Die Türkei missachtet Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Verschärfte lebenslängliche Haft, das Recht auf Hoffnung und der Fall Öcalan

Rechtsanwältin Rengin Ergül

 

Wenn wir in der Türkei über das Recht auf Hoffnung sprechen wollen, dann kommen wir nicht umhin, den Fall von Herrn Abdullah Öcalan zu diskutieren. Recht auf Hoffnung bedeutet, dass lebenslange Haft nicht buchstäblich lebenslang sein darf. Auch zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilte Personen müssen immer die Chance auf Freilassung und Rehabilitierung haben. In der Türkei ist die »Haftstrafe bis zum Tod« von Herrn Öcalan der berühmteste Fall für die Verweigerung dieses Grundrechts. Es ist daher unmöglich, eine Diskussion über das Recht auf Hoffnung in der Türkei zu führen und eine Lösung zu entwickeln, ohne diesen Fall zu analysieren.

Bevor ich nun auf den Fall von Herrn Öcalan zu sprechen komme, möchte ich zunächst folgende Gesetzeslage in der Türkei erläutern:

Seit der Gründung der Republik Türkei bis zum Jahr 2002 gab es keine strafrechtliche Sanktion, die nicht eine bedingte Entlassung (d.h. die Möglichkeit der Freilassung) vorsah. Das galt auch für Todesurteile, die nicht vollstreckt wurden. Mit der 2002 in Kraft getretenen Gesetzesänderung wurden die Urteile der bis dahin zum Tode Verurteilten in eine verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt und so zum ersten Mal eine Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit der Freilassung im Gesetz definiert. Das Gesetz sieht vor, dass »die Bestimmungen über die bedingte Entlassung […] nicht für terroristische Straftäter […] gelten, deren Todesurteil in eine verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt worden ist. Die lebenslange Freiheitsstrafe wird bis zum Tod fortgesetzt.«

Im Jahr 2004 wurde die Todesstrafe in der Türkei vollständig abgeschafft. Fortan galt die lebenslange Haft als die schwerste Strafe im Gesetzestext. Diese Strafe sah vor, dass Personen, die von der Justiz wegen politischer Straftaten zu einer verschärften lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurden, bis zu ihrem Tod im Gefängnis bleiben müssen. Unter welchen Umständen wurde also die Todesstrafe in der Türkei abgeschafft? Die Antwort auf diese Frage kann auch Aufschluss darüber geben, warum eine verschärfte lebenslange Haftstrafe für politische Straftaten eine Haftstrafe bis zum Tod bedeutet. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, nachdem Herrn Abdullah Öcalan 1999 in der Türkei der Prozess gemacht worden war. Die Todesstrafe war durch Vorverurteilung schon vor dem Prozessende gegen Herrn Öcalan verhängt. Bereits vor seinem Prozess wurde die Todesstrafe jedoch in der Praxis nicht mehr angewandt. Die letzte Vollstreckung der Todesstrafe fand in der Türkei 1984 statt. Am 25. Oktober 1984 wurde Hıdır Aslan hingerichtet, nachdem er von der Militärjunta am 12. September 1980 zum Tode verurteilt worden war. Danach wurde kein weiteres Todesurteil mehr in der Türkei vollstreckt.

Demonstration im nordsyrischen Şehba für die Freiheit von Abdullah Öcalan am 25.Jahrestag des Beginns des "internatinalen Komplotts" - Foto: ANFSondergesetze für Öcalan

Am 10. März 2001 wurde in der Türkei das Nationale Programm zur Umsetzung der Kopenhagener Kriterien angenommen, in dem die Kriterien festgelegt sind, die Länder für eine EU-Mitgliedschaft erfüllen müssen. Im Rahmen dieses Programms wurde festgelegt, dass die Todesstrafe im Oktober 2001 abgeschafft werden soll, außer in Fällen von Krieg, unmittelbarer Kriegsgefahr und terroristischer Verbrechen. In diesem Programm verpflichtete sich die Türkei auch, das Recht auf Leben nicht zu verletzen. Im Jahr 2003 unterzeichnete die Türkei das Zusatzprotokoll Nr. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), in dem die Todesstrafe als Verstoß gegen das Recht auf Leben anerkannt wird und setzte es im selben Jahr in Kraft. Im Jahr 2004 wurde die Todesstrafe verboten und alle Bestimmungen über die Todesstrafe durch eine verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe ersetzt. Schließlich wurde 2006 das Zusatzprotokoll Nr. 13 zur EMRK ratifiziert, das die Todesstrafe vollständig verbietet. In dieser Zeitspanne klagten die Anwält:innen von Herrn Öcalan vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) u.a. wegen des verhängten Todesurteils gegen ihren Mandanten. Das Gericht gab der Klage statt und verurteilte die Türkei.

Es ist notwendig, die Auswirkungen des Urteils des EGMR in der Rechtssache Öcalan gegen die Türkei zu analysieren. Im Jahr 2002, als in der Großen Nationalversammlung der Türkei über die Abschaffung der Todesstrafe debattiert wurde, sagte Mehmet Ali Şahin, der damalige stellvertretende Ministerpräsident: »Nach Artikel 17 haben alle Terroristen, die zum Tode verurteilt worden sind – einer von ihnen ist seit dreieinhalb Jahren im Gefängnis [gemeint ist Abdullah Öcalan] – die Möglichkeit, nach dreiunddreißigeinhalb Jahren freigelassen zu werden. All das wollen wir verhindern. Das wollen wir verhindern, indem wir Todesurteile in verschärfte lebenslange Haft umwandeln und eine Regelung treffen, dass sie nicht in den Genuss von bedingter Entlassung, Aufschub und Amnestie kommen können.«

Die Äußerungen des stellvertretenden Ministerpräsidenten lassen erkennen, dass der politische Gesetzgeber die Absicht verfolgte, Abdullah Öcalan und andere politische Gefangene härter zu bestrafen. Auch in der jüngsten Geschichte der Türkei, als die Debatte über Hinrichtungen geführt wurde, sagte Mehmet Ali Şahin, diesmal in seiner Eigenschaft als Abgeordneter: »Wenn man einen Menschen hinrichtet, stirbt er einmal. Wenn man ihn schwer bestraft, tötet man ihn jeden Tag.« Dies beweist, dass die politisch Mächtigen eine verschärfte lebenslange Haftstrafe ohne Hoffnung auf Freilassung als härtere Strafe für aus politischen Gründen Verurteilte ansehen als die Todesstrafe.

Öcalans Todesurteil wurde schließlich in eine verschärfte lebenslange Haftstrafe, also »Haft bis zum Tod«, umgewandelt, ohne dass es zu einer Neuverhandlung kam. Aufgrund der lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Entlassung wurde der Fall Öcalan erneut an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getragen, und dieser verurteilte die Türkei im Jahr 2014 im sog. Öcalan-2-Türkei-Urteil erneut. Er entschied, dass die »Inhaftierung bis zum Tod« eine Verletzung des »Rechts auf Hoffnung« darstellte. Das Gericht legte vier Grundsätze fest, die das »Recht auf Hoffnung« innerhalb der Grenzen des positiven Rechts bestimmen und erklärte, dass diese Grundsätze im türkischen Recht nicht anerkannt würden. Die Bedeutung dieser vier Prinzipien ist, dass die Möglichkeit der Entlassung de jure (rechtlich) und de facto (faktisch) möglich sein sollte, dass der Gefangene Verfahrensgarantien im Prozess der Überprüfung der Haftstrafe haben sollte und dass die Haftbedingungen des Gefangenen für eine Resozialisierung geeignet sein sollten. Der Gefangene sollte, kurzgefasst, das Wissen haben, dass er eines Tages entlassen werden kann und darf nicht der Isolation ausgesetzt werden. Nach den heutigen İmralı-Bedingungen1 gilt für Herrn Öcalan jedoch das Gegenteil.

Tatsächlich hatte der EGMR nach den 2000er Jahren in einer Reihe von Urteilen begonnen, ausdrücklich auf das Recht auf Hoffnung von Verurteilten hinzuweisen und eine wichtige Rechtsprechungskette zu diesem Thema entwickelt. Nach Ansicht des Gerichtshofs sollten Verurteilte, die von den Gerichten der Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, das Recht haben, eine Überprüfung ihrer Strafe und eine bedingte Entlassung nach Verbüßung eines Teils ihrer Strafe zu beantragen. Außerdem sollte ein Mechanismus eingerichtet werden, der es ihnen ermöglicht, dieses Recht wirksam auszuüben. Diese Festlegung beruht auf der Tatsache, dass im bürgerlichen Strafrecht Haftstrafen, die als Ergebnis eines Strafverfahrens verhängt werden, nicht nur Strafcharakter haben, sondern unter anderem auch den Zweck der Resozialisierung verfolgen. Die modernen Grundsätze des Straf- und Strafvollzugsrechts verlangen daher, dass die berechtigten Gründe für die Inhaftierung von Verurteilten in bestimmten Abständen geprüft werden. Andernfalls wird dem Verurteilten die Hoffnung genommen, dass die Vollstreckung seiner Strafe zu gegebener Zeit beendet wird, was mit der Menschenwürde unvereinbar ist.

Im Rahmen dieser Bewertungen des Gerichtshofs verstoßen Systeme, die dieses Recht, das als das Recht auf Hoffnung von zu lebenslanger Haft Verurteilten definiert ist, nicht einschließen, gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Verbot von Folter). Betrachtet man die Urteile des Gerichtshofs zu diesem Thema, so stößt man auf zahlreiche Länder, in denen die Vereinbarkeit der Regelung zur Vollstreckung lebenslanger Freiheitsstrafen mit der Konvention geprüft wurde. Dazu gehören das Vereinigte Königreich Großbritannien, Frankreich, Italien, die Niederlande, Bulgarien, Ungarn, Litauen, die Slowakei, die Ukraine und Zypern. Eine weitere Gruppe von Urteilen, die einen wichtigen Platz in der Rechtsprechung des Gerichtshofs einnehmen, betrifft die Türkei und ihr Strafvollstreckungssystem.

Recht auf Hoffnung ad acta gelegt – durch die Türkei und den Europarat

Welche Schritte hat die Türkei angesichts des EGMR-Urteils und anderer internationaler Dokumente unternommen? 2015 legte die Türkei dem Ministerkomitee des Europarats, das regelmäßig überwacht, ob die Urteile des EGMR auf individueller und struktureller Ebene umgesetzt werden, einen Aktionsplan vor, in dem sie behauptete, sie habe das Öcalan-2-Türkei-Urteil übersetzt und durch alle Justizbehörden umgesetzt. Damit gab sich das Ministerkomitee des Europarats vorerst zufrieden und verfolgte den Fall Öcalan nicht weiter. In der Zwischenzeit überprüfte der Europarat jedoch Ungarn und Litauen und forderte beide Länder auf, die Gesetze über die verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe zu ändern. Im Jahr 2021 haben verschiedene Nichtregierungsorganisationen festgestellt, dass die Türkei das Öcalan-2-Urteil nicht umgesetzt und keine Schritte zur Änderung ihres Gesetzes unternommen hat.

In der Zwischenzeit legte die türkische Regierung eine manipulative Antwort und einen Aktionsplan vor. Dennoch griff das Ministerkomitee auf seiner Sitzung die Dossiers zum »Recht auf Hoffnung« erneut auf und richtete einen dringenden Appell an die Türkei, die bestehenden Rechtsvorschriften ohne weitere Verzögerung mit den Beschlüssen in Einklang zu bringen. Der Ausschuss bat um Informationen über die Zahl der Gefangenen, die lebenslängliche Haftstrafen verbüßen, und beschloss, dass die Türkei dem Ausschuss spätestens im September 2022 einen Aktionsplan über die bei den allgemeinen Maßnahmen erzielten Fortschritte vorlegen solle. Die Türkei legte daraufhin einen Aktionsplan vor, der dem vorherigen glich und keine Veränderung des status quo bedeutete. Das Ministerkomitee wiederum verfolgte regelmäßig den Prozess in allen der oben genannten Länder und schloss die Akten vieler Länder, die positive Schritte unternommen hatten. Im Falle der Türkei scheint es jedoch, dass die Dossiers zum Recht auf Hoffnung unfertig ad acta gelegt worden sind.

Der Fall von Herrn Abdullah Öcalan zeigt maßgeblich die Nichtumsetzung des Rechts auf Hoffnung in der Türkei. Das türkische Rechtssystem weigert sich, dieses Grundrecht anzuerkennen, weil es dann auch auf Herrn Öcalan angewandt werden müsste. Der Europarat hingegen weigert sich, die Umsetzung des Rechts, wie vom EGMR eingefordert, im Falle der Türkei durchzusetzen. Es bleibt somit lediglich ein letzter Schalthebel, um das Recht auf Hoffnung für Herrn Öcalan und mit ihm für unzählige weitere politische Gefangene durchzusetzen – und das ist der öffentliche Druck, inner- und außerhalb der Türkei.

 

  1 Mit »İmralı-Bedingungen« wird auf die Haftbedingungen A. Öcalans verwiesen, , unter denen er seit 1999 auf der Gefängnisinsel İmralı inhaftiert ist.


 Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023