Der Krieg zwischen Israel und Hamas wird in Deutschland auch innenpolitisch geführt

Deutsche Staatsräson hebelt Grundrechte aus

Elmar Millich

Sicher ist der 7. Oktober eine Zäsur in der Entmenschlichung des Nah-Ost-Konflikts. Unbemerkt von dem israelischen Militär und ohne Vorwarnung durch Geheimdienste durchbrachen Mitglieder der palästinensischen Hamas die Absperrungen zwischen dem Gazastreifen und Israel und richteten innerhalb von nur 24 Stunden ein Massaker unter israelischen Zivilist:innen an. Nach Schätzungen kamen zwischen 1200 und 1400 Israelis ums Leben. Ca. 250 Geiseln wurden in den Gazastreifen verschleppt. Zahlreiche Opfer waren unter den Besucher:innen des Musikfestivals »Tribe of Nova«, welches im Süden Israels stattfand. Die israelische Armee reagierte mit massiven Bombardierungen des Gazastreifens und einer Bodenoffensive, die bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses noch anhält. Bislang werden auf palästinensischer Seite 14.000 tote Zivilpersonen gemeldet und die humanitäre Versorgungslage im Süden des Gazastreifens, in den auf Aufforderung der israelischen Armee viele Palästinenser:innen flohen, ist nach Aussagen internationaler Hilfsorganisationen katastrophal.

Seit dem 7. Oktober bestimmt der Nah-Ost-Konflikt auch die deutsche Politik. Die Bundesregierung verkündete ihre »bedingungslose Solidarität mit Israel«, Antisemitismusdiskussionen beherrschen Nachrichten und Talkshows. Im Zuge der Auseinandersetzungen im Gazastreifen kam es aber auch zu massiven Einschränkungen der Demonstrations- und Meinungsfreiheit und zu Vereinsverboten. Die Forderung nach weiteren gesetzlichen Verschärfungen und Einschränkungen beherrschen die Diskussion. Der Fokus dieses Artikels zielt darauf zu zeigen, dass diese Entwicklungen nicht neu sind, sondern bekannten Mustern folgen, wie schon die Reaktionen auf den russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 oder auch der repressive Umgang mit der kurdischen Befreiungsbewegung beweisen. Diese Muster prägen Deutschland schon seit Ende der 1980er Jahre. Die außenpolitische – und zumeist von einem größeren Teil der Öffentlichkeit geteilte – Sichtweise der Bundesregierung wird universalisiert und abweichende Meinungen werden Ziel von Unterdrückung und Strafverfolgung. Rückgrat dieser Einschränkungen von Grundrechten bilden zumeist die bewusst überdehnte Auslegung des § 140 StGB (Billigung einer Straftat), § 130 StGB (Volksverhetzung), das Vereinsgesetz und eine restriktive Auslegung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit.

Ein Blick zurück zu den Geschehnissen, die die aktuelle Diskussion prägen, zeigt deutlich, dass noch am Tag des Massakers vom 7. Oktober sich im Berliner Stadtteil Neukölln z. T. spontan, z. T. organisiert Anwohner:innen palästinensischen und arabischen Ursprungs auf der Straße versammelten und offensichtlich die Angriffe der Hamas feierten, indem sie nach arabischem Brauch Süßigkeiten an Umstehende verteilten. Aufgerufen hatte auch die mit der Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP, Volksfront zur Befreiung Palästinas) verbundene Gefangenenhilfsorganisation Samidoun (Palestinian Prisoner Solidarity Network), die mittlerweile vom Bundesinnenministerium verboten worden ist. Auch in den darauffolgenden Tagen kam es zu Auseinandersetzungen zwischen zumeist propalästinensischen Jugendlichen, die Pyrotechnik zündeten und »Free Palestine« skandierten, und der Polizei, die teilweise Jagd auf alles machte, was ein Palästinatuch trug, wegen angeblichen Verstoßes gegen das Versammlungsrecht. Angemeldete propalästinensische Demonstrationen waren bis Ende Oktober in Berlin konsequent verboten. Diese Stimmung wurde noch durch einen Raketeneinschlag am 18. Oktober beim Al-Ahli-Krankenhaus im Gaza angeheizt, für den sich Israel und die Hamas gegenseitig verantwortlich machten und bei dem fast 500 Opfer zu beklagen waren.

Demonstrationsverbote in vielen deutschen Städten

Am Anfang mögen die Demonstrationsverbote in Berlin und in anderen deutschen Städten aufgrund der angeheizten Stimmung und der verständlichen Ängste der in Deutschland lebenden jüdischen Bevölkerung noch nachvollziehbar gewesen sein. Denn in der Nacht zum 18. Oktober gab es einen Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin-Mitte und schon die Tage zuvor kam es in verschiedenen Stadtteilen zu Davidstern-Schmierereien.

Doch schon vor den Attacken der Hamas vom 7. Oktober ist Berlin seit etwa zwei Jahren demonstrationsfreie Zone für palästinensische Anliegen. Vor allem rund um den von den Palästinenser:innen als »Nakba« bezeichneten Erinnerungstag an die Vertreibungen von 1948, den 15. Mai, wurden in den letzten Jahren sämtliche Veranstaltungen mit pauschalen Befürchtungen vor antisemitischen Äußerungen untersagt. So wurde auch eine von der »Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost« angemeldete Ersatzveranstaltung am 20. Juni dieses Jahres von der Polizei aufgelöst, nachdem propalästinensische Parolen gerufen worden waren. In einer Erklärung vom 12. September dieses Jahres verurteilte Amnesty international diese Verbote als Einschränkung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Diese größte Menschenrechtsbewegung nannte die Verbotsbegründungen auch insofern menschenrechtlich bedenklich, »als sie sich auf stigmatisierende und diskriminierende Stereotype über Menschen aus der arabischen Diaspora, insbesondere mit palästinensischem Hintergrund (…) [und] weitere muslimisch geprägte Personenkreise (…) aus der libanesischen, türkischen sowie syrischen Diaspora stützt«1.

An solchen Stereotypen herrschte in den letzten Wochen wahrlich kein Mangel. Wie schon in den vorhergehenden Konflikten zwischen Israel und der Hamas kehren sich die Opferzahlen in der Zivilbevölkerung aufgrund der asymmetrischen Kriegsführung schnell um. Viele in Berlin lebende Palästinenser:innen haben Angehörige und Freund:innen im Gaza-Streifen und sind angesichts der täglich erscheinenden Bilder über das Ausmaß der Bombardierungen durch die israelische Armee natürlich in Sorge und verzweifelt. Aber auch eindeutig zu diesem Themenkomplex angemeldete Demonstrationen wurden in den ersten Wochen mit der unterstellenden Begründung verboten, der Anmeldungszweck sei »vorgeschoben». Allein bis zum 26. Oktober wurden laut Angaben der Polizei 17 propalästinensische Demonstrationen untersagt. Die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) ging sogar so weit, in einem Rundschreiben an die Schulleitungen zu empfehlen, gegebenenfalls den Schüler:innen auch das Tragen von Palästinensertüchern zu untersagen. Explizit gehe es auch um das Verbot von »Symbole[n], Gesten und Meinungsäußerungen, die die Grenze zur Strafbarkeit noch nicht erreichen«2.

Auch in anderen deutschen Großstädten sah die Situation nicht viel anders aus. In Hamburg waren seit dem 16. Oktober sämtliche propalästinensischen Demonstrationen per Allgemeinverfügung untersagt. Das zuerst drei Tage dauernde Verbot wurde bislang insgesamt neunmal verlängert. Auch das Hamburger Verwaltungsgericht trägt diese Linie mit. Die Klage gegen ein verhängtes Verbot für eine unter dem Motto »Stoppt den Krieg auf Gaza und Menschenrechte unterstützen« angemeldete Demonstration wurde von dem Gericht mit der Begründung abgewiesen, dass der Titel aus Sicht des Gerichts auf eine »einseitig pro-palästinensische Ausrichtung« hinweise, weshalb das Verbot zu billigen sei. Eine zweite direkt gegen die Allgemeinverfügung gerichtete Klage wurde ebenfalls abgewiesen unter Hinweis auf die auch weiterhin in Hamburg in besonderer Weise aufgeladene Stimmung. Die Kläger:innen verzichteten leider auf weitere Rechtsmittel. Beide Gerichtsbegründungen sind mehr als bedenklich, denn das Versammlungsrecht verlangt für Demonstrationen keine Ausgewogenheit, und mit dem Hinweis auf eine aufgeheizte Stimmung lassen sich beliebig Demonstrationsthemen verbieten, die von der Mehrheitsmeinung abweichen und ein emotionalisierendes Potential besitzen.

Als dann am 28. Oktober in Berlin 15.000 Personen auf einer propalästinensischen Demonstration durch Kreuzberg zogen, blieb es entgegen Medien- und polizeilichen Prognosen weitgehend friedlich. Dennoch wetteiferten im Folgenden die Versammlungsbehörden darum, durch möglichst viele Auflagen antisemitische und israelfeindliche Parolen zu unterbinden. Problematisch ist hier die Gleichsetzung von antisemitischen und »israelfeindlichen« Parolen einzuschätzen. Selbstverständlich sind antisemitische Parolen wie »Tod den Juden« eindeutig Volksverhetzung und entsprechend strafrechtlich zu ahnden. In vielen Medien und auch polizeilichen Beiträgen wurde aber der Eindruck erweckt, als seien auch »israelfeindliche« Parolen per se strafbar und könnten Demonstrationsverbote begründen.

Streit um Demonstrationsparolen

Konkret machte sich der Konflikt häufig an der auf palästinensischen Demonstrationen geäußerten Parole »From the river to the sea, Palestine will be free« fest. Die Parole geht auf die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO, von engl. Palestine Liberation Organization) in den 1960er Jahren zurück und beruhte auf der traumatischen Erfahrung der oben erwähnten »Nakba«. Die Parole lässt sich natürlich verschieden interpretieren. Ebenso wie die Leugnung des Existenzrechts Israels kann sie die Vision eines friedlichen Zusammenlebens der jüdischen und palästinensischen Bevölkerung in einem gemeinsamen Staat beschreiben. Die Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft haben sich aber auf die erste Interpretation festgelegt und wollen die Parole strafrechtlich verfolgen, selbst wenn bisher auch die Leugnung des Existenzrechts Israels an sich nicht strafbar ist. Bundesinnenministerin Nancy Faeser versuchte mit ihrer Verbotsverfügung gegen die Hamas und das palästinensische Netzwerk Samidoun neue rechtliche Fakten zu schaffen, indem sie die oben genannte Parole als der Hamas zugehörig gleich mitverboten hat. Damit wäre diese Parole auf Demonstrationen nach § 20 des das öffentliche Vereinsrecht in Deutschland regelnden Vereinsgesetzes (VereinsG) strafbar, einem Paragrafen, mit dem sich die kurdische Solidaritätsbewegung in Deutschland bestens auskennt. Dass die Zuordnung dieser Parole zur Hamas sachlich falsch ist, stört dabei niemanden. Solange keine gegenteiligen Gerichtsurteile vorliegen, hat die Polizei die Möglichkeit einzugreifen und das scheint damit auch aktuell bezweckt.

Auch wenn die Situation aktuell noch polarisierter ist, folgen die staatlichen Angriffe auf die Versammlungs- und Meinungsfreiheit demselben Muster wie seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. »Prorussische« Demonstrationen wurden, wenn nicht verboten, mit zahlreichen Auflagen versehen. So z. B. bestätigte am 8. Mai dieses Jahres das Oberverwaltungsgericht Berlin bei der jährlichen Gedenkveranstaltung zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Treptower Park polizeiliche Auflagen und untersagte das Mitführen russischer und sowjetischer Fahnen im Gegensatz zu ukrainischen, weil sie im aktuellen Kontext des russischen Angriffs als Sympathiebekundung für die Kriegsführung Russlands hätten verstanden werden können. Aufgrund einer Rede, die der DKP-Aktivist Heinrich Brückner anlässlich des 81. Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion ebenfalls im Treptower Park gehalten hatte, kam es zu einer Anklage wegen Volksverhetzung. Brückner hatte aus seiner Sicht die Hintergründe des Krieges erläutert und sich gegen Waffenlieferungen ausgesprochen. Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten sprach ihn zwar frei, aber lediglich aufgrund der zu geringen Zuhörer:innenschaft bei seiner Rede. Inhaltlich folgte es der Staatsanwaltschaft, Brückners Rede hätte »das Potential, das Vertrauen in die Rechtssicherheit zu erschüttern und das psychische Klima in der Bevölkerung aufzuhetzen«3, und sei somit als Volksverhetzung zu werten. Politisch kontroverse Positionen werden somit zur Straftat, wenn sie sich in aufgeheizten außenpolitischen Konfliktlagen zu weit von der Regierungsposition und der vermeintlich öffentlichen Meinung entfernen. Auch wenn es sich um eine schon länger geplante Umsetzung einer EU-Richtlinie handelte, passte die Erweiterung des Volksverhetzungsparagrafen 130 StGB im Oktober 2022 ins Bild, indem nun auch u. a. das öffentliche Billigen, Leugnen und gröbliche Verharmlosen von Kriegsverbrechen unter Strafe gestellt wird. Bislang beschränkte sich der Paragraf in diesem Teil auf die Leugnung des Holocausts. Dieser Paragraf wird sicherlich nur bei den Kriegsverbrechen aufgegriffen werden, bei denen westliche und prowestliche Staaten nicht beteiligt waren.

Nun mag man sich fragen, ob angesichts der aktuellen von Tod und Zerstörung geprägten Bilder aus dem Nahen Osten juristischen Auseinandersetzungen in Deutschland eine große Bedeutung beikommt. Aus Sicht der jahrzehntelangen Erfahrung der kurdischen Befreiungsbewegung kann man das nur bejahen. Die Unterdrückung der kurdischen Opposition in Deutschland und Europa ist als strategische Unterstützung des NATO-Partners Türkei nicht weniger relevant als die Praxis direkter Waffenlieferungen. Seit dem Verbot der PKK im Jahre 1993 dient u. a. das Vereinsgesetz dazu, auf kurdischen Demonstrationen unliebsame politische Positionen zu unterdrücken, indem akribisch Transparente und Parolen als strafbar angesehen und damit auch gewalttätige polizeiliche Interventionen gerechtfertigt werden, wie das zuletzt am 18. Oktober bei der Demonstration gegen 30 Jahre PKK-Verbot in Berlin praktiziert wurde. Auch hier kommt es regelmäßig zu bewussten gesetzlichen Überdehnungen, wenn etwa an sich nicht verbotene Symbole der syrisch-kurdischen Verteidigungseinheiten YPG und YPJ auf Versammlungen untersagt werden, weil sie angeblich »ersatzweise« für verbotene PKK-Symbole benutzt werden.

So prägt sich ein Eindruck aus, dass hegemoniale Ansprüche der deutschen Außenpolitik zunehmend gegen innere Kritik abgeschirmt werden. Strafrechtliche Angriffe auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit dienen dazu, Kritik und Widerstand gegen die offizielle »Regierungslinie« zu den jeweiligen Konflikten von vornerein zu verhindern oder wenigstens zu delegitimieren. Die aktuellen Diskussionen um die Verschärfung des Asylrechts, um generelle Einschränkungen politischer Rechte von Ausländer:innen und Strafrechtsverschärfungen lassen für die Zukunft nichts Gutes erwarten.

1zitiert nach: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2023-09/Amnesty-Stellungnahme-Deutschland-Berlin-Nakba-Demonstrationen-Verbot-September-2023.pdf, S. 1; im Auszug wird hier aus einem Bescheid der Landespolizeidirektion Berlin zitiert; zuletzt aufgerufen am 30.11.2023

 

2zitiert nach: https://www.news4teachers.de/2023/10/schuelern-palaestinensertuecher-verbieten-das-ist-eine-einladung-zur-provokation/; zuletzt aufgerufen am 30.11.2023

 

3 zitiert nach: https://www.nachdenkseiten.de/?p=92952; zuletzt aufgerufen am 30.11.2023


  Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024