Der êzîdische Glaube und seine wichtigsten Feste 
zu Wintersonnenwende und Neujahr

Die Êzîd:innen und das Êzîdentum

Yilmaz Pêşkevin Kaba, êzîdischer Friedens- und Freiheitsaktivist, Fernsehmoderator (Çira TV)


Im April steht das êzîdische Neujahrsfest bevor. Dies soll Anlass für eine kleine Einführung in den êzîdischen Glauben und seine wichtigsten Feste sein.


»[…] dreimal am Tag wenden sie sich an die Sonne und beten. Ihre Gebete sind nicht wie unsere, einstudiert. Jeder der will, mag er Kind, jung oder alt, Emir oder Scheich sein, stellt sich vor die Sonne und erzählt ihr das, was in diesem Augenblick sein Herz spricht. Vielleicht sind dies die schönsten Gebete, die die Menschheit je hervorgebracht hat. Vielleicht entspringen die schönsten Lieder, die schönsten Dichtungen diesen Gebeten. Vielleicht wurzeln alle Legenden und Sagen Mesopotamiens in diesen Gebeten«. (Yaşar Kemal in seinem Roman »Die Ameiseninsel«)

Êzîd:innen sind eine kurdischsprachige (Kurmancî) Gemeinschaft. Ihr Glaube ist über 4.000 Jahre alt. Êzîd:innen sind Dualist:innen und glauben einerseits an einen Schöpfergott und andererseits an den Pfauenengel Tawisî Melek, das ausführende Organ des göttlichen Willens. Radikale und auch viele gemäßigte Muslime betrachten Êzîd:innen aufgrund einer Fehlinterpretation der Pfauenengel-Figur, als »Anbeter des Bösen«. Der Platz dieses Glaubens im irakischen Mosaik verschiedener Glaubens- und Religionssysteme ist daher oft umstritten. Obwohl viele Êzîd:innen kurdisch sprechen und sich die große Mehrheit von ihnen als der kurdischen Ethnie zugehörig versteht, unterscheiden sie sich auf Grund ihres Glaubens von der überwiegend sunnitischen kurdischen Bevölkerung. Vor dem Angriff des IS im Jahr 2014 lebten etwa 700.000 Êzîd:innen (Stand 2005) vor allem im Bezirk Şengal (arab. Sinjar), im Gouvernement Ninive im Nordirak. Seitdem ist ihre Zahl dort unter 500.000 gesunken.

Das Êzîdentum (kurd. Êzdiyatî) ist ein vor der aktuellen Zeitrechnung entstandener Glaube. Er ist vor allem sehr naturverbunden (Natur = kurd. Xweza), darum sind die Naturelemente von besonderer Bedeutung – vor allem die Sonne nimmt einen hohen Stellenwert ein. In dem Glauben gibt es nur einen Gott/eine Gottheit (kurd. Xwedê/Xweda). Vertreter Xwedês auf Erden – Mittler zwischen Xwedê und den Êzîd:innen – ist der Obererzengel Tawisî Melek (Engel Pfau / Gottes Engel). Die Entstehungsregion des Glaubens ist Mesopotamien, das Zweistrom-Gebiet um Firat (dt. Euphrat) und Dîcle (dt. Tigris).

Die Bezeichnung der Mitglieder der Glaubensgemeinschaft ist auf Kurdisch Êzdî/Êzîdî bzw. Ezda; es ist einer der vielen Namen Gottes/der Gottheit. Xweda/Xwedê ist »der, der sich selbst erschaffen hat«. Und Êzdî/Êzîdî bzw. Ezda heißt übersetzt »der, der mich erschaffen hat« (Ez–da)1. Das Wort Êzdî/Êzîdi heißt somit »die Anhänger Gottes / der Gottheit«. Das Wesentliche hier führt darauf zurück, dass Gott / die Gottheit alles und jedes und auch sich selbst erschaffen hat.

Ethik des Êzîdentums

Gott erschafft aus seinem Licht die Erde. Das hat zur Konsequenz, dass jedes Lebewesen einen Anteil des göttlichen Lichtes (nûr) in sich trägt. Dieses göttliche Licht kann aber nur durch Vernunft (aqil) entfaltet werden. Jedes Individuum trägt die Anlagen sowohl für das Gute als auch für das Böse in sich. Indem er ein selbstständig entscheidendes, denkfähiges Wesen ist, kann der Mensch durch seine Wahl- und Willensfreiheit die Welt gestalten und gute von bösen Taten unterscheiden.

Das Menschenbild der Êzîd:innen ist davon bestimmt, dass der Mensch für sein Wirken und Handeln selbst verantwortlich ist. Er hat von Gott / von der Gottheit die Gabe des Hörens, Sehens und Denkens erhalten. Mit diesen Anlagen hat er die Möglichkeit, den richtigen Pfad zu beschreiten. Unter den Êzîd:innen gilt die Auffassung, dass ein:e Êzîd:in ein guter Mensch sein kann, aber um ein guter Mensch zu sein, muss er nicht Êzîd:in sein. Das Êzîdentum hat auch keinen Absolutheitsanspruch – das bedeutet, es gibt nicht nur »eine Wahrheit«, sondern es gibt »viele Wahrheiten«. Ein Beispiel aus dem Alltag für dieses Denken ist der Ausspruch des Wunsches »Gott, schütze die 72 Völker und auch uns.« Die 72 Völker stehen für alle Glaubensgemeinschaften und Bevölkerungsgruppen. Ein anderes Beispiel ist die Handlungsempfehlung »Heger tu kesekî bibînî. Xêrekê vêre bigehînî. Nebêjê tu ji kîjan bawerî ye« – »Wenn Du jemandem begegnest, lass ihr eine gute Tat zukommen. Frag nicht danach, welchem Glauben sie angehört.«

Drei besonders wichtige Gebote und Tugenden sind rastî (Wahrheit/Gerechtigkeit), şermî (Schamgefühl) und nasîn (Kenntnis/Wissen). Rastî erfordert Aufrichtigkeit, immer ehr­lich und gerecht zu sein. Şermî ist das Gebot des Respekts anderen gegenüber oder andersherum die Scham oder Sorge, jemanden nicht richtig zu behandeln, jemandem nicht angemessen und respektvoll gegenüberzutreten. Und nasîn ist die Mahnung, nach Wissen zu streben um klug handeln zu können; denn Unwissenheit und Dummheit führen zu Fehlern, so dass anderen geschadet werden könnte.

Weitere wichtige Prinzipien werden im Wesen des êzîdischen Obererzengels Tawisî Melek repräsentiert, das sind vor allem Mut und der Einsatz des eigenen Verstandes. Dazu gehört, das zu tun, was man selbst für richtig hält, die Konsequenzen aus dem eigenen Tun selbst zu tragen, für seine Taten selbst Rechenschaft abzulegen, sich eine eigene Meinung zu bilden, manchmal gegen den Strom zu schwimmen und Befehlen nicht blind zu folgen, selbstbewusstes Auftreten, stets kritisch zu bleiben und Dinge zu hinterfragen, Mitmenschen ein Vorbild zu sein und niemanden zu verurteilen.

Die Bedeutung des Fastens zur Wintersonnenwende

»Roj / rojî girtin« ist der Kurmancî-Begriff für »fasten«. Wenn wir ihn wörtlich übersetzen, so bedeutet er »die Sonne (fest)halten«. Die wörtliche Bedeutung zeigt, dass das Fasten für die Êzîd:innen begann, als sie merkten, dass die Tage kürzer und aus der logischen Schlussfolgerung die Nächte länger wurden. Es ist die Zeit vor der Wintersonnenwende.

Da die Êzîd:innen früher nicht wussten, dass dieser Vorgang normal ist, glaubten sie, dass das Böse anfing, das Gute anzugreifen. Das Licht symbolisiert das Gute, und die Dunkelheit das Böse. Als die Êzîd:innen den Rückzug der Sonne bemerkten, begannen sie zu Gott / zur Gottheit / zur Sonne2 zu beten, um den Niedergang des Guten zu stoppen.

Dann begannen sie zu Ehren der Sonne zu fasten – erst drei Tage und in der darauffolgenden Woche weitere drei Tage des Widerstands, da die Ausdehnung der Dunkelheit sich nicht verändert hatte. Die zweiten drei Fastentage begingen sie zu Ehren der Ahnen und Familienheiligen, aber vor allem der Wächter des Guten, die die Êzîd:innen Xwedan/Xwudan nennen. In der dritten Woche fasteten sie weitere drei Tage, bis sie merkten, dass die Dunkelheit nachließ. Am vierten Tag feierten sie, freuten sich und beteten zur allmächtigen Gottheit, die den Untergang des Guten/des Lichtes der Sonne gestoppt hatte. Dies ist der Feiertag »Cejna Êzî«.

Die Êzîd:innen sind der Überzeugung, dass sie vor allem durch das Fasten in der Zeit der Wintersonnenwende dazu beitragen, die Ausdehnung der Dunkelheit zu stoppen, indem sie die Sonne festhalten.

Die drei mal drei Fastentage beginnen jeweils in aufeinanderfolgenden Wochen am Dienstag und enden Donnerstag, jeweils von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang.

Die Sonnenverehrung ist eines der ältesten Elemente des êzîdischen Glaubens und reicht bis weit in die alte Geschichte Mesopotamiens zurück. Die täglichen Gebete der Êzîd:innen werden immer mit dem Gesicht Richtung Sonne verrichtet. In einem der sakralen Texte der Êzîd:innen heißt es: »Ich gelobe bei der Sonne, bei dem aufgehenden gelben Planeten, Şeşims, das Licht des Schöpfers«. Zugleich verdeutlicht die Sonne auch die Gleichheit aller Menschen und Lebewesen, da sie keinen Unterschied zwischen diesen macht und für alle ihre lebensnotwendige Wärme spendet, wie es in der êzîdischen Lehre heißt.

Çarşema Serê Nîsanê – das êzîdische Neujahr

Der Tag des »Çarşema Serê Nîsanê« fällt dieses Jahr auf Mittwoch, den 17.04.2024.

Çarşema Serê Salê / Çarşema Serê Nîsanê / Çarşema Sor – es gibt regional verschiedene Bezeichnungen für das êzîdische Neujahrsfest, dem Fest zur Entstehung der Erde und für Tawisî Melek. Die Bezeichnung bedeutet »erster Mittwoch des April«. »Çarşem« besteht aus kurdisch »çar« für Vier und »şem« für Woche, damit ist der vierte der Tag der Woche gemeint, das ist der Mittwoch. Kurdisch »sor« bedeutet rot. Öfters bezeichnet man diesen Tag auf Kurdisch auch als »Sersal« (kurd. »ser« Kopf/oben und »sal« Jahr), sinngemäß auf Deutsch also »Neujahr«.
Das êzîdische Neujahr wird am ersten Mittwoch im April (kurd. »Nîsan«) gefeiert, was nach êzîdischem Kalender stets auch der erste Tag im Monat April und des neuen Jahres ist. Da der êzîdische Kalender dem in Deutschland gültigen gregorianischen Kalender um 13 Tage nachgeht, wird das Neujahrsfest am ersten Mittwoch im Monat April gefeiert, der auf den 14. April oder einen der folgenden Tage im gregorianischen Kalender fällt. Der erste Tag im Monat »Nîsan« ist der »Çarşema Serê Salê / Çarşema Serê Nîsanê / Çarşema Sor«.
Der Feiertag ist nach êzîdischer Mythologie der Tag, an dem die Schöpfung der Erde vollendet wurde: Die Sonnenstrahlen erreichten zum ersten Mal die Erde, so dass sich das Firmament rot färbte. Daher kommt unter anderem die Bezeichnung »roter Mittwoch«. Des Weiteren war es der Tag, an dem der oberste êzîdische Erzengel Tawisî Melek (dt. »Gottes Engel«) erstmals auf die Erde kam. Tawisî Melek ist der Mittelpunkt der sieben Erzengel, er repräsentiert den Mittwoch, die Mitte der Woche bzw. die Mitte der sieben Erzengel. Der Mittwoch ist der Ruhetag der Êzîd:innen, ähnlich dem Sonntag für die Christen.

Die Urperle

An Çarşema Serê Salê / Çarşema Serê Nîsanê / Çarşema Sor wird auch jedes Jahr an die Urperle in Form von gefärbten Eiern erinnert. Der Tag des Neujahrsfestes ist zugleich Frühlingsbeginn. Die Farben der von neuer aufblühender Natur stellen dabei den Neuanfang des Lebens dar, die gefärbten Eier als Perle »Dur« den Neubeginn. Es ist möglich, das die christliche Tradition des Eierfärbens bei den Êzîd:innen entlehnt wurde3.
Die Urperle, aus der nach êzîdischer Vorstellung das gesamte materielle Sein hervorgegangen ist, wird in den sakral êzîdischen Texten als »Dur« bezeichnet. Das Wort ist auf Kurdisch wie auch auf Persisch und Paschtu (در) das gleiche und bedeutet Perle.
Die êzîdische Mythologie der Bedeutung der Urperle spiegelt sich auch in der kurdischen Sprache wider, da das Wort »Dur« auch für »Urknall« steht.

Bazinbar – Frühlingsband

Zum Çarşema Serê Nîsanê wird das »Bazinbar« (dt. »Armband« – wortwörtliche Übersetzung: Bazina bihar = Armband des Frühlings) von êzîdischen Würdenträgern oder von älteren Müttern an die Êzîd:innen verteilt. Zudem bringt der Würdenträger Wasser aus der Kaniya Spî (dt. »Weiße Quelle«) aus dem êzîdischen Heiligtum Lalişa Nûranî / Lalisch in Südkurdistan (Nord-Irak) mit.
 Das Bazinbar ist ein aus Baumwollfäden geflochtenes Band. Dafür werden die êzîdischen Farben verwendet – entweder Weiß und Rot als Symbol der Reinheit und des Blutes/des Lebens aller Lebewesen, oder Grün, Rot, Gelb verwendet, die symbolisch für die Natur, das Blut bzw. das Leben und die Sonne stehen. Dieses Armband soll seine Träger:innen vor Unglück und Unheil schützen.

 Fußnoten

1 Ezda ist das Herkunftswort, das in seiner wörtlichen Bedeutung heute eher veraltet ist und nur für die Bezeichnung der Êzîd:innen eine Rolle spielt. Für die Bedeutung »Der, der mich erschaffen hat« würde heute in der Alltagssprache »Min-da« verwendet.
2 Die êzîdische Gottheit darf sich nicht wie der jüdische, christliche oder islamische Gott vorgestellt werden. Es ist eine in allen Bestandteilen der Natur, in allem Lebenden sich zeigende Gottheit. Darum sei sie hier zur Verdeutlichung mit den verschiedenen Begrifflichkeiten gleichzeitig bezeichnet.
3 vgl. https://www.derstandard.at/story/1269448434970/wissen-das-osterei---eine-fuenftausendjaehrige-kulturgeschichte


  Kurdistan Report 232 | März / April 2024