Editorial
Liebe Leser:innen,
während in Deutschland und anderswo in der westlichen Welt weiterhin allerlei Anstrengungen unternommen werden, das neue Kabinett des Erdoğan-Regimes als vemeintlich »demokratisch gewählte Regierung« der Türkei zu legitimieren und mittlerweile sogar über eine Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen sinniert wird, hat die türkische Besatzungsarmee am 20. Juli mit einer weiteren großangelegten Militäroffensive gegen die Medya-Verteidigungsgebiete im Süden Kurdistans begonnen. Der Zeitpunkt der neuerlichen türkischen Invasion, nur wenige Tage vor dem einhundertsten Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne, welcher am 24. Juli 1923 die nationalstaatliche Neuordnung des Mittleren Ostens nach dem Ersten Weltkrieg festlegte und die Teilung Kurdistans zementierte, scheint nicht zufällig gewählt.
Trotz heftigen Beschusses durch Artillerie und aus der Luft gelang es den Guerillaverbänden der Volksverteidigungskräfte, den türkischen Vormarsch prompt zum Stehen zu bringen und den Invasionstruppen schwere Schläge zu versetzen. Auch wenn die Informationslage oft äußerst eingeschränkt ist und es daher schwerfällt, sich ein detailliertes Bild von der Lage vor Ort zu machen, so weisen doch alle Berichte daraufhin, dass die türkische Armee in Zap und Metîna ins Straucheln gerät. Zur Kompensierung der eigenen Misserfolge setzt das türkische Regime auf offenen Terror gegen die Zivilbevölkerung. Sowohl in den Gebieten der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens als auch in allen Regionen Südkurdistans sind in den vergangenen Wochen zivile Fahrzeuge bis hin zu Ausflugszielen und Picknickplätzen in den Bergregionen zum Ziel türkischer Drohnenangriffe geworden.
Aus dem grün geführten deutschen Auswärtigen Amt, welches sich sonst so gerne als Verteidiger von Völkerrecht und einer vermeintlich »regelbasierten Weltordnung« aufspielt, kommt auch in diesen Tagen nichts als bleiernes Schweigen. Einmal mehr stellt die bundesdeutsche Außenpolitik damit unter Beweis, dass es letzten Endes die wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen und eben nicht die »Werte« sind, welche in der Frage von Krieg und Frieden die Position der Bundesrepublik bestimmen.
Umso wichtiger wird es vor diesem Hintergrund, dass sich eine starke Solidaritätsbewegung Gehör verschafft und den nötigen Druck auf die Regierenden in diesem Land ausübt. Insbesondere in Tagen, in welchen die BRD dem türkischen Regime durch die andauernde Verfolgung und Kriminalisierung der kurdischen Bewegung, durch Verhaftungen kurdischer Aktivist:innen sowie Abschiebungen politischer Flüchtlinge mit unerwünschten Meinungen nicht nur demokratische Grundrechte mit Füßen tritt, sondern dem türkischen Faschismus auch aktive Schützenhilfe in seinem Vernichtungskrieg leistet, lastet eine enorme Verantwortung auf der Solidaritätsbewegung und den demokratischen Kräften dieses Landes.
Als Redaktion wollen wir auch mit der vorliegenden Ausgabe des Kurdistan Reports einen Beitrag zur Erfüllung dieser Aufgabe leisten und weiterhin die Solidaritätsbewegung und die demokratische Öffentlichkeit mit den notwendigen Hintergrundinformationen, Analysen und Bewertungen versorgen, die zielgerichtete politische Aktivitäten überhaupt erst möglich machen.
Eure Redaktion
Kurdistan Report 229 | September / Oktober 2023