Der Einfluss demografischer Veränderungen, wirtschaftlicher Interessen und militärischer Interventionen auf die Situation in Südkurdistan
Das Wohl der Bevölkerung ist nie das Motiv
Ein Beitrag von
Avesta Lawlaw – Studierende, Internationale Beziehungen, Universität Silêmanî (arab. Sulaimaniyya)
Rêbîn Bekir – Journalist, Übersetzer und Menschenrechtsaktivist aus Silêmanî (arab. Sulaimaniyya)
Am 23. August 2024 wird in Seyîdsadiq bei Silêmanî ein mit Medienschaffenden besetztes Auto von einer Drohne bombardiert, die Journalistinnen Gulistan Tara und Hêro Bahadîn kommen ums Leben. Rêbîn Bekir wird schwer verletzt.
Seit über einem Jahrhundert beeinflussen demografische Manipulation, wirtschaftliche Interessen und militärische Interventionen internationaler wie regionaler Mächte die Entwicklungen in Südkurdistan. Das Wohl und der Fortschritt der kurdischen Bevölkerung sind hierbei bis heute nie ein Motiv gewesen. In einer knappen Zusammenfassung werden ausschlaggebende Ereignisse und Prozesse dargelegt, die zur aktuellen Situation in Südkurdistan geführt haben und die heute zu einer Bedrohung für die gesamte Weltgemeinschaft werden können.
Die Geschichte der Kurd:innen ist eine Geschichte des Widerstands
Die kurdischen Gebiete liegen in Mesopotamien, dem Land, in dem die neolithische Revolution stattfand. Es war der Ort, an dem die bedeutendste Revolution der Menschheit und ihre Gesellschaftswerdung ihren Anfang nahm; das Land, in dem die Pflanzen- und Tierzucht entwickelt wurde und die sesshafte Zivilisation entstand. In dieser reichen Geschichte war die Region immer wieder Schauplatz von Konflikten, Angriffen, Besatzungen und der Aufteilung Kurdistans unter der Herrschaft von vier Nationalstaaten. Dennoch wurde sie zu einem Brennpunkt des Widerstands – das kurdische Volk hat Unterdrückung ertragen, doch stets gekämpft.
Kurdische Kultur zwischen Besatzung und Widerstand
Die kurdische Geschichte ist geprägt von einer Kultur der Kunst und des Gesangs, die als Mittel zum Überleben und zum Schutz der eigenen Identität eingesetzt wurde – so wurden beispielsweise die ungeschriebenen Erfahrungen der Kriege von Generation zu Generation durch mündliche Überlieferungen weitergegeben.
Viele Lieder wurden gesungen, um wichtige Themen des kurdischen Lebens darzustellen: Loyalität, Verrat, Liebe, Ehre, Exil, Besatzung, Frauen und die Natur Kurdistans. Trotz der Versuche der Besatzungsmächte Iran, Türkei, Syrien und Irak, die kurdische Kultur zu assimilieren, sind die reichhaltigen Sprachen, Dialekte und Erscheinungsformen der Kultur erhalten geblieben.
Seit den 1950er Jahren war das Lesen und Schreiben auf Kurdisch in Südkurdistan1 verboten, insbesondere während der Herrschaft des Baath-Regimes2. Kurdische Schriftsteller:innen Intellektuelle und Revolutionäre:innen gründeten in den Bergen Druckereien und begannen, ihre Meinungen, Kurzgeschichten und Gedichte zu artikulieren und zu veröffentlichen. Die irakische Baath-Partei wollte die kurdische Kultur vernichten – viele Dichter:innen und Schriftsteller:innen wurden hingerichtet. Die Baath-Ideologie monopolisierte alle staatlichen Einrichtungen, insbesondere den Bildungssektor und die Medien. Das Regime setzte seine ultranationalistische arabische Ideologie durch und verbreitete sie.
Wirtschaftliche und politische Krisen, ein Grund für die Jugendmigration
Nach dem kurdischen Aufstand von 1991 gegen Saddam Hussein3 und dem daraus resultierenden Machtverlust seines Regimes in den kurdischen Gebieten nahm die Bevölkerung an den Wahlen teil. In der Hoffnung auf eine neue Ära des Aufschwungs und der neuen Chancen, bildete sie eine kurdische Regierung. Doch diese Träume verflüchtigten sich bald; die Dunkelheit überkam sie, die Mütter trugen wieder ihre schwarzen Trauerkleider und ihre Augen quollen über vor Tränen: Tausende kurdische Jugendlichen wurden in den 1990er Jahren im Zuge des Bürgerkriegs, der durch alten Familien-Hass zwischen den kurdischen Parteien4 (PDK5 und YNK6) ausbrach, getötet oder sind verschwunden.
Der kurdische Bürgerkrieg hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Situation der jungen Menschen. Er führte zu Auswanderungswellen – diesmal nicht wegen der ausländischen Besatzer, sondern wegen der lokalen Kriegsparteien – die Jugendlichen fürchteten, im Krieg zwischen den beiden Regierungsparteien getötet zu werden. Intellektuelle, Dichter:innen, Schriftsteller:innen und junge Menschen wanderten in europäische Länder aus.
In den folgenden Jahren, insbesondere im Jahr 2003, erlebte die Region weitere bedeutende Veränderungen. Die USA und ihre Verbündeten marschierten in den Irak ein und stürzten das Regime von Saddam Hussein. Die Zerschlagung der Baath-Regierung brachte das Ende des brutalen Feindes der Kurd:innen mit sich.
Die Iraker:innen zahlten einen hohen Preis für die von den USA angeführte Invasion und Besetzung des Landes – mehr als eine halbe Million Zivilist:innen wurden innerhalb weniger Jahre nach der Invasion getötet. Im Irak entstanden schiitische Milizen, und die Wirtschaft wurde von der Landwirtschaft auf die Abhängigkeit vom Öl umgestellt.
Nach einem Jahrhundert blutiger Auseinandersetzungen mit den irakischen Regierungen beteiligten sich die Kurd:innen an der neuen Regierung und erhielten zahlreiche Positionen in militärischen und zivilen Einrichtungen. Die bemerkenswerteste ist das Amt des irakischen Staatspräsidenten, das seit 2005 von Celal Talabanî (2005-2014), Fuad Mesûm (2014-2018), Berhem Salih (2028-2022) und Ebdul Letîf Reşîd (seit 2022) nacheinander ausgeübt wurde.
Die Wirtschaft Südkurdistans entwickelte sich deutlich. Zum ersten Mal wurde Öl unter kurdischer Aufsicht verkauft. Doch die Hoffnung auf einen Wandel währte nicht lange und die Wirtschaft Kurdistans wurde zu einer Katastrophe für die Menschen dort. Die Gewinne aus den Öleinnahmen wurden von den beiden Regierungsparteien PDK und YNK monopolisiert und nicht zum Wohle des Landes genutzt. Im Jahr 2014 wurde mit Hilfe US-amerikanischer Unternehmen damit begonnen, Öl von den Ölfeldern in der Region Kurdistan über die Kerkûk-Ceyhan-Ölpipeline zum türkischen Hafen Ceyhan und von dort aus zu den Weltmärkten zu leiten.
Der Ölexport wurde zu einem Familiengeschäft zwischen den Familien Barzanî7 und Erdoğan. Fünfzig Jahre lang wurden Ölverträge zwischen den beiden Familien abgeschlossen und Milliarden von Dollar verdient, doch die Beamt:innen erhielten ihre Löhne nicht. Später reichte der Irak vor dem Internationalen Schiedsgerichtshof in Paris Klage gegen den Handel mit Öl zwischen der Türkei und der KRG ein. Der irakische Staat gewann den Prozess, und die Türkei wurde zur Zahlung von 1,4 Milliarden Dollar Entschädigung an den Irak verurteilt.
Im selben Jahr tauchten die »IS«-Kämpfer8 auf und verschärften die Krise. Sie kontrollierten weite Teile Iraks und Syriens und besetzten die zweitgrößte Stadt des Irak, Mosul. Die »IS«-Söldner starteten Angriffe auf kurdische Gebiete; Kurdistan als Ganzes sah sich zusätzlich zu den wirtschaftlichen und politischen Krisen einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt, die das Leben für seine Bevölkerung noch mühsamer machte.
Anstatt wirtschaftliche Infrastruktur aufzubauen, diejenigen Institutionen, die Dienstleistungen für die Bevölkerung erbringen, zu stärken und die Regierung zu modernisieren, verheimlichten die beiden Regierungsparteien ihre Ölverträge vor dem Parlament und der Bevölkerung, und die Einnahmen flossen nicht in die öffentliche Kasse zurück. Diese Realität prägt eine schwierige wirtschaftliche Situation, die sich unter anderem in einem unzureichenden Gesundheitssystem und dem Fehlen grundlegender Dienstleistungen niederschlägt.
Diese Instabilität hält an und die Krise verschärft sich von Tag zu Tag. Kinder arbeiten auf der Straße und haben keine Möglichkeit, eine »normale« Kindheit zu erleben. Junge Menschen und sogar Hochschulabsolvent:innen profitieren nicht von den wirtschaftlichen Erträgen der Ölindustrie, was neben dem Mangel an Arbeitsplätzen zu einer Fülle schwerwiegender wirtschaftlicher Probleme führt. Selbst der private Sektor war nicht in der Lage, Erwachsenen mit Hochschulabschluss ausreichend Möglichkeiten zu bieten. Universitäten und Hochschulen haben den Studierenden nicht die Möglichkeiten oder Fähigkeiten für eine selbständige Tätigkeit vermittelt. Infolgedessen nahmen und nehmen arbeitslose Hochschulabsolvent:innen Jobs an, die weit von ihrem Fachgebiet entfernt sind, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auf der Suche nach einem besseren Leben hat eine weitere Welle junger Menschen damit begonnen, ins Ausland auszuwandern. Hierbei riskieren sie oft ihr Leben, denn sie sagen, dass sie entweder sterben oder ein besseres und stabileres Leben erreichen werden.
Die kurdische Regionalregierung (KRG) hat den Menschen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung genommen, wobei Drohungen gegen und Verhaftungen von Aktivist:innen an der Tagesordnung sind. Insbesondere die Verhaftung zahlreicher Journalist:innen und Aktivist:innen, die die Regierung kritisieren, führt zur Verbannung aus dem Land.
Südkurdistan befindet sich derzeit in einer herausfordernden Situation. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum der Autonomen Region Kurdistan im Jahr 2017 wurden 51 % ihres Territoriums von der irakischen Zentralregierung übernommen. Sowohl aus der Zeit, als die Regionalregierung Kurdistans Öl verkaufte als auch aus der Zeit, als der Ölexport durch das irakische Bundesgericht gestoppt wurde und Bagdad das Öl verkaufte, blieben Beamt:innen bis heute unbezahlt.
Die Angestellten, insbesondere die Lehrer:innen, streiken häufig in ihren Klassenzimmern und an ihren Arbeitsplätzen. Die nicht erfüllten Forderungen und die anhaltenden Boykotte führen zu einer Instabilität des Bildungssystems, sodass Tausende von Schüler:innen die Schule abgebrochen haben. Gleichzeitig besteht die Besatzung fort – das türkische Militär hat inzwischen die Region Behdînan in Südkurdistan besetzt und die türkische Regierung strebt die Annektion von insgesamt 40 % der Autonomen Region Kurdistan an. In dem Gebiet wurden zahlreiche Militärstützpunkte eingerichtet, Hunderte von Dörfern wurden evakuiert und zahlreiche Angriffe wie die Operationen »Blitzklaue« und »Adlerklaue« wurden in dem Gebiet durchgeführt.
In der Folge wird die Jugend in den vom Krieg betroffenen Gebieten weiter zur Abwanderung ins Ausland animiert. Die Dörfer sind jedoch der wichtigste Produktionsstandort für die einheimische Wirtschaft. Diese Form der Produktion ist aufgrund des Krieges und des demografischen Wandels durch Landflucht und Auswanderung zurückgegangen, was zu einer Unterbrechung der Wirtschaftskette und zu weiteren Problemen bei der Sicherung des Lebensunterhalts führt.
Trotz der militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Besatzung Kurdistans durch den türkischen Staat und der Verletzung der irakischen Souveränität schweigen die Regionalregierung Kurdistans und die Zentralregierung Iraks.
Die Bevölkerung Südkurdistans befindet sich in einer kritischen Situation und es müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden, um die Unterdrückung zu beenden. In den nördlichen Bezirken Südkurdistans werden die Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. In den südlichen Bezirken wie Kerkûk und Xaneqîn wird eine Arabisierung der Bevölkerung betrieben, indem beispielsweise das Land kurdischer Bäuer:innen von arabischen Kräften, die das Land übernehmen wollen, in Brand gesetzt wird. Gleichzeitig leidet die Region Kurdistan im Irak unter einer drastischen Wirtschaftskrise. Insgesamt schaffen die sich überlagernden Faktoren ein günstiges Umfeld für das Wiederauftauchen extremistischer Gruppierungen, die sowohl in Kurdistan als auch in der internationalen Gemeinschaft zu einer Bedrohung werden können.
1 Das kurdische Siedlungsgebiet in Mesopotamien ist durch die Nationalstaaten Türkei, Syrien, Irak und Iran zertrennt. Südkurdistan liegt im Norden des irakischen Staatsgebiets.
2 Die Baath-Partei ist eine politische Partei, die mit Ablegern in zahlreichen arabischen Ländern aktiv ist. Die Ideologie des Baathismus verbindet nationalistischen Panarabismus und revolutionären Säkularismus mit den Elementen eines arabischen Sozialismus. Im Laufe der Zeit bildeten sich eine syrische und eine irakische Partei heraus, die sich untereinander befehdeten. Nach 40 Jahren Herrschaft im Irak (1963–2003) ist der Baathismus heute nur noch in Syrien Staatsideologie. Als die Baath-Partei im Irak an der Macht war, folgten Massenhinrichtungen und willkürliche Verhaftungen, vor allem von kommunistischen und anderen linksgerichteten Intellektuellen. Besonders nachdem Saddam Hussein 1979 an die Macht gelangt war, kam es zu massiven Menschenrechtsverletzungen, denen auch viele Baathist:innen zum Opfer fielen.
3 Der Aufstand im Irak 1991, auch Raperîn (kurdisch »Aufstand«), ereignete sich während und kurz nach dem Zweiten Golfkrieg im März 1991. Eine Folge dieses Aufstandes war die faktische Autonomie der Kurd:innen im Nordirak und die Schaffung der Autonomen Region Kurdistan (KRG).
4 »Süd-Kurdistan in einem noch nicht erklärten Krieg«, KR 230, S. 36.
5 PDK – Partiya Demokrata Kurdistanê, Demokratische Partei Kurdistans, auf Deutsch häufig auch KDP abgekürzt.
6 YNK – Yekîtiya Nîştimanî ya Kurdistanê, Patriotische Union Kurdistans, auf Deutsch häufig PUK abgekürzt.
7 Der Familienclan der Barzanî bestimmt die Partei PDK. Zusammen mit dem Familienclan der Talabanî (YNK) teilt er sich faktisch die politische Macht über die Autonome Region Kurdistan.
8 »Islamischer Staat, kurdische (Un-)Abhängigkeit und das Versagen des Nationalstaatsparadigmas«, KR 175, S. 15.
Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024