Aserbaidschan und die Türkei setzen auf militärische Expansion im Kaukasus

Das schnelle Ende der armenischen Enklave in Bergkarabach

Elmar Millich

 

Am 24. April 1915 begannen das Osmanische Reich und seine Verbündeten einen groß angelegten Völkermord an den einheimischen Armenier:innen. Dieser als »Aghet« bezeichneten Katastrophe gedenken an diesem Datum immer noch Armenier:innen in aller Welt. Der Völkermord begann mit der Verhaftung und Deportation armenischer Intellektueller in Konstantinopel. Darauf folgten Massendeportationen der armenischen Bevölkerung in die syrische Wüste, in deren Folge ca. eine Million Armenier:innen ums Leben kamen. Tausende von Siedlungen, Kirchen und Klöstern, Schulen und Bibliotheken sowie Manufakturen wurden zerstört. Eine unbekannte Menge an Eigentum und Reichtum wurde beschlagnahmt und geplündert. Angeführt wurde dieser Völkermord vom Komitee für Einheit und Fortschritt (»İttihat ve Terakki«), den Banden der Teşkilât-ı Mahsusa (einer paramilitärischen Sonderorganisation), den Hamidiye-Kavallerie-Regimentern und den Offizieren der osmanischen Armee. Das alles unter der Beobachtung von Offizieren der mit der Türkei verbündeten deutschen Wehrmacht.

Nach 107 Jahren, in der letzten Septemberwoche dieses Jahres, kam es unter den Augen der Weltgemeinschaft als Folge der Angriffe der aserbaidschanischen Armee wieder zu einer Vertreibung fast der gesamten auf etwa 120.000 Einwohner:innen geschätzten armenischen Bevölkerung aus der Region Bergkarabach. Begonnen hatten die neuen von der aserbaidschanischen Regierung als Antiterroroperation bezeichneten Angriffe am 19. September mit massivem Artilleriebeschuss der armenischen Enklave vor allem auf deren Hauptstadt Stepanakert. Dabei kamen laut Angaben der dortigen Behörden 27 Personen ums Leben und 200 wurden verletzt. Als Folge kapitulierte die Selbstverwaltungsbehörde und verkündete ihre Selbstauflösung zum 1. Januar 2024. Es begann der Exodus der seit Jahrhunderten ansässigen lokalen Bevölkerung.

10 Karabach 20230202 armenische gemeinde qamislo jpga9c276 imageDie Zerschlagung der Selbstverwaltungsstrukturen in Bergkarabach scheint von der aserbaidschanischen Regierung von langer Hand vorbereitet worden zu sein. Im Dezember 2022 begann die Blockade des Latschin-Korridors, der Hauptverkehrsroute zwischen dem Kernland Armeniens und Bergkarabach, dessen Sicherheit in einer am 9. November 2020 unter Vermittlung Russlands geschlossenen Waffenstillstandsvereinbarung gewährleistet worden war. Die Blockade, die als angebliche Aktion von »Umweltaktivist:innen« startete, wurde von Russland als Garant des Abkommens nicht verhindert. Die Blockade hatte verheerende Folgen für die armenische Bevölkerung, die teilweise von der Strom- und Gasversorgung abgeschnitten war. Die Preise für Lebensmittel und Dienstleistungen explodierten. Zwar kam es Anfang September unter Vermittlung des Roten Kreuzes zu einer Übereinkunft, Hilfslieferungen aus Armenien über den Korridor wieder zuzulassen, falls auch Hilfsgüter aus Aserbaidschan akzeptiert werden würden. Aber wenige Tage später begannen die Angriffe und machten die Übereinkunft gegenstandslos.

Die Rolle der Türkei

Vorausgegangen waren der jüngsten Eskalation – wie schon bei den kriegerischen Auseinandersetzungen 2020 – enge Absprachen Aserbaidschans mit seinem maßgeblichen Verbündeten Türkei. Ebenfalls erfolgten auffällig viele Flugbewegungen zwischen Aserbaidschan und Israel – dem neben der Türkei – Hauptlieferanten von Rüstungsgütern. Am 23. September, kurz nach der erzwungenen Kapitulation von Bergkarabach, traf sich der türkische Präsident Erdoğan mit seinem aserbaidschanischen Amtskollegen Ilham Alijew symbolisch in Nachitschewan, einer zwischen Armenien, dem Iran und der Türkei isoliert gelegenen aserbaidschanischen Exklave, zur Grundsteinlegung für eine Gaspipeline. Erdoğan rechtfertigte die vorausgegangene Militäraggression als Operation Aserbaidschans im eigenen Land und bekundete Stolz darüber, dass sie so schnell und erfolgreich verlaufen sei.

Die nach einer langjährigen Friedensphase bis 2020 plötzlich begonnene Aggression Aserbaidschans entspringt einer eng mit der Türkei abgestimmten Strategie. Beide sehen sich als »Brudervölker« unter der gemeinsamen Ideologie des Panturkismus. Die Türkei steht hinter den neuen Angriffen nicht nur mit Worten, sondern auch durch Waffenlieferungen und der Bereitstellung von Drohnen (insbesondere der TB-2-Drohne). Bereits die Besetzung von Teilen Bergkarabachs und die Vertreibung der armenischen Bevölkerung im Jahr 2020 hatte Erdoğan als »den größten Sieg der türkischen Außenpolitik im Jahr 2020« bezeichnet. Sowohl 2020 als auch 2022 wurden Soldaten und Söldner aus den besetzten Gebieten in Syrien und Libyen nach Aserbaidschan verlegt. Auf beiden Seiten sollen 5000 Soldaten getötet worden sein. Die am 10. Dezember 2020 in Baku durchgeführte Siegesparade über Armenien nahm Präsident Erdoğan auf Augenhöhe mit Präsident Alijew ab und verkündete, der politisch und militärisch geführte Kampf sei noch nicht zu Ende, sondern werde an vielen anderen Fronten weitergehen.

Insgesamt scheint sich der aserbaidschanische Präsident seinen türkischen Kollegen Erdoğan zum Vorbild genommen zu haben. Er hält ein außenpolitisches Gleichgewicht in den Beziehungen zum Westen und zu Russland und erklärt seine militärischen Aggressionen zu »Antiterroroperationen«, analog zur Türkei, wie sie es mit ihren kontinuierlichen völkerrechtswidrigen Angriffen auf die kurdischen Siedlungsgebiete in den Nachbarländern Syrien und Irak hält. Sicher wird er auch zur Kenntnis genommen haben, dass nach dem Einmarsch türkischer Truppen 2018 in die syrisch-kurdische Provinz Efrîn die darauf folgende Vertreibung Zehntausender Kurd:innen und die anhaltend schweren Menschenrechtsverletzungen in der Region nicht zu einem internationalen Aufschrei führten.

Die internationalen Reaktionen auf die jüngste Aggression Aserbaidschans blieben verhalten, vor allem in Relation zu der sogenannten »Zeitenwende« infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. Seitens der Bundesregierung blieb es bei folgenlosen Aufrufen zur militärischen Deeskalation, wie aus einem am 22. September stattgefundenen Telefonat von Bundeskanzler Olaf Scholz mit seinem armenischen Amtskollegen Nikol Paschinjan berichtet wird. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock schloss sich der US-Regierung an und forderte eine internationale Beobachtungsmission in Bergkarabach, um die Sicherheit der armenischen Bevölkerung zu gewährleisten. Allerdings erst, nachdem schon 70 % von dort geflohen waren. Der Zentralrat der Armenier:innen in Deutschland wies in einer Presseerklärung vom 29. September darauf hin, dass er sich mehrfach an die deutsche Bundesregierung gewandt habe und die Katastrophe zu verhindern gewesen wäre.

Tatsächlich hat die Eskalation im Kaukasus die Bundesregierung auf dem falschen Fuß erwischt, hatte man mit Aserbaidschan doch gerade bedeutende Abkommen über Erdgaslieferungen getroffen, um russische Ausfälle zu kompensieren. Kanzler Scholz lobte den aserbaidschanischen Präsidenten Alijew erst bei einem Staatsbesuch am 14. März 2023 in Berlin als »Partner von wachsender Bedeutung«. Auch die meisten deutschen Medien zeigten zwar Empathie für die Armenier:innen, vermieden es aber, Aserbaidschan als Aggressor zu benennen. Zuweilen wurde auf den völkerrechtlich ungeklärten Status der Region verwiesen oder der aktuelle Angriff durch historische Rückblenden relativiert, wobei es zweifellos in dem langanhaltenden Konflikt auch zu Übergriffen der armenischen Seite gekommen sein mag. Es drängt sich der Verdacht auf, dass man die angebliche völkerrechtliche »Singularität« des russischen Angriffs auf die Ukraine nicht relativieren wollte, auf die sich Politik und Medien nach wie vor konzentrieren. Auch von anderen westlichen Staaten, der EU und den USA blieb es bei allgemeinen Appellen. Von wirtschaftlichen Sanktionen gegen Aserbaidschan oder gar militärischer Unterstützung für Armenien war nie die Rede.

Aber auch Russland ließ seinen armenischen Verbündeten fallen. Kam es schon bei der Belagerung des Latschin-Korridors seinen Verpflichtungen nicht nach, gab es genauso während der jüngsten Eskalation kaum diplomatische, geschweige denn militärische Unterstützung für Armenien. Das liegt nicht nur daran, dass Russland aufgrund seines seit anderthalb Jahren geführten Krieges in der Ukraine kaum in der Lage wäre, massive militärische Unterstützung zu leisten. Russland sieht sich im gesamten Kaukasus im Kampf um Einfluss als direkter Kontrahent der Türkei, die immer noch NATO-Mitglied ist, auch wenn sie in der Region eine eigenständige Außenpolitik verfolgt. Sich offen gegen Aserbaidschan zu stellen, hätte ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf die kaukasischen Länder deutlich zugunsten der Türkei geschwächt. Armenien wurde zum Bauernopfer.

Im Gegensatz zur Türkei richtet sich die militärische Zusammenarbeit zwischen Aserbaidschan und Israel nicht explizit gegen Armenien, sondern soll das sich seit Jahren entwickelnde Bündnis gegen Israels Erzfeind Iran stärken. Dass sich dabei die durch türkische und israelische Aufrüstung bewirkte militärische Überlegenheit vor allem gegen Armenien wendet, wird dabei von der israelischen Regierung als Kollateralschaden in Kauf genommen. Dabei gäbe es aufgrund der gemeinsamen Völkermorderfahrung des jüdischen und des armenischen Volkes im 20. Jahrhundert gute Gründe für mehr Sensibilität. Die ist allerdings von der aktuellen Regierung kaum zu erwarten, geben doch rechtsextreme Kabinettsmitglieder offen die Vertreibung aller Palästinenser:innen aus dem Westjordanland als Ziel ihrer Politik an.

Diskussion um ethnische Säuberung

Während des Exodus der armenischen Bevölkerung aus Berg­karabach setzte eine internationale Diskussion ein, ob es sich dabei um eine ethnische Säuberung handele, wie es der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan Aserbaidschan vorwarf. Dessen Regierung bestand darauf, dass die Ausreise der Armenier:innen »freiwillig« erfolge. Unterstützung für diese Sichtweise lieferte der russische Präsidialamtssprecher Dimitri Peskow mit seinen Ausführungen, es gebe keine größeren Berichte über Gewalt gegen armenische Zivilist:innen in Bergkarabach und damit auch keinen »direkten Grund« für ihre Flucht.

Allerdings haben die Armenier:innen für ihre Flucht unabhängig von der aktuellen Situation gute Gründe. Während der Kampfhandlungen 2020 und auch danach war es zu Vorwürfen der Folterungen und Exekutionen gefangener armenischer Soldaten gekommen, trotzdem diese Anschuldigungen nicht international verifiziert werden konnten. Ebenso ist die seit Monaten anhaltende aserbaidschanische Rhetorik in der Politik und den Medien von Chauvinismus und offenem Hass geprägt. Sicher Grund genug, aktuellen Sicherheitserklärungen aus Baku zur Beschwichtigung der Weltöffentlichkeit nicht zu trauen. Außerdem ist der armenischen Bevölkerung aufgrund des Völkermordes von 1915 ein Trauma zuzugestehen, vor allem wenn der Nachfolgestaat des für die »Aghet« verantwortlichen Osmanischen Reiches, die Türkei, als maßgeblicher Verbündeter und Waffenlieferant von Aserbaidschan auftritt.

Auch nach der Zerschlagung von Bergkarabach und der Vertreibung der dortigen Bevölkerung dürfte der Expansionshunger des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew noch nicht gestillt sein. Beim oben erwähnten Besuch Erdoğans in Nachitschewan forderten beide als nächsten Schritt einen von Aserbaidschan beherrschten Korridor durch südarmenisches Staatsgebiet, der die zwischen Armenien, der Türkei und dem Iran isolierte gleichnamige Enklave mit dem aserbaidschanischen Kernland verbinden soll. Dieses »Sangesur-Korridor« genannte Areal soll eine direkte Landverbindung zwischen Ankara und Baku ermöglichen und vor allem dem besseren Wirtschaftsaustausch zwischen den »turkmenischen Brudervölkern« dienen. Auf internationaler Bühne stellt sich bislang vor allem der Iran dagegen, der seine eigenen Interessen bedroht sieht. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Aserbaidschan und die Türkei sich als Nächstes daranbegeben, das armenische Kernland zu zerteilen, haben sie doch im Schatten des Ukrainekrieges von der internationalen Gemeinschaft außer verbalen Protesten nichts zu befürchten. Präsident Erdoğan schickt sich an, gegenüber den Armenier:innen mit der Politik fortzufahren, die das Osmanische Reich aufgrund seiner Kapitulation im Ersten Weltkrieg stoppen musste. Und die Welt schweigt dazu genauso wie zu seinen anhaltenden Verbrechen gegen die kurdische Bevölkerung.


 Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023