Trotz widrigster Umstände: Zapatistas feiern den Aufstand in Chiapas

Wir leben. Das heißt: Wir widerstehen.

Jan Klein, Aktivist für Basisdemokratie


Ein Besuch der Feierlichkeiten zum Jubiläum des Aufstandes von 1994 gibt Gelegenheit zu aktuellen Einblicken in die Realitäten im Süden Mexikos. Während Repression und Gewalt massiv zunehmen, gestalten die Zapatistas ihre Selbstverwaltung radikal um.


Die Einladung

Fast zwei Jahre lang war von den Zapatistas öffentlich kaum etwas zu vernehmen. Im Sommer und Herbst 2021 hatten rund 270 Vertreter:innen der Organisation fast alle Länder Europas bereist. An hunderten von Orten haben sie sich mit unzähligen Gruppen und Organisationen getroffen, um das Europa »von links und unten« kennen zu lernen. Seitdem gab es jedoch nur wenige Äußerungen über die offiziellen Kanäle, die sich vor allem auf aktuelle Anlässe bezogen.

Im Herbst letzten Jahres durchbrachen die Zapatistas diese Phase des Schweigens mit einer ganzen Serie von Kommuniques1. Sie zeichnen ein düsteres Bild von der Lage in Mexiko und auf der Welt. Zudem gaben sie bekannt, die Organe ihrer politischen Selbstverwaltung, die »Räte der guten Regierung« aufgelöst zu haben. Sie skizzierten eine neue Form der Selbstverwaltung, und schließlich luden sie ein zum 30-Jährigen Jubiläum des »Aufstands gegen das Vergessen«.

Was es zu feiern gibt

Am ersten Januar 1994 wurde die Welt vom Aufstand in Chiapas, einem vergessenen Winkel Mexikos, total überrascht. Die am stärksten marginalisierten Gruppe des Landes – Indigene in jenem südlichsten und ärmsten Bundesstaat – trat in der Silvesternacht ans Licht der Öffentlichkeit. Organisiert in der Guerrilla EZLN2 entwaffneten sie in dieser Nacht und den folgenden Tagen die herrschenden Großgrundbesitzer, nahmen die vier größten Städte der Region ein, stürmten Polizeiwachen und Armeeposten. Sie erklärten dem mexikanischen Staat den Krieg. Die folgende Gegenoffensive der Armee kostete über hundert Menschen das Leben, bis eine massive und unerwartete Mobilisierung der mexikanischen Zivilgesellschaft einen Waffenstillstand erreichte.

Die folgenden Friedensverhandlungen brach die EZLN später ab, da die Regierung Zusagen nicht einhielt und weiter Angriffe ausführte. Den Waffenstillstand halten die Zapatistas allerdings bis heute aufrecht. Einer anhaltenden Strategie der Aufstandsbekämpfung, die sich mal brutaler, mal subtiler zeigt, begegnen sie immer wieder mit zivilen Initiativen.

In ihren eigenen Gebieten fokussieren sich die Zapatistas auf den Ausbau ihrer Autonomie in allen Lebensbereichen und verweigern sich beharrlich der Kooperation mit staatlichen Strukturen. Sie organisieren Ernährung, Gesundheit, Bildung von unten und verwalten sich politisch selbst. Dabei arbeitet die Organisation konsequent daran, die Bevölkerung zu befähigen, sich selbst zu regieren.

Die Strahlkraft, die die Zapatistas auf progressive Gruppen quer durch die Lager ausüben, nutzen sie seit 1994 immer wieder dazu, diese Gruppen miteinander ins Gespräch und in gemeinsames Handeln zu bekommen. So wurden sie auch international zu einem wichtigen Kristallisationspunkt, unter dessen Einfluss sich weitere Strukturen entwickelten. Zu nennen sind zum Beispiel die mexikanische Vereinigung indigener Völker CNI, Peoples Global Action, die Antiglobalisierungsbewegung der 2000er Jahre, das Nachrichtennetzwerk indymedia, aber auch lokale Initiativen wie etwa eine migrantische nachbarschaftliche Basisorganisierung in New York3.

Die Delegation

Verschiedene Gruppen, die 2021 in Deutschland miteinander gearbeitet haben, um die zapatistischen Delegierten zu empfangen, fanden sich ab November 2023 in Onlinekonferenzen wieder zusammen. In Abstimmung mit Gruppen in anderen europäischen Ländern wurde eine Delegation zusammengestellt um der Einladung aus Chiapas zu folgen. Denn, so hatte es die EZLN formuliert: »Wenn ihr kommt, müsst ihr euch dafür sehr gut organisieren«.

Insgesamt sind wir knapp 40 Menschen in der Delegation, zum größten Teil aus Deutschland, aber auch aus Griechenland, Frankreich, Dänemark, Slowenien, England und Finnland. Wir nehmen nicht nur an den Feierlichkeiten teil, sondern wir haben auch noch die Gelegenheit, lange Gespräche mit Vertreter:innen der zapatistischen Führungsebene und mit verschiedenen lokalen Regierungsräten zu führen.

Kurz vor Weihnachten sammeln sich die ersten Ver­treter:innen aus Deutschland in einem Zentrum in Mexiko-Stadt, um dort auf die Weiterreise zu warten. Die Zeit, die mit den nötigen Abstimmungen und Vorkehrungen vergeht, nutzen wir auch, um zwei Initiativen in der Stadt zu besuchen. Am ersten Weihnachtstag ist die Gruppe auf rund zwanzig Menschen gewachsen und bricht mit weiteren zwanzig Genoss:innen aus Mexiko in einem ersten Bus nach Chiapas auf. Dort folgt zunächst ein mehrtägiger Zwischenstop in San Christobal, bevor es endlich das OK gibt, direkt in die zapatistischen Gebiete zu fahren.

Gewalt durchzieht das Land

Die Anreise ist geprägt von hohen Sicherheitsvorkehrungen. Bestimmte Straßen und Gebiete werden umfahren, die Busse begleitet von Beobachter:innen eines Menschenrechtszentrums, unser Standort ständig weitergegeben, auf den letzten hundert Kilometern wird jeder Straßenabschnitt von lokalen Genoss:innen auf Auffälligkeiten geprüft. Waren es vor 20 Jahren vor allem Militärkontrollen, die Unannehmlichkeiten bereiten konnten, so weiß man heute nicht, ob man Paramilitärs, Mitgliedern von Drogenkartellen, Polizei, Militär oder einer beliebigen Kombination von ihnen begegnet.

Schon in Mexiko-Stadt und in den Gesprächen dort wurde deutlich, dass die Gewalt das Land wie eine Epidemie durchdringt. Ein enormes Thema ist das gewaltsame Verschwinden-lassen von Personen. Seit den 70er Jahren betraf dies vor allem linke Aktivist:innen. In den 2000er Jahren wurden besonders in den Grenzstädten zu den USA tausende vor allem junger Frauen »verschwunden gemacht«, wie es in Mexiko heißt. Inzwischen durchzieht dieses Phänomen das ganze Land und betrifft auch Männer. Die offizielle Zählung nennt inzwischen über 113.000 Verschwundene, bei einer Einwohnerzahl von knapp 130 Millionen. Die offensichtliche Ignoranz bis Komplizenschaft staatlicher Strukturen bei diesen Taten hat immer wieder zu wütenden feministischen Protesten geführt und im ganzen Land haben sich Gruppen von Angehörigen gebildet, die auf eigene Faust systematisch auf die Suche gehen – und dabei immer wieder Massengräber entdecken.

Dazu kommt eine erschreckende Normalität von Morden und Schießereien. Soziale oder ökologische Aktivist:innen und kritische Journalist:innen arbeiten in Mexiko schon lange unter Lebensgefahr. Wer auf die eine oder andere Weise wirtschaftliche Interessen von Machtgruppen inner- oder außerhalb des Staates bedroht, gerät schnell buchstäblich ins Visier. In jüngster Zeit ist zu diesen gezielten Attacken allerdings noch eine Form der zufälligen Gewalt hinzugekommen, die regelmäßg völlig Unbeteiligte trifft. Marcos, ein Genosse aus Michoacan beschreibt, dass die allgegenwärtige Drohung der Gewalt all diesen Machtgruppen zugute kommt: Sie zerstört das soziale Gefüge und macht somit Platz für das Recht des Stärkeren.

Diese Machtgruppen bilden dabei ein schwer durchschaubares Geflecht von legalen oder illegalen Wirtschaftsunternehmungen, Regierungsbeamten der verschiedenen Ebenen, Drogenkartellen, den verschiedensten Polizeiapparaten, Militäreinheiten und staatlich gegründeten Paramilitärs. Diese Gruppen sind mal verbündet, mal bekämpfen sie sich, und es ist von außen schwer einzuschätzen, unter wessen Kontrolle eigentlich gerade welche Einheit steht.

In diesem Ambiente reisen wir in die Täler von Ocosingo, ins Herz der Zapatistischen Bewegung, jener Gruppe, die es seit 30 Jahren schafft, sich dieser Gewaltlogik zu entziehen. Und gleichzeitig in ein Gebiet, in dem eine paramilitärische Gruppe seit Monaten immer wieder zapatistische Gemeinden mit Schusswaffen angreift und Menschen entführt.

Die Feierlichkeiten

Vier Tage dauert das Fest in Dolores Hidalgo, so der Name des Caracol, des zapatistischen Versammlungszentrums. Es mögen rund 5-6000 Menschen sein, die hier zusammenkommen. An den ersten zwei Tagen gestalten Zapatistas aus den verschiedenen Regionen des zapatistischen Gebietes das Programm. Wenig geschieht auf der großen Bühne – sondern das meiste auf einem mehrere Hektar großen Platz, an drei Seiten gesäumt von Bankreihen, die von extra gefertigten Dächern aus Holz und Palmwedeln beschattet werden. Einen großen Raum nehmen Theaterstücke ein – nicht selten mit 60 bis 100 Teilnehmenden – und erst spät verstehen wir, dass auf diese Weise die Basis der Organisation ihre Inhalte vermittelt. Sie führen ihre eigene Geschichte und Gegenwart auf: Von den Lebensbedingungen vor dem Aufstand, dem Leben Leibeigenschaft der Großgrundbesitzer. Sie erzählen von der schrittweisen Entwicklung ihrer Selbstorganisation – der autonomia – bis hin zu den aktuellen Veränderungen. Sie beschreiben, wie der Kapitalismus mit seinen Megaprojekten ihre Territorien und das Überleben der Menschheit bedroht. Und sie erklären in großen Szenen, mit Tanz, Kostümen, Bannern und Schildern, ein neues Prinzip: El comun, das Gemeinschaftliche, das Nicht-Eigentum.

Diese Darbietungen werden stets von hunderten Zuschauerinnen verfolgt – die Bankreihen um den Platz sind durchgehend voll besetzt von Zapatistas. Zum Tanz, der zu jeder Nacht hin anschließt, kommen weitere Menschen aus den umliegenden Dörfern hinzu.

Unübersehbar ist die Präsenz der Guerilla auf diesem Fest. Die gesamte Zufahrt und der Eingang ist gesäumt von ­Milician@s4 in der braun-grünen Uniform und mit Pasamontañas, den bekannten Sturmhauben vermummt. Und auch auf dem Gelände befinden sich überall Gruppen von ihnen, mal mit Auftrag, mal als Besucher:innen oder beim Tanz. Waffen bekommen wir keine zu sehen, doch jede*r von ihnen trägt zwei Knüppel und meist noch eine Machete bei sich. Bemerkenswerterweise hat sich niemand aus unserer Gruppe angesichts dieser Menge von Uniformierten und Vermummten unwohl gefühlt.

An den zwei weiteren Tagen wird das Programm von Beiträgen auswärtiger Gruppen bestimmt. Ausstellungen, Workshops, Musik und Tanzdarbietungen füllen die Tage, Tourniere in Fußball, Basketball und Volleyball finden häufig gleichzeitig statt – und an jedem Abend wird zu Livemusik getanzt.

Silvester feiern – zapatistisch

In der Silvesternacht werden wir Zeugen, wie sich zunächst vor der Bühne ein Bataillon von knapp 100 meist jungen Frauen formiert. Davon voll in Anspruch genommen bekommen wir nicht mit, dass sich am anderen Ende des Platzes völlig lautlos hunderte Milicianos in Reih und Glied aufgestellt haben. Was folgt ist eine Parade der zapatistischen Art: zunächst rücken die Frauen vor – im militärischen Schritt, ihre Stöcke im Takt aufeinander schlagend. Doch anstelle von Marschmusik erklingt dazu ein populärer Schlager. Dann rücken auf gleiche Weise die männlichen Milicianos vor, dicht an dicht, in einer Formation, die die gesamte Breite des Platzes ausfüllt, musikalisch begleitet von einer Cumbia5. Schließlich wechselt die Musik zu einem treibenden Ska – die Milicianas brechen aus der Formation und tanzen zu Panteon Rococo6 frei über den Platz, wild die Stöcke schwingend. Zum Ende des Stückes finden sie sich wieder in der Formation ein und die Parade setzt sich diszipliniert fort.

Spät in der Nacht gibt es die einzige politische Ansprache dieser Tage. Subcomandante Moises spricht eine knappe halbe Stunde – zunächst auf Tzeltal, einer der indigenen Sprachen der Region, dann auf Spanisch.

Bereit zur Gegenwehr

Auf der Bühne steht prominent eine Reihe leerer Stühle, und Moises beginnt seine Ansprache mit einer Aufzählung der Abwesenden: Die Buscadoras, also die Frauen, die ihre verschwundenen Angehörigen suchen, die Verschwundenen, die Ermordeten und die Gefallenen des Aufstands.

Die Rede ist kurz und dicht. Sie, die Zapatistas von heute, hätten ihre Aufgabe noch nicht erfüllt. Um zwei Dinge ginge es ihnen: Das Eigentum solle der Bevölkerung gehören, und Allgemeingut sein, und die Bevölkerung solle sich selbst regieren. Der Kapitalismus könne sich nicht humanisieren. Es gebe keine Anleitung für diesen Weg, den sie gehen – es seien die Praxis, die Taten, auf die es ankomme. Sie bräuchten niemanden, der ihnen vorschriebe, was sie zu machen hätten und sie würden niemandem sagen, wie es andernorts zu geschehen hätte. Diesen Weg wollen sie weiter gehen, und diesen Weg würden sie verteidigen. Dabei bezog er sich recht deutlich auch auf eine mögliche Konfrontation mit der mexikanischen Armee.

In sich stark – und doch allein?

Uns wurde deutlich, dass die zapatistische Bewegung trotz aller widrigen Umstände eine enorme Stärke hat. Das schiere Ausmaß der Versammlungszentren und der Feierlichkeiten machte uns deutlich, dass sie weiterhin auf eine enorme Anzahl von Beteiligten zählen kann und dass sie verdammt gut organisiert sind. Auch die Verbesserung der Lebensumstände in den autonom organisierten Gemeinden, der Stand von Gesundheitsversorgung und Bildung, ist beeindruckend.

Gleichzeitig sind anscheinend viele ehemals Verbündete weggebrochen. Die Beteiligung von Gruppen aus der mexikanischen wie auch internationalen Zivilgesellschaft war im Vergleich zu früheren Events doch ziemlich überschaubar. Auch in der Rede des Subcomandante klang dies an: »Wir sind so allein wie vor 30 Jahren.«

Einen wesentlichen Teil zu dieser relativen Isolierung dürfte die Politik des sozialdemokratischen Präsidenten Lopez Obrador beitragen. Viele unserer Gesprächspartner:innen berichten, dass viele ehemals Aktive aus sozialen Bewegungen inzwischen in regierungsnahe Organisationen eingebunden seien. Seit dem Amtsantritt von Lopez Obrador 2018 ist zudem eine intensive Medienkampagne gegen die Zapatistas zu beobachten. Seine Regierung treibt industrielle Großprojekte wie den so genannten Tren Maya7 voran, die von den Zapatistas und anderen indigenen Gruppen abgelehnt werden. Lopez Obrador pflegt – nachdem er sich in früheren Jahren auf Seiten der Bewegung positioniert hatte – eine Feindseligkeit gegenüber den Zapatistas, nachdem sie sich 2006 geweigert hatten, seinen Wahlkampf zu unterstützen.

Von links und unten …

Die Stärke der zapatistischen Organisierung hat ihre Grundlage in den autonomen Strukturen. Seit den ersten Wochen nach dem Aufstand bilden die Versammlungen in den Dörfern die Basis für die zivile Selbstorganisierung der Zapatistas. Stück für Stück haben sich daraus weitere Strukturen herausgebildet. Die Dörfer waren seit den 1990er Jahren in Autonomen Landkreisen organisiert, in denen mittels einer Rätestruktur alle wesentlichen Abstimmungen und Entscheidungen getroffen wurden. Dabei gilt bis heute das Grundprinzip, dass alle Lösungen so nah an der Basis gefunden werden wie möglich.

Für die Prozesse, die über die Autonomen Landkreise hinausgehen, gründeten die Zapatistas 2003 die Räte der guten Regierung. In fünf Caracoles, den großen Versammlungszentren, hatten diese ihren Sitz. Jeder Rat bestand aus rund 30 Vertreter:innen der Dörfer die für eine beschränkte Amtszeit gewählt wurden. Erklärtes Ziel bei der Gründung war, dass Jede*r in den zapatistischen Gebieten ein mal an den Räten beteiligt sein solle, damit alle lernten, wie man sich selbst regiert. Das Besondere an dieser Form der Regierung war ihre Konzeption: Sie war der Basis nicht nur rechenschaftspflichtig, sondern konnte im Grunde nur Vorschläge ausarbeiten, die von den Dörfern bestätigt oder angenommen werden mussten. Es handelte sich um eine Art Regierung ohne Regierungsgewalt. Eine Losung, die lange an den Eingängen zu zapatistischen Dörfern zu lesen war besagte: »Sie befinden sich auf zapatistischem Territorium. Hier gehorcht die Regierung und die Bevölkerung befiehlt.«

2019 weiteten die Zapatistas diese Form der Selbstverwaltung nochmals aus. Parallel zur Ausrufung weiterer Autonomer Landkreise eröffneten sie sieben neue Versammlungszentren und installierten dort ebenfalls Regierungsräte.

Im November 2023 gab die EZLN in einem Kommunique8 überraschend das »Ableben« der Autonomen Landkreise und der Räte der guten Regierung bekannt. Von einigen Medien wurde dies voreilig als das Ende der zapatistischen Selbstverwaltung interpretiert.

Die Bevölkerung ist die Regierung

Unser Eindruck, nach weiteren Kommuniques, aber vor allem auch den Gesprächen vor Ort ist ein anderer: Die Zapatistas haben die Struktur ihrer Selbstverwaltung radikal umgekrempelt und Abstimmungsprozesse noch stärker an die Basis verteilt als es bisher der Fall war.

Die Basis der neuen Struktur bilden die Autonomen Lokalen Regierungen (GAL9). Auch hier werden Beauftragte gewählt. Ihre Aufgaben bestehen allerdings in erster Linie darin, ansprechbar zu sein, zu identifizieren, wo Handlungsbedarf besteht und die notwendigen Informationen zusammenzutragen. Die Lösungsfindung oder das Treffen von Entscheidungen geschieht dann aber in Vollversammlungen des Dorfes. An die Stelle institutionalisierter Räte auf Ebene der Landkreise oder Regionen treten nun große Versammlungen, die nach Bedarf einberufen werden. Dort können dann, so unsere Gesprächspartner:innen, auch schon mal hunderte bis tausend Vertreter:innen der Dörfer zusammenkommen – und diese Versammlungen eine Woche oder zehn Tage andauern.

In den Treffen, die wir mit der zapatistischen Basis hatten, wurde deutlich, dass bei ihnen ein großer Teil der Erwachsenen mit spezifischen Aufgaben in der Selbstverwaltung betreut ist10. Zu der politischen Entscheidungsfindung kommen ja auch die weiteren Elemente der Selbstorganisation hinzu: Für Gesundheit und Bildung, Gerechtigkeit bzw. Justiz, für Agrarökologie und Produktion – in allen Bereichen gibt es Strukturen, die in den Dörfern verankert und regional vernetzt und organisiert sind.

Der aktuelle Umbruch war das Ergebnis eines langen Prozesses, in dem die Praxis der Selbstverwaltung analysiert wurde. Als die Guten Regierungen gegründet wurden hätten sie »die Pyramide umgedreht«, so ein häufiges Bild. Man habe einen Teil dessen kopiert, was die »schlechte Regierung« vorgemacht habe. Nun hätten sie erkannt, dass die Pyramide selbst das Problem sei, dass sie einen Abstand schaffe zwischen oben und unten. Darum hätten sie nun die Pyramide selbst abgeschafft.

Dennoch wurde die Zeit der Guten Regierungen von allen als wichtig erachtet. Man habe viel gelernt darin, es wäre ein Mittel gewesen, sich selbst zu befähigen. Dennoch sei diese Etappe nun vorbei, und sie haben etwas neues begonnen. Auch wenn sie nun von neuem herausfinden müssten, wie das praktisch funktioniert.

El comun – das Gemeinschaftliche

Das häufigste Wort der Feierlichkeiten, ja die einzige Losung die zu hören war, war el comun. In unsere Sprache würden wir es als »das Gemeinschaftliche, das Gemeineigentum«, als Allmende oder commons übersetzen. Die Zapatistas nennen diese Form auch das Nicht-Eigentum. In erster Linie bezieht sich el comun auf den Boden, das Land das zum kleinbäuerlichen Anbau genutzt wird. Mit der aktuellen Initiative laden die Zapatistas vor allem ihre Nachbar:innen, die nicht Teil der Organisation sind, zur gemeinschaftlichen Landnutzung ein. Einige Bedingungen dafür sind ausgesprochen: So darf dieses Land nicht verkauft und es dürfen darauf keine Drogen angebaut werden. Vor allem aber müssen die Interessent:innen eine Übereinkunft mit den organisierten Dörfern vor Ort finden. Mit dieser Ansatz folgen die Zapatistas einer Parole, die sie schon 1994 propagierten: »Alles für alle – für uns nichts«

El comun ist damit auch sicherlich als eine Gegenstrategie zu den fortlaufenden Aktivitäten der Regierung zu betrachten, die beharrlich unter immer neuen Namen Programme aufsetzt, die die Privatisierung und anschließende Veräußerung von Land fördert. Für die industriellen Megaprojekte sowie die Aktivitäten der Drogenkartelle11 sind gemeinschaftlicher Besitz und Verwaltung von Land Hindernisse, die es aus dem Weg zu räumen gilt. Für die indigenen Kleinbäuer:innen bedeutet dieses Land hingegen die Basis ihres Lebens und ihrer Kultur. Für die Zapatistas bildet es die Grundlage ihrer Autonomie.

In der mexikanischen Verfassung war der genossenschaftliche Landbesitz als Ejidos bis 1991 verankert. Im Zuge der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada wurde dieser jedoch gestrichen.

Das Gemeinschaftliche soll sich jedoch nicht nur auf die Landnutzung beziehen. Das zapatistische Gesundheitssystem und die Strukturen der Rechtsprechung stehen schon lange auch Nicht-Zapatist:innen offen und werden von diesen genutzt. Nun gibt es Überlegungen, wie sich dieser Ansatz auch auf andere Bereiche der Selbstorganisation ausweiten lässt.

Fazit

Die Zapatistas zeigen mit den aktuellen Veränderungen eine beeindruckende Fähigkeit, ihre Organisierung weiterzuentwickeln. Dabei bleiben sie nicht nur ihren Prinzipien treu, sondern schaffen es auch, ihrer Praxis wieder und wieder mehr Tiefe zu geben.

Viele sehen aktuell das zapatistische Projekt bedroht wie seit den 90ern nicht mehr. Die Veränderungen, die die Bewegung nun umsetzt, sind eine Reaktion auf die in vieler Hinsicht verschärften Bedingungen. Und gleichzeitig stärken sie einen Gegenentwurf zur kapitalistischen Gesellschaftsform, die dabei ist, die Erde in ihrer Gesamtheit zu zerstören.

Dabei denken die Zapatistas langfristig. Und wenn es nur eines gäbe, was wir in Europa von ihnen lernen könnten, dann wäre das mein Favorit.

Sie kämpfen dafür, so heißt es in einem der aktuellen Kommuniques »dass dieses Mädchen, welches in 120 Jahren geboren wird, frei ist und was immer es sein möchte. Somit kämpfen wir nicht dafür, dass es eine Zapatista oder eine Parteigängerin sein wird, sondern dass es, wenn es alt genug ist, wählen kann, welches sein Weg ist.«

 

Jan Klein ist aktiv in politischen Basisorganisierungen auf dem Land im Norden Deutschlands. Der Kontakt mit den Zapatistas vor über 20 Jahren hat ihn als politisches Subjekt gerettet. Seitdem beschäftigt ihn, was wir von den Zapatistas und anderen Bewegungen des globalen Südens lernen können.

Lizenz dieses Artikels: CC-BY – Dieser Artikel darf als ganzes oder in Auszügen bearbeitet und veröffentlicht werden, Bedingung ist die Nennung des Autors

 

 Fußnoten

1 Nachzulesen sind sämtliche comunicados der EZLN in viele Sprachen übersetzt auf der Seite https://enlacezapatista.ezln.org.mx/

2 Ejercito Zapatista de Liberation Nacional – Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, benannt nach dem historischen Revolutionsführer Emiliano Zapata

3 In diesem Fall: Das Movement for Justice in El Barrio

4 Als milicianos und milicianas werden diejenigen Mitglieder der EZLN bezeichnet, die auch Teil der militärischen Struktur sind, aber weiter in ihren Gemeinden als Kleinbäuer:innen leben.

5 Cumbia ist (laut wikipedia.de) eine Musikrichtung, die vielschichtige Rhythmusstrukturen afrikanischen Ursprungs mit spanisch beeinflussten Melodien und lyrischen Formen vermischt.

6 Eine bekannte mexikanische Ska-Band. Das gespielte Stück La Carencia ist auch in Europa bekannt geworden und behandelt die sozialen Bedingungen im Land.

7 Tren Maya – »Maya-Zug« ist ein großes Eisenbahn- und Infrastrukturprojekt, mit dem der Süden Mexikos industriell und touristisch stärker erschlossen werden soll. Es wird betrieben vom mexikanischen Militär.

8 Nachzulesen auf https://www.chiapas.eu/news.php?id=12154

9 Gobierno Autonomo Local

10 Dies gilt zumindest in den Tälern von Oventic, der Region, die wir bereisen konnten.

11 Die Kartelle haben ihr Geschäftsmodell längst diversifiziert – neben Menschenhandel und Erpressungen gehören auch Bergbau, der Handel mit Avocados oder Tropenhölzern zu großen Einnahmequellen.


 Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024