Eine erste Bilanz des Vereins »Familien für den Frieden«

Wie gut, hiermit nicht allein zu sein

Interview des Kurdistan Report mit dem Verein »Familien für den Frieden«

Der vor knapp zwei Jahren gegründete Verein »Familien für den Frieden« gibt einen ersten Einblick in seine Gründungsgeschichte und seine aktuelle Arbeit.

Wann und mit welcher Motivation wurde der Verein »Familien für den Frieden« gegründet?

Der Verein »Familien für den Frieden« hat sich im Mai 2022 gegründet und ist seit Dezember 2022 ein eingetragener Verein und als gemeinnützig anerkannt.

Bei Eltern, Verwandten und FreundInnen führt das Engagement und Interesse junger Menschen an den Ideen und der Praxis der Freiheitsbewegung Kurdistans zu vielen Fragen. Fragen zur Theorie und Praxis der Ökologie, Basisdemokratie und Frauenbefreiung, den drei Grundpfeilern des Demokratischen Konföderalismus. Der Demokratische Konföderalimus ist die Perspektive der Freiheitsbewegung Kurdistans für den Frieden in Kurdistan und der gesamten Region. Dieser wird konkret u.a. in der Autonomen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien – AANES – in die gesellschaftliche Praxis umgesetzt.

Die Region ist seit Jahren von Krieg bedroht und betroffen. In unseren Medien kommt dieser Krieg kaum vor. Ein konkretes Engagement auf zivilgesellschaftlicher Ebene macht aus europäischer Sicht Angst. Viele Menschen in Deutschland haben wenig Wissen u.a. über die Region der Autonomen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien. Dass Menschen sich dort für ein friedliches Zusammenleben, unabhängig von ethnischer Herkunft, Geschlecht und Religion, einsetzen, ist wenig bekannt. Das wollten wir von Beginn an solidarisch unterstützen.

Die Mitglieder des Vereins kommen aus allen ­Bundesländern Deutschlands.

Während unserer ersten Arbeiten, Treffen und Bildungen wurde deutlich, dass wir sehr unterschiedlich sind. Wir alle kommen aus der Mitte der Gesellschaft, oft politisch und/oder gesellschaftlich engagiert und eingebunden. Wir sind in Ostdeutschland und Westdeutschland aufgewachsen und sozialisiert. Wir haben alle verschiedene Berufeund bringenviele spannende unterschiedliche Biografien und Kompetenzen ein.

Welche Ziele setzt sich der Verein?

Mit der Arbeit des Vereins »Familien für den Frieden« wollen wir für die kurdischen und multiethnischen Siedlungsgebiete in den vier Nationalstaaten Türkei, Irak, Iran und Syrien Öffentlichkeit herstellen und verstehen uns als eine Plattform für die Unterstützung der demokratischen zivilgesellschaftlichen Entwicklungen und des friedlichen Zusammenlebens der Menschen dort.

Wir fördern Projekte der schulischen und außerschulischen Bildung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.

Innerhalb des Vereins haben wir das Ziel, ein gleichberechtigtes und demokratisches Miteinander in der Praxis der Arbeiten umzusetzen, gleichberechtigt zu diskutieren, zu lernen und uns zu bilden. Wo so unterschiedliche Menschen zusammenarbeiten, bietet sich die Chance, viel voneinander und auch gemeinsam zu lernen.

Wie sieht die praktische Vereinsarbeit aus?

Wir treffen uns regelmäßig digital in verschiedenen Arbeitsgruppen. Das Miteinander stärkt uns und schafft Verbundenheit, besonders in herausfordernden Situationen.

Ein Beispiel: Als die türkischen Bombenangriffe auf Nord- und Ostsyrien im November 2022 anfingen, haben wir uns spontan getroffen und unsere Betroffenheit, Wut und Angst um die Menschen vor Ort miteinander geteilt. Daraus erwuchs unsere erste öffentliche Kampagne: Wir baten unsere Mitglieder und Interessierte darum, die Bundestagsabgeordneten ihres Wahlkreises anzuschreiben, diese über die Angriffe zu informieren, verbunden mit der Aufforderung, sich für den sofortigen Stopp der Bombardierungen der zivilen Infrastruktur in der AANES durch den NATO-Partner Türkei einzusetzen. Zum Teil konnten wir die Antworten veröffentlichen. Daraufhin entstanden einige gute und konstruktive Kontakte zu Abgeordneten. Diese erste Kampagne war wichtig für uns, weil wir damit das Schweigen brechen konnten und unsere Betroffenheit gemeinsam in Handeln umgesetzt haben.

Ein weiteres wichtiges Projekt war und ist die Fotoausstellung »Innen befreit – von außen bedroht!«. Wir hatten keine Erfahrungen mit Ausstellungskonzepten, mit den Materialien und den Präsentationsmöglichkeiten. Manchmal kamen wir an unsere Grenzen, fanden aber immer wieder Unterstützung u.a. in der Zusammenarbeit mit dem Städtepartnerschaftsverein Friedrichshain-Kreuzberg-Dêrik in Berlin. Auch unseren Partnern in Nord- und Ostsyrien fiel es nicht immer leicht zu verstehen, was es in Deutschland braucht, um jenseits der Solidaritätsbewegung für die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien die Menschen zu erreichen. Inzwischen wird diese Ausstellung an verschiedenen Orten Deutschlands gezeigt, verbunden mit Informationsveranstaltungen. In den öffentlichen Medien in Deutschland herrscht meist Schweigen zu den Entwicklungen. Wir konnten unsere persönliche Betroffenheit in unseren Kommunen, Nachbarschaften, in unserem Arbeitsumfeld oder im Familien- und Freundeskreis kaum teilen, denn die Menschen um uns herum waren wenig oder gar nicht informiert. »Davon haben wir ja noch nie etwas gehört« war eine häufige Reaktion. Wir wollen das mit Hilfe der Ausstellung ändern, vor allem ganz direkt in unserem jeweiligen Lebensumfeld.

Bewegend und erschütternd ist für uns die Tatsache, dass in der Region Kurdistan viele Menschen, die sich für den Aufbau und die Verteidigung demokratischer Rechte einsetzen, ihr Leben verloren haben. Darunter auch einige junge Menschen aus Deutschland. Es ist die Trauer, für die wir einen Platz, eine Kultur, einen Umgang finden mussten. Wie gut, hiermit nicht allein zu sein.

Welche Bedeutung hat die Arbeit des Vereins für die Mitglieder?

Wir empfinden unsere Vereinstätigkeit als wertvoll, weil wir daran wachsen. Wir lernen dazu, jedes Mal, wenn wir etwas tun, was wir vorher noch nie getan haben, zum Beispiel, wenn wir dieses Interview geben oder ein Vereinsmitglied sich in seiner Kirchengemeinde einbringt.

Wir lernen dazu, wenn wir uns z.B. nach einer internen Auseinandersetzung in der Arbeitsgruppe über die neuen Perspektiven eines Problems bewusst werden und wenn wir lernen, dem anderen zu vertrauen.

Unsere Vereinsarbeit trägt dazu bei, Informationen z.B. über die Erfolge des gesellschaftlichen Aufbaus in der AANES und über die Angriffe auf diese Erfolge in die Mitte der deutschen Gesellschaft zu bringen. Wir wünschen uns, dass unsere Arbeit einen solidarisierenden Effekt hat.

Es ist wichtig, Aufklärungsarbeit zu leisten über das, was in den vergangenen Jahren in Nord- und Ostsyrien erreicht wurde, um zu verdeutlichen, dass die Menschen in dieser Region versuchen ein Gesellschaftsmodell zu entwickeln, welches ein friedliches Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen und Ethnien sowie die Auflösung patriarchaler Strukturen beinhaltet. Nur dadurch kann die Hürde der gezielten Kriminalisierung in Deutschland überwunden werden.

Sehen Sie Erfolge in ihrer Öffentlichkeitsarbeit?

Auf den Veranstaltungen, die wir im Rahmen der Ausstellung »Innen befreit – von außen bedroht!« organisieren, erhalten wir viel Zuspruch und reges Interesse sowohl von den BesucherInnen als auch von lokalen PressevertreterInnen. Bisher leider wenig von überregionalen Medien.

Wir sind ein junger Verein, die Zusammenarbeit mit lokalen Vereinen und Organisationen läuft an. Unsere Erfahrung ist, dass man über konkrete Aktionen bzw. Veranstaltungen und eine Präsenz vor Ort auch ein weitergehendes Interesse am Thema Nord- und Ostsyrien wecken kann und eine Berichterstattung zumindest in der örtlichen Presse erreicht. Außerdem ist eine Vernetzung vor Ort sehr wichtig, um eine Weiterverbreitung der Informationen zu Nord- und Ostsyrien zu erreichen.

Wir geben zu den aktuellen Ereignissen Presseerklärungen ab, wobei der überwiegende Teil der deutschen Presselandschaft diese Erklärungen sowie den Krieg des NATO-Partners Türkei weitgehend ignoriert. Wir verurteilen diese andauernden und eskalierenden Verletzungen des internationalen Völkerrechts durch den türkischen Staat. Für uns ist es insbesondere unerträglich und unfassbar, dass dieses Vorgehen eines NATO-Partners keine öffentlichen Verurteilungen auslöst. An die deutsche Politik appellieren wir, sich ihrer demokratischen und humanistischen Werte zu erinnern und für diese auch international zu streiten, um die Friedensbemühungen der kurdischen Bewegung zu stärken und Kriegstreiber als solche zu entlarven. Seit wann entspricht es dem internationalen Völkerrecht, zivile Strukturen militärisch anzugreifen?

Wir, der Verein »Familien für den Frieden«, sind zutiefst besorgt und wollen die Menschen in der Region der »Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien« nicht im Stich lassen. Wir fordern die sofortige Einstellung der türkischen Kampfhandlungen, eine Flugverbotszone über der Region und die internationale Unterstützung des Wiederaufbaus.


  Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024