Bericht der Frauendelegation in die kurdischen Gebiete in der Türkei

»Ihre Geschichten mit uns tragen 
und den Kampf verdoppeln«

Julie Ward (kollektive Arbeit der autonomen Delegation)

Während der Menschenrechtswoche im Dezember 2023 schloss ich mich einer autonomen Delegation von Personen aus verschiedenen europäischen Ländern an, die an einer von der kurdischen Frauenbewegung organisierten Informationsreise teilnahmen. Unser Ziel war es, die Situation der kurdischen Bevölkerung und weiterer ethnischer und religiöser Minderheiten in der Türkei zu beobachten, die unter einem zunehmend autoritären Regime leben.

Während unseres Besuches haben wir zahlreiche Zeugenaussagen von Verbänden, Organisationen und Einzelpersonen über weit verbreitete Rechtsverletzungen gesammelt. Unsere Delegation, die sich aus Rechtsexpert:innen und Menschenrechtsaktivist:innen zusammensetzte, widmete ihre Aufmerksamkeit der Situation der politischen Gefangenen und insbesondere der anhaltenden Inhaftierung und Isolation des Repräsentanten des kurdischen Volkes, Abdullah Öcalan, der sich seit nunmehr 25 Jahren in Isolationshaft auf der Insel İmralı befindet. Als autonome Delegation waren wir auch über die Situation der kurdischen Frauen und der Frauen weiterer ethnischer und religiöser Minderheiten besorgt.

Die Zeugenaussagen, die wir gehört haben, haben unsere Befürchtungen bestätigt, dass die türkische Regierung systematisch die Grundrechte von kurdischen und anderen politischen Gefangenen verletzt – insbesondere die von Abdullah Öcalan und den anderen Gefangenen auf İmralı. Das Isolationsregime, das sowohl auf İmralı als auch in anderen türkischen Gefängnissen angewandt wird, bedeutet oft, dass Menschen über Jahre und sogar Jahrzehnte hinweg 23 Stunden am Tag in Einzelhaft gehalten werden. Wir sind uns bewusst, dass nach internationalen Standards eine längerfristige oder gar unbegrenzte Isolation eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung und somit eine Form der Folter darstellt.

Die Praxis der türkischen Behörden, Gefangene zu isolieren, geht mit anderen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen einher, wie der Verbüßung von Haftstrafen in Gefängnissen, die weit von der Familie entfernt sind, dem Verbot von Familienkontakten, der Verweigerung des Zugangs zu Rechtsanwält:innen, unabhängigen Dolmetscher:innen und zu Programmen und Dienstleistungen, die die geschlechtliche und kulturelle Identität der Gefangenen berücksichtigen. Besonders besorgniserregend ist die Situation von Gefangenen, die an physischen oder psychischen Krankheiten leiden. Wir haben vor Ort erfahren, dass kranke Gefangene unter unhygienischen Bedingungen festgehalten werden und nicht einmal die grundlegendste medizinische Versorgung erhalten. Nach international geltendem Recht dürfen Personen, bei denen eine Behinderung oder eine schwere psychische Erkrankung diagnostiziert wurde und deren körperlicher oder geistiger Zustand sich durch die Inhaftierung verschlechtern könnte, nicht inhaftiert werden. Besonders besorgniserregend ist auch die Situation inhaftierter Frauen, insbesondere von Müttern mit stillenden oder kleinen Kindern. Wir wissen, dass es üblich ist, dass sich 50 Gefangene eine Toilette teilen müssen; diese Situation ist für die physische und psychische Gesundheit der Frauen besonders schädlich. Die Delegation kam zu dem Schluss, dass Tausende von Gefangenen in der Türkei einen triftigen Grund für eine sofortige Freilassung aus medizinischen Gründen haben.

Wir haben von Familien gehört, denen der Zugang zu den sterblichen Überresten ihrer im Gefängnis verstorbenen Angehörigen verwehrt wurde, und von Diktaten, die es verbieten, Gedenkfeiern oder Beerdigungen in Übereinstimmung mit der Kultur und den Traditionen des kurdischen Volkes abzuhalten. In vielen Fällen wird dies durch Polizeipräsenz erzwungen.

Alle genannten Praktiken sind durch internationale Bestimmungen und Konventionen verboten und haben dazu geführt, dass zahllose kurdische Gefangene in der ganzen Türkei und auch international mit Hungerstreiks gegen ihre Situation protestieren.

Wir als Delegation haben überzeugende Beweise dafür gesehen, dass das türkische Justizsystem außergerichtlich zur politischen Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung eingesetzt wird. In Bakur1, einem Gebiet mit überwiegend kurdischer Bevölkerung, werden demokratisch gewählte Kommunalpolitiker:innen weiterhin gewaltsam durch von der AKP eingesetzte Verwalter ersetzt. Diese Verweigerung der elementarsten demokratischen Prozesse hält seit mehreren Jahren an. Kurdische Rechtsanwält:innen berichteten uns auch von verschiedenen Formen gerichtlicher Schikanen, mit denen ihre Arbeit erheblich erschwert wird.

Wir trafen Menschen aus allen Lebensbereichen, auch solche, die im Bereich der kurdischen Sprache und Kultur tätig sind, die in ständiger Angst leben, unter dem Vorwand des »Verdachts der Zusammenarbeit mit einer terroristischen Organisation« verhaftet und inhaftiert zu werden. Die Delegation verurteilte unmissverständlich, dass die Türkei den Vorwurf des »Terrorismus« als Mittel zur Unterdrückung des politischen Willens des kurdischen Volkes und zur ethnischen Säuberung benutzt.

Die anhaltende Inhaftierung und Isolation Öcalans und aller politischen Gefangenen in der Türkei muss im Zusammenhang mit den anhaltenden Angriffen der Türkei auf die Selbstverwaltung in Rojava gesehen werden. Die Frontlinien dieses Krieges haben sich innerhalb der Grenzen des türkischen Staates in Form einer zunehmenden Unterdrückung der kurdischen Bürger:innen der Türkei verschoben. Die Situation wird nicht einfacher durch die Haltung vieler europäischer Länder, die wiederholt nichts gegen die katastrophale Menschenrechtslage in der Türkei unternommen haben und weiterhin zusehen, wie die Türkei ihre Gefängnisse mit Journalist:innen, Akademiker:innen, Mitarbeiter:innen der Zivilgesellschaft und politischen Dissident:innen füllt, während sie sich an Flüchtlingsdeals und Waffenhandel beteiligt.

Durch die Zusammenarbeit mit kurdischen Frauenorganisationen verstehen wir, wie Frauen zwei miteinander verbundene Fronten erleben: die Gewalt und den kulturellen Genozid, dem sie als Kurdinnen in der Türkei ausgesetzt sind sowie die Frauenfeindlichkeit, die andauernde Bedrohung durch Gewalt und Feminizide, denen sie als Frauen ausgesetzt sind. Der Austritt der Türkei im März 2021 aus der Istanbul-Konvention ist eine klare Botschaft an die türkische Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft, dass die türkische Regierung die Rechte der Frauen nicht respektiert. Dies steht in krassem Gegensatz zu den Werten der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrer Ausrichtung auf die Befreiung der Frau.

Wir hörten während unserer Reise unzählige Zeugnisse von Frauen, die bedroht, belästigt, ohne Anklage über lange Zeiträume festgehalten, inhaftiert und gefoltert wurden, nur weil sie ihr Leben lebten, ihre Kultur teilten, versuchten, »verschwundene« Verwandte wiederzufinden und sich für ihre eigenen Grundrechte und die anderer einsetzten. Unsere Delegation traf Mütter, die ihre Kinder im Gefängnis oder durch staatliche Gewalt verloren haben und die ihren tiefen Verlust und Schmerz mit uns teilten. Als Frauendelegation versprachen wir, ihre Geschichten mit uns zu tragen und unsere Anstrengungen zu verdoppeln, um die internationale Solidarität mit dem kurdischen Kampf zu stärken.


 Fußnote

1 »Bakur« ist kurmancî für »Norden«. Kurdische Bezeichnung für Nord-Kurdistan, die kurdischen Gebiete innerhalb der türkischen Grenze.


  Kurdistan Report 232 | März / April 2024