Aktuelle Bewertung
Gegen jede Form des Hegemonialkrieges: Das Zusammenkommen im Kampf für die Demokratie als Ausweg
Ronî Serdem, Mitglied des KCK-Komitees für Auswärtige Beziehungen
Die Chemie ist die Wissenschaft von Aktion–Reaktion und Veränderungen. Sie kann mit der Reaktion eines winzigen Tropfens ganz neue Synthesen und Erscheinungen hervorbringen. Die Dynamik des Neuen sowie die Geschwindigkeit und Kraft der Veränderung, die es im Schatten des Alten hervorruft, können sehr beeindruckend sein. Unsere Welt erlebt gerade solche erschütternden Entwicklungen.
Die Konstruktion der Moderne zur Schaffung einer »neuen Gesellschaft« auf der Grundlage des Futurismus gegen die kulturhistorische Gesellschaft hat unglaubliche Dimensionen erreicht. Im Sinne der Imagination von der Zukunft und der »neuen Gesellschaft« werden gigantische Projekte auf Kosten der Zukunft und des sozialen Zusammenhalts der historisch-kulturellen Gesellschaften und der neuen Generationen produziert. Neue »Stammes- und Clan«-Formen, neue »Urbanisierungsformen«, neue extraterrestrische Kolonien drücken im Grunde die Dimensionen der Feindschaft zur gesellschaftlichen Kultur und Geschichte aus. Allein wenn wir uns Elon Musk mit seinen Hunderttausenden von Arbeitskräften aus aller Welt, seinem Kapital von Hunderten von Milliarden Dollar, welches das Gesamtkapital vieler Länder übersteigt, vor Augen halten, können wir verstehen, wie die neu zu erschaffende »Gesellschaft und Lebensweise« aussehen soll. Die Opposition gegen Werte der gesellschaftlichen Kultur und der Geschichte organisiert sich politisch als ein dunkler Faschismus, der immer universelleren Anspruch erhebt, sich schnell organisiert und stetig voranschreitet. Wirtschaftliche, politische und kulturelle Analysen und Parameter, die auf Unterscheidungen wie Neue/Alte Welt, Nord/Süd, Ost/West, Zweite/Dritte Welt usw. beruhen, können die Fragen der neuen Ordnung nicht mehr angemessen beantworten.
Die globalen Fragen, Probleme und vor allem die Lösungen der Menschheit entwickeln sich rasch zu einem neuen und universalhistorischen Paradigma. Niemand kann die Bilder der mittelalterlichen Barbarei sehen, die uns aus Afghanistan erschrecken, die Bilder des Krieges in der Ukraine oder die als »zeitgenössisch« verkleideten Individuen, die in den USA jeden Tag mit Waffen in der Hand Massaker begehen. Die Katastrophen, die ökologischen Zerstörungen, die Armut, die Zustände des Wahnsinns, das weit verbreitete Gefühl der Hoffnungslosigkeit, der Ungewissheit, der Unsicherheit, der Zukunftslosigkeit und die aufsteigenden faschistischen Mächte auf der Grundlage von Sexismus und Religionismus, mit denen wir täglich konfrontiert sind, umgeben unser Leben in jeder Hinsicht und lassen uns den Atem stocken. Sie führen entweder zu einem ernsten Zustand der Abstumpfung, Desensibilisierung, sogar zu einem Schockzustand oder zu einer sehr schnellen Politisierung und der Suche nach einem neuen Leben. Beides breitet sich rasch aus.
Neue Realitäten
Seit einiger Zeit sind wir nicht mehr fähig, die Lage in der Welt mit dem politischen Rahmen des 20. Jahrhunderts und mit den konventionellen Stereotypen zu analysieren. Die vertrauten Dichotomien und Parameter von kapitalistisch/kommunistisch, rechts/links, progressiv/reaktionär, liberal/konservativ werden der heutigen Realität und den Entwicklungen nicht gerecht. Angesichts von Militarismus, Krieg, Einwanderung, Diskriminierung, allen Arten von demokratischen und freiheitlichen Themen, die schnell als so genannter »Terrorismus« gelabelt werden, können selbst die liberalsten oder linken Teile der Gesellschaft reaktionärere, nationalistischere, , kolonialistisch-imperialistischere und sogar rassistischere Diskurse führen als die klassisch konservativen oder sogar faschistischen Akteur:innen. In der Tat befinden sich die stereotypen sozialwissenschaftlichen Theorien aller gesellschaftlichen Entwicklungen und Konflikte sowie die darauf basierenden politischen Strukturen in einer vollständigen Krise. Auch herkömmliche Klassenperspektiven und -unterscheidungen sind einem gravierenden Wandel unterworfen. Die ökonomisch-sozialen und kulturellen Äquivalente der Unterscheidungen des vergangenen Jahrhunderts wie »Bourgeoise«, »Kleinbürgertum« und »Proletariat« können im Rahmen von Klassenanalysen nicht mehr wie gewohnt benutzt werden. In einem sehr ernsten Sinne werden in den Klassenstrukturen zunehmend totalisierende, starre, unnachgiebige Unterscheidungen mit großen Abständen dazwischen deutlich. Zu den verarmten, arbeitslosen, ohnmächtigen und bankrotten Massen gesellen sich rasch die Menschen aus der Mittelschicht. Nur sehr wenige sind in der Lage, zu den Eliten aufzusteigen.
Aufstieg aggressiverer und repressiverer Regime
Das Phänomen der Macht oder Souveränität, das stets mit dem »Staat« als einem kontinuierlichen Rechts-, Sicherheits- und Kontrollmechanismus in Verbindung gebracht wurde, hat sich zu einem sehr viel extremeren Konzept entwickelt. Die Verbindung von Macht und Souveränität, die auf einer sozialen Basis beruhen und von dort aus ihre Legitimität beziehen sollte, die auf gegenseitiger Interaktion innerhalb der Gesellschaft basiert, egal ob demokratisch oder nicht, erfährt einen sehr markanten Bruch. Herrscht tatsächlich der Staat, die Regierung, oder herrscht eine Gruppe, eine mafiöse Struktur, eine populistische Elite, die sich über alle Gesetze und Vorschriften hinwegsetzen? Oder handelt es sich letztlich um ein Machtzentrum, das eine Mischung aus all dem ist? Vor allem Europa, und in geringerem Maße auch die USA, erleben diesen Wandel langsamer. Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland und die damit verbundene Kriegsgefahr für Europa geben diesem Wandel allerdings eine »legitime« Grundlage und Rechtfertigung. Die Massen der Gesellschaft werden in einem solchen Krieg, der für beide Kriegsparteien das Ziel der imperialistischen Aufteilung und des hegemonialen Expansionismus verfolgt und der für die Völker keine anderen Folgen als die Zerstörung haben wird, auf die eine oder andere Seite gezwungen. Mit diesem Krieg expandiert die NATO als wirksamste Waffe der internationalen Hegemonie so weit wie noch nie in ihrer über 70-jährigen Geschichte. Ohne diesen Krieg wäre das nicht möglich gewesen.
Innerhalb des Systems der internationalen Hegemonie sind selbst Länder mit eher liberalen und sogar sozialdemokratischen Zügen, die weit von der harten Durchgreif- und Unterdrückungspolitik der NATO gegen die Befreiungskämpfe der Völker entfernt sind, auf Linie gebracht worden. In einem Land wie Deutschland, das einen Schrecken wie den Zweiten Weltkrieg erlebt hat und damals zur Hochburg des Faschismus geworden ist, ist eine rassistisch-nationalistisch-faschistische Partei wie die AfD im Aufwind. Generell kommen diktatorische Regime, konservative und sogar faschistische Regierungen in der Welt an die Macht. All dies deutet auf die Krise des internationalen Hegemoniesystems hin, führt aber gleichzeitig, insbesondere durch den Krieg zwischen der Ukraine und Russland, zum Aufstieg aggressiverer, sicherheitsorientierterer und repressiverer Regime. Dieser Wandel vollzieht sich auch in Regionen wie dem Nahen Osten, Asien und Afrika sehr schnell und zerstörerisch.
Gräben zwischen den Staaten vertiefen sich weiter
In seinen Krisenphasen versucht sich das hegemoniale System mit der Schaffung eines gemeinsamen Feindes zu restaurieren. Doch jedes Mal, wenn es dies tut, kommt es auch zu Rissen innerhalb des Systems, die es nachhaltig schwächen. Das 21. Jahrhundert ist geprägt von einem globalen Hegemonialsystem, in dem sich mehrere Machtpole herausentwickeln. In dieser Zeit kann kein Akteur so handeln, als hätte er das Monopol im Weltsystem inne. Innerhalb des globalen Hegemonialsystems manifestiert sich dies darin, dass viele Länder sich multiplen Beziehungen und Allianzen zuwenden und ihre eigenen nationalen Interessen in den Vordergrund stellen. Dabei werden intensive Aufrüstung, Sicherheitspolitik und die nationalistische Linie stärker betont. Die Politik Deutschlands in dieser Frage stellt ein wichtiges Beispiel dar. Obwohl es Mitglied der US-geführten NATO ist, neigt es dazu, seine Beziehungen zu China intakt zu halten, sich nicht blindlings an irgendwelchen US-zentrierten Sanktionen zu beteiligen und selbst innerhalb der EU eine Politikrichtung zu vertreten, die zuvörderst deutsche Interessen im Sinn hat. China ist mit einem Volumen von 212 Milliarden Euro seit 2016 der wichtigste Handelspartner Deutschlands.
Deutschland ist einer der Drittstaaten, die durch den Krieg zwischen der Ukraine und Russland großen Auswirkungen ausgesetzt werden. Die Interessen des von den USA geführten Hegemonialsystems sind also nicht mit den Interessen Deutschlands deckungsgleich. Dies ist gewiss keine schlechte Entwicklung oder Erscheinung, und es kann vorausgesagt werden, dass sich die Gräben zwischen den Staaten in der kommenden Zeit weiter vertiefen werden. Das Beispiel Frankreichs ist noch klarer. Da die französische Regierung nicht in der Lage scheint, die eigenen internen gesellschaftlichen Dynamiken zu kontrollieren, hat sie auch Schwierigkeiten, ihre Hegemonialinteressen in dieser chaotischen Zeit zu schützen. Auch in Frankreich beobachten wir, dass eine faschistisch-nationalistische, rassistische Politik auf dem Vormarsch ist. In dieser Situation ist die Vision eines geeinten Europas nicht mehr als ein bürokratielastiger, aber unwirksamer Buckel. Ein geeintes Europa, dem es gelingen würde, das Phänomen des Nationalstaates und des Nationalismus im eigentlichen Sinne zu überwinden, das föderalistisch wäre und seine eigenen demokratischen Werte schützen würde, hätte einen sehr wichtigen Durchbruch darstellen können. Es hätte zu einem universelleren, pluralistischeren, versöhnlicheren und demokratischeren Europa werden können, das sich gegen alle Arten von kriegerischen Zumutungen und Unipolarität wendet. Doch die gegenwärtige Tendenz auf dem europäischen Kontinent ist eine andere.
Es ist festzustellen, dass gerade diese Struktur Europas, die immer reaktionärer und nationalistischer wird, Länder wie Schweden und Finnland dazu veranlasst hat, eine nationalistischere und antidemokratischere Linie einzuschlagen. Der (angestrebte) NATO-Beitritt ist eine Folge dessen. Ein Weg, welcher Europa in Richtung der sozialdemokratischen und für die universellen demokratischen Werte sensibleren Linie Schwedens gelenkt hätte, anstatt Schweden in die NATO zu führen, wäre für die europäische Realität sicherlich der gesündere Weg gewesen. Doch leider ist das Land von Olof Palme in seiner jetzigen Verfassung selbst gegenüber den antidemokratischsten, reaktionärsten und diktatorischen Regimen unterwürfig geworden. Es fällt auf, dass auch Europa die Lösung in einer sehr engstirnigen, eigennützigen und reaktionären Politik sucht, indem es seine propagierten demokratischen Werte gegenüber rückständigen Regimen wie dem der Türkei zur Verhandlungsmasse degradiert. Dieses Europa unterstützt, schützt und bewaffnet solche Regime bei ihrem Vorgehen gegen Völker, selbst wenn dieses Vorgehen genozidale Züge annimmt. Die Werte, die Europa nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs unter großen Opfern für sich formuliert hat, geraten in diesen Fällen schnell in Vergessenheit. Ein zersplittertes Europa, das immer reaktionärer wird, in dem der Militarismus auf dem Vormarsch ist und rassistisch-faschistische Strukturen stärker werden, findet die Antwort für den internationalen Wandel in der Unterdrückung jeder Art von gesellschaftlicher Opposition im eigenen Land. Die Völker Europas, die die Erfahrung zweier Weltkriege gemacht haben, werden diese Politik nicht ohne Gegenwehr akzeptieren.
Suche nach einem alternativen gesellschaftlichen Leben
Die Gesellschaften Europas haben in den vergangenen 20 Jahren die immer größer werdenden Krisen des kapitalistischen Weltsystems miterlebt. Es verwundert daher nicht, dass auch mitten in Europa immer mehr Menschen sich auf die Suche nach einem alternativen gesellschaftlichen Leben machen. Die Suche nach alternativen Paradigmen, einem demokratischeren, konföderalen Autonomiemodell gewinnt immer stärker an Zuspruch. Europa ist eines der Zentren, in denen sich die von der kapitalistischen Hegemonie in den Gesellschaften geschaffenen Bewusstseins-, Lebens- und Kulturformen rasch auflösen und zusammenbrechen. Europa ist auch das Zentrum, in dem sich die Zerstörungskraft und der Stillstand des internationalen Hegemonialsystems und des jahrhundertelangen Kolonialismus am stärksten widerspiegeln. Die europäischen Länder sind die Zentren, in denen die Zerstörungskraft und die Folgen der jahrhundertelangen Hegemonie und des Kolonialismus gelenkt wurden. Die globale Migration ist die Folge des Kolonialismus und der globalen Hegemonie, die der Menschheit nichts außer Krieg, Ausbeutung, Armut und Hunger bringen.
Gleichzeitig wird dies auch ein bedeutender Bewusstseinsprozess für Europa im Hinblick auf die Auseinandersetzung, Aufarbeitung und Korrektur der eigenen Geschichte und ihrer Folgen für die Menschheit. Die Überwindung aller auf Positivismus basierenden Vorstellungen wird sehr wichtige Entwicklungen mit sich bringen, wie etwa die Begegnung mit Völkern mit mehr ideellen Werten und die Entwicklung von Empathie. Es kann festgestellt werden, dass die europäisch geprägte Sichtweise und der Ansatz, der sich von den Problemen aller Völker der Welt abkapselt und diejenigen außerhalb seiner selbst als rückständig und schwach ansieht, ernsthaft erschüttert wurde und Risse erhalten hat.
In der kommenden Periode wird sich die Infragestellung der Hegemonie und des Kapitalismus in Europa, das Zerbrechen der von ihm gesponnenen Ketten des Bewusstseins und der Lebensweisen sowie die Hinwendung zu kulturellen gesellschaftlichen Werten und demokratischen Organisationsformen stärker entwickeln. Lateinamerika, Afrika, der Mittlere Osten und Australien haben einen solchen Prozess der Infragestellung der Hegemonie, der Rückbesinnung auf ihre eigenen gesellschaftlichen Werte und deren Stärkung schon früher eingeleitet. Europa kann diesen Prozess zwar etwas verspätet, dafür aber viel stärker und schneller durchmachen. Ein solcher Ausstieg wird auch den Weg für Wandel und Transformation in den USA und anderen Ländern ebnen.
In der gegenwärtigen Phase besteht eine der Prioritäten des globalen hegemonialen Systems darin, die Beziehungen zwischen den Völkern zu unterbinden und insbesondere die Verbreitung aller Arten von alternativem Leben und freier Gesellschaftssuche zu verhindern. Alle Formen von alternativem Leben und Freiheitsbestrebungen werden auf dem internationalen Parkett schnell »terrorisiert« und kriminalisiert. Während sie selbst die dunkelsten und brutalsten Kriegspolitiken durchsetzen und alle zu einfachen Rädchen in diesen Hegemoniekriegen machen, wenden sie alle Arten von Isolation und Unterdrückung an, wenn sie die Kämpfe der Völker für Demokratie und Freiheit als »Terror« deklarieren. Im Rahmen eines gemeinsamen internationalen Konzepts arbeiten sie sehr intensiv daran, zu verhindern, dass solche Kämpfe für Demokratie und Freiheit mit der Suche der Menschheit nach einem freien Leben zusammenkommen. Doch wir werden durch unsere Beständigkeit und unseren kollektiven Willen ihre Pläne ins Leere laufen lassen.
Kurdistan Report 229 | September / Oktober 2023