistan.
Die Türkei will diese Trennung zwischen den vier Teilen Kurdistans weiter vertiefen, indem sie eine dschihadistische Pufferzone zwischen den Teilen Kurdistans schafft.
Ein Beispiel: Wenn ein Kurde aus Syrien nach Nordkurdistan (der Teil Kurdistans, der der Türkei zugeschlagen wurde) gehen will, muss er Städte und Gebiete passieren, die von arabischen Dschihadisten, von tschetschenischen Dschihadisten, von turkmenischen Dschihadisten, von Dschihadisten aus der ganzen Welt besiedelt wurden. Gewalt und Vertreibung haben die Demografie verändert und einen die kurdischen Siedlungsgebiete trennenden dschihadistischen Gürtel, bewohnt von ehemaligen Mitgliedern des IS, von al Nusra und al Quaida, geschaffen.
Diese Pufferzone soll nach Erdoğans Plan mehr als 1000 km lang und 30 bis 40 km breit werden. Das ist ein demographischer Wandel in einem strategisch wichtigen Gebiet, das die vier Teile Kurdistans miteinander verbindet. Die Verbindung soll zerstört werden. Das ist Völkermord.
Menschen werden dazu gezwungen, ihr angestammtes Land zu verlassen, Land, auf dem sie seit mehr als 10.000 Jahren gelebt haben. Sie werden durch Menschen ersetzt, die nicht aus diesem Land stammen, durch die Familien dschihadistischer Kämpfer. Das ist Völkermord.
Dazu kommt noch der Ökozid. Zurzeit brennen tausende Hektar Wald und landwirtschaftliche Nutzfläche. Auch das ist Völkermord in Kurdistan.
Was jetzt mit den Kurd:innen geschieht, ist vergleichbar mit dem Verbrechen an den Armenier:innen vor 100 Jahren. Der Völkermord an den Armenier:innen wurde von Menschen begangen, die die gleiche Mentalität und die gleiche Denkweise wie Erdoğan hatten.
Im Zusammenhang mit dieser türkischen Offensive wird in offiziellen Verlautbarungen oft von einer neuen Dimension gesprochen. Was lässt sich darunter verstehen?
Schon in den achtziger, neunziger Jahren und weiteren nach 2000 hat die türkische Armee militärische Operationen auf der irakischen Seite der Grenze durchgeführt. Nach mehreren Monaten zog sich die türkische Armee auf die türkische Seite der Grenze zurück. Die Anzahl der türkischen Kasernen und Militärbasen auf irakischer Seite waren begrenzt.
Heute schauen wir auf eine veränderte Lage:
– Straßen für das Militär wurden tief in das Land gebaut, die Zahl der Kasernen und Militärstützpunkte ist auf 100 gestiegen. Das alles zeigt, dass die Türkei nicht die Absicht hat, sich zurückzuziehen. Wie ich schon erwähnt habe, läuft das auf eine Annexion hinaus.
– Die PDK kooperiert ohne Einschränkung militärisch, wirtschaftlich und politisch mit dem türkischen Staat. Proteste gegen die türkische Invasion werden unterbunden, protestierende Menschen werden verhaftet.
– Die Bewohner der Stadt Şiladize haben vor einigen Jahren den dortigen türkischen Stützpunkt gestürmt und in Brand gesteckt. Die Menschen waren wütend über den türkischen Einmarsch. PDK-Kräfte verhafteten und inhaftierten viele dieser Aktivist:innen und Zivilist:innen. Einige von ihnen sind bis heute in Haft.
– Die Kooperation der PDK geht so weit, dass sie für die türkische Invasionstruppen Spionage betreibt. Sie verrät die Guerilla und Aktivist:innen und macht sie zu Zielen todbringender türkischer Drohnen.
– Die PDK hat ihren Einfluss in der irakischen Regierung genutzt, um die Zustimmung der Regierung zur türkischen Invasion zu bekommen. Offizielle Vertreter des Irak gaben ihre Zustimmung zur Besetzung großer Landstriche, größer als Länder wie der Libanon, Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate, Armenien etc.
Diese Kapitulation des irakischen Staates scheint von den USA unterstützt zu werden, und sie scheinen die Türkei und die Dschihadisten als ihre Verbündeten zu betrachten.
Die kurdische Freiheitsbewegung hat in der Vergangenheit häufig einen Waffenstillstand angeboten. Wie kann es zu dieser aktuellen militärischen Eskalation kommen?
Die Philosophie und Ideologie der Bewegung beruht auf drei Hauptpfeilern: Demokratie, Ökologie, d.h. Umweltbewusstsein und der Emanzipation der Frauen.
Inspiriert von der Philosophie Abdullah Öcalans ist das Ziel die Schaffung einer freien und demokratischen Gesellschaft.
Die Freiheitsbewegung Kurdistans wurde ursprünglich gegründet, um den Kampf gegen die Verleugnungs- und Vernichtungspolitik des türkischen Staates, d.h. gegen den kulturellen und politischen Völkermord am kurdischen Volk, zu führen.
Die Strategie der Bewegung in den ersten Jahren nach ihrer Gründung waren friedliche Proteste und die Organisierung der Menschen. Sie sollten ihre eigenen Rechte durch friedliche Demonstrationen und mit friedlichen Mittel einfordern.
Doch nach dem Militärputsch von 1980 und den unmenschlichen Folterungen im berüchtigten Gefängnis von Amed (türkisch Diyarbakir), entwickelte die Bewegung eine Strategie der legitimen Selbstverteidigung und führte ab dem 15. August 1984 einen militärischen Kampf gegen den türkischen Staat.
Nach neun Jahren militärischen Kampfes kamen wir zu dem Schluss, dass der militärische Kampf seinen Zweck erfüllt hat und das kurdische Volk die Phase des Völkermords, der Verleugnung und der Vernichtung hinter sich gebracht hat.
Die kurdische Freiheitsbewegung erklärte einen Waffenstillstand und wollte die kurdische Frage durch demokratische Politik lösen.
Aber diese Aufrufe zum Waffenstillstand, sogar verbunden mit dem Rückzug der bewaffneten Kräfte, stieß auf taube Ohren. Es gab mehr als zehn Aufrufe für einen Waffenstillstand und zweimal haben sich bewaffnete Kräfte aus Nordkurdistan, Bakur, zurückgezogen. Aber der türkische Staat bestand auf militärischen Operationen, bestand auf außergerichtlichen Tötungen, um die kurdische Freiheitsbewegung einzudämmen.
1999 schmiedeten die Vereinigten Staaten, Israel, Großbritannien und einige andere NATO-Mitgliedsländer eine internationale Verschwörung gegen den Vorsitzenden der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) Abdullah Öcalan. In einer gemeinsamen Aktion wurde er aus Nairobi in Kenia entführt und an die Türkei ausgeliefert. Das verhängte Todesurteil wurde später in eine verschärfte lebenslange Haftstrafe umgewandelt.
Mit welcher ideologischen Basis führt die kurdische Freiheitsbewegung diesen Kampf?
Im Gefängnis, auf der Gefängnisinsel Imrali, hat Abdullah Öcalan viel geforscht und nachgedacht und sein politisches Paradigma geändert.
Er verabschiedete sich von einer Ideologie, die davon ausgeht, dass Freiheit, Frieden und Demokratie durch den Staat und durch den Nationalstaat ermöglicht werden.
Stattdessen entwickelte er ein gemeinschaftsbasiertes Paradigma, das vorsieht Freiheit, Frieden und Demokratie durch die Organisation der Menschen in Dörfern, Städten, Stadtvierteln und Provinzen, durch Kommunen, Versammlungen, Kongresse und andere Formen von konföderalen Einheiten zu erreichen.
In seinen Gefängnisschriften teilte er dieses neue Paradigma mit seiner Bewegung, dem kurdischen Volk und allen anderen unterdrückten Völkern der Welt.
Anstelle des Nationalstaats entwickelte er die Konzepte der demokratischen Nation und des demokratischen Konföderalismus.
Die kurdische Freiheitsbewegung hat sich dieses neue Paradigma zu eigen gemacht und sich neu organisiert, um dieses Ziel zu erreichen und um für dieses Ziel zu kämpfen.
Die Kurd:innen können Freiheit erreichen und ihre eigene Demokratie aufbauen, ohne notwendigerweise einen eigenen Staat zu errichten. Die demokratische Selbstverwaltung innerhalb eines Staates ist der Weg.
Zu dem Zeitpunkt unseres Interviews ist Abdullah Öcalan seit 25 Jahren, vier Monaten und 21 Tagen ununterbrochen im Gefängnis, und in den letzten 39 Monaten lebte er unter totaler Isolation.
Weder seine Anwälte noch seine Familienangehörigen können ihn besuchen.
Seit dem 25. März 2021 gibt es keine Nachricht, keine einzige Nachricht von ihm.
Er wurde seines völkerrechtlich verbrieften Rechts auf Hoffnung beraubt und immer wieder mit fingierten Disziplinarstrafen belegt.
In seinem Fall wurde jedes nationale und internationale Recht mit Füßen getreten und alle universellen ethischen und moralischen Werte missachtet.
Sein Schicksal spiegelt das Schicksal seines Volkes und das Schicksal aller unterdrückten Menschen wider.
Die Ideologie Abdullah Öcalans bildet die Grundlage der Revolution in Rojava. Welchen Einfluss darauf haben die vielen Jahre, die Öcalan in Syrien verbracht hat?
Monate vor dem Militärputsch in der Türkei 1980 wanderte Abdullah Öcalan, begleitet von einem Genossen, nach Syrien und in den Libanon aus. Seine erste Station in Syrien war die Stadt Kobane und von dort führte ihn der Weg in den Libanon, nach Beirut. Im Libanon knüpfte er Beziehungen zu den palästinensischen Gruppen und beteiligte sich am Widerstand der palästinensischen Gruppen gegen die israelische Invasion im Libanon. Von dort aus kämpfte er 19 Jahre lang für die Befreiung Kurdistans. In dieser Zeit hat er das kurdische Volk in Rojava-Kurdistan (West-Kurdistan) ausgebildet und organisiert.
Sein Kampf war ein doppelter Kampf:
Erstens entwickelte er das Selbstbewusstsein der Menschen in Rojava in Bezug auf ihre natürliche und kulturelle Identität und brachte die Menschen in Rojava zusammen. Sie waren durch den arabischen Gürtel und durch die vom Baath-Regime erzwungenen demografischen Veränderungen gespalten. All diese organisatorischen Aktivitäten wurden trotz der Repression des syrischen Regimes durchgeführt. Es gelang ihm, ein empfindliches Gleichgewicht zu halten, um die repressiven Maßnahmen des syrischen Regimes zu vereiteln.
Zweitens hat er die national und kulturell bewusste Bevölkerung von Rojava dazu gebracht, den Kampf in Nordkurdistan zu unterstützen. Tausende von Jugendlichen aus Rojava wurden zunächst in den Dörfern und Städten organisiert und ausgebildet. Sie schlossen sich dem Guerillakampf an und kämpften in Nordkurdistan. Tausende von jungen Menschen aus Rojava, Männer und Frauen, ließen im Kampf der Guerilla ihr Leben.
Dieser Kampf schuf eine starke Verbindung zwischen Rojava und Nordkurdistan und es entwickelte sich ein gemeinsames nationales politisches Bewusstsein sowie eine gemeinsame politische Haltung. Abdullah Öcalan versuchte alle Städte, alle Dörfer, alle Familien und sogar alle Einzelpersonen in Rojava-Kurdistan zu erreichen.
Dies hat ein starkes nationales, soziales, kulturelles und sagen wir, philosophisches Band zwischen ihm und dem Volk von Rojava geschaffen. Ein vernachlässigtes und gespaltenes Volk hat sich um ihn geschart und sich verpflichtet, mit ihm den Kampf zu führen.
Diese organisatorische Einheit und das Engagement für den Kampf bilden die Grundlage für die Revolution in Rojava im Jahr 2012.
Die Menschen in Rojava hatten sich schon lange vor dem Arabischen Frühling, vor allem im Jahr 2004, gegen das Baath-Regime erhoben.
Am 12. März 2004 kam es in Qamislo zu einem Volksaufstand gegen das Regime. Das Regime schlug mit großer Härte zurück. Es gab Tote, viele Verletzte und zahlreiche Menschen wurden verhaftet. Viele verloren später durch die Folter in der Haft ihr Leben und wurden zu Märtyrern.
Die Revolution in Rojava kann auf ein Erbe an Bildung, Organisation, Kultur und nationalem Kampf zurückgreifen.
Der Krieg in Palästina bekommt im Moment sehr viel Aufmerksamkeit in der internationalen Öffentlichkeit. Welchen Zusammenhang sehen sie zwischen dem Kampf der Palästinenser:innen und den Kurd:innen?
Der Kampf, der jetzt in den Bergen Kurdistans gegen die einmarschierende türkische Armee geführt wird, ist eine Fortsetzung des Kampfes gegen den IS im Irak und in Syrien, denn ideologisch gibt es keinen Unterschied zwischen Erdoğan und Abu Bakr al Baghdadi.
Baghdadi hat zuerst Mosul eingenommen, und dieses Ziel hat Erdoğan heute. Erdoğan greift all die Orte an, die Zentren des Widerstands gegen den IS waren.
Er greift Şengal an, er greift Kobane an, er greift die Kandil-Berge an, die Heimat derer, die den Kampf gegen den IS im Untergrund inspiriert und organisiert haben. Erdoğans Armee ist der IS in NATO-Uniformen.
In den letzten Tagen beschuldigte Erdoğan Netanjahu, einen Völkermord an den Palästinenser:innen zu begehen und Netanjahu wirft Erdoğan vor, einen Völkermord an den Kurd:innen zu begehen.
In der Tat ist das, was diese beiden Männer sich gegenseitig vorwerfen, bis zu einem gewissen Grad richtig. Beide sind von den Kräften der kapitalistischen Moderne beauftragt worden, zwei Völker zu eliminieren, die Kurd:innen und die Palästinenser:innen.
Wie Netanjahu gegen die Palästinenser:innen handelt, ist vergleichbar mit der Haltung Erdoğans und seinem Kampf gegen die Kurd:innen.
Es gilt, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Gräueltaten des Erdoğan-Regimes zu lenken, auf die völkermörderischen und umweltzerstörerischen Verbrechen, die dieses Regime gegen das kurdische Volk und sein Land, Kurdistan, begeht.
Der Kampf in Palästina und Kurdistan ist ein Kampf, der Kampf zweier Völker gegen Völkermord und Vernichtung.
Beide Kämpfe brauchen die Unterstützung der Jugend, der Frauen auf der ganzen Welt, der demokratischen Kräfte, der Intellektuellen, der Studenten, der Gewerkschaften, der Arbeiter, aller Menschen.
Die Menschen müssen sich gegen Erdoğan zusammenschließen, so wie sie sich gegen den IS zusammengeschlossen haben, so wie sie sich jetzt gegen die völkermörderischen Angriffe in Palästina zusammenschließen.
Gegen das türkische Regime kann überall mit vielen verschiedenen Mitteln protestiert werden.
Türkische Waren und Güter können boykottiert werden, weil sie die Geldquelle für Erdoğans Kriegsmaschinerie, für Erdoğans völkermordende Armee sind.
Es können Delegationen gebildet werden, die Kurdistan besuchen und sich mit eigenen Augen vom Ausmaß der Umweltzerstörung und vom Völkermord in Kurdistan überzeugen.
Freie Journalist:innen können mehr Licht auf die Gräueltaten Erdoğans in Kurdistan werfen.
Revolutionäre Jugendliche, revolutionäre Menschen, Männer und Frauen können kommen und sich dem Kampf in den Bergen Kurdistans anschließen.
Kurdistan ist deine Heimat.
1 Die CPT (Community Peacemaking Teams) ist eine zivilgesellschaftliche Organisation, die im Irak und in der Region Kurdistan aktiv ist. http://www.cpt.org
2 Auch Patriotic Union of Kurdistan genannt, eine politische Partei in Südkurdistan
3 Auch Vakuumbomben genannt. Siehe auch: https://anfdeutsch.com/kurdistan/einsatz-thermobarischer-bomben-gegen-guerilla-dokumentiert-42332
4 Auch KDP. Von der Familien Barsanî beherrschte Partei in Südkurdistan
Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024