Das Erdbeben und die geistige Revolution

Der Aufbau der demokratischen Moderne verhindert menschengemachte Katastrophen

Faysal Sarıyıldız, Ko-Sprecher HDP-Deutschland, ehemaliger HDP-Parlamentsabgeordnerter für den Wahlkreis Şirnex

Die Explosion der Umweltkatastrophen im Zeitalter des Kapitalismus, der angeblich die fortschrittlichste Zivilisation ist, ist ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass diese Annahme falsch ist. In den ersten 3 Millionen Jahren menschlicher Existenz hat keine Gesellschaft Katastrophen dieser Art hervorgerufen. Die ökologischen Krisen, die in der kurzen Geschichte der Zivilisation ausgebrochen sind, hängen mit ihrem zerstörerischen Wesen und ihrem Profitstreben zusammen. (Abdullah Öcalan)


In der Nacht vom 5. auf den 6. Februar dieses Jahres erlebten die Türkei, Kurdistan und die Nachbarländer um 04.18 Uhr eines der stärksten Erdbeben in der Geschichte der Zivilisation. Bei den beiden großen Beben mit Epizentrum in Gurgum (tr. Maraş) kamen nach offiziellen Angaben 50.000 Menschen unter den Trümmern tausender eingestürzter Gebäude ums Leben. Laut Augenzeug:innen, die die Katastrophe selbst erlebten, und Wissenschaftler:innen, die sich mit dem Thema auskennen, war die Zahl der Todesopfer jedoch um ein Vielfaches höher. Geht man dazu von Hunderttausenden traumatisierter und verletzter Menschen aus, die wahrscheinlich über Jahre behandelt werden müssen, wird auf erschreckende Weise deutlich, dass sich ein Naturereignis wie ein Erdbeben in eine ökosoziale Katastrophe verwandelt hat.

Obwohl bereits Monate vergangen sind, sind die Wunden des Erdbebens noch immer nicht versorgt. Tausende von Menschen kämpfen weiterhin in Zeltlagern und Containerstädten unter schwierigsten Bedingungen ums Überleben. Die lebensfeindliche Mentalität der AKP-MHP-Regierung erschwert die Situation der Menschen zusätzlich. Die einzige Lösung, die sie präsentieren, ist, die Menschen in den TOKİ-Mietskasernen1 unterzubringen und sie für den Rest ihres Lebens in Schulden zu verstricken.

Ein Erdbeben ist ein Naturereignis. Dass aus einem Naturereignis wie einem Erdbeben eine Katastrophe solchen Ausmaßes wird, ist etwas, das durch menschliches Handeln verursacht wird. Die Zentral- und Lokalregierungen, die durch ihre Profitgier die ökologische Zerstörung vorantreiben, sind bestrebt, sich und ihren Verbündeten die Taschen noch mehr zu füllen. Auch die Häuser, die trotz gesetzlicher Vorgaben und eindeutiger Warnungen nicht erdbebensicher gebaut werden, sind dafür ebenso ein Indiz wie die Häuser, die in den Flussbetten gebaut werden: jeder Regen wird zu einer selbst gemachten Katastrophe. Die an maximalem Profit orientierte Mentalität des Systems der kapitalistischen Moderne, dessen Naturfeindlichkeit in Verbindung mit Industrialismus keine Grenzen kennt, sieht es für die Wahrung seiner Interessen als unabdingbar an, auf Erdbebensicherheit der Häuser zu verzichten und am Material zu sparen. In einem Land wie der Türkei, in dem die Kriegswirtschaft dominiert, ist das menschliche Leben so wertlos, dass der Tod als Teil eines »Plans des Schicksals« angesehen wird und die religiöse Legitimierung der Ausbeutung mit dem Gesetz des maximalen Profits fest verflochten wird.

Der Staat liegt unter den Trümmern begraben

Tausende von Menschenleben hätten trotz allem durch eine adäquate Reaktion innerhalb der ersten Tage nach dem Erdbeben gerettet werden können, aber es gab keine staatlichen Einrichtungen, die dies hätten ausführen können. Im Erdbebengebiet, wo die Temperatur in der Nacht auf bis zu -20 Grad Celsius fiel, wurden staatliche Einrichtungen in den ersten drei Tagen so gut wie nicht aktiv. Zehntausende von Menschen, die unter den Trümmern eingeschlossen waren, erfroren. Und obwohl seit dem Erdbeben bereits Monate vergangen sind, werden immer noch Leichen unter den nicht geräumten Trümmerstätten gefunden. Das 2018 eingeführte faschistische Präsidialsystem versprach eine Alternative zu bürokratischer Langsamkeit und Schwerfälligkeit zu sein, aber es hat sich gezeigt, dass dieses System, das den Menschen das Leben mit mitternächtlichen Dekreten schwer macht, extrem schwerfällig ist, wenn es um die Rettung von Menschenleben geht.

Als der Staat nach einigen Tagen im Katastrophengebiet eintraf, war das Erste was er tat, Hilfsmaßnahmen zu blockieren und die als Notunterkunft vorgesehenen Zelte zu verkaufen. Hilfslieferungen aus der ganzen Türkei und Kurdistan wurden von den staatlichen Ordnungskräften an vielen Stellen blockiert, Hilfsgüter wurden tagelang in Lagern festgehalten. An den Anlaufstellen wurde die Verteilung der Hilfsgüter mit allen Mitteln behindert. Die unmoralische AKP-MHP-Regierung, die die Zelte des Roten Halbmonds gegen Geld verkaufte, traf weiterhin schändliche Entscheidungen, indem sie selbst aus einer solchen Katastrophe versuchte, Profit zu schlagen.

Hilfszentrum unter Zwangsverwaltung
Das Erdbeben hat die Menschen durch eine enorme Solidarität zusammengeführt. Viele politische Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft eilten den Erdbebenopfern zu Hilfe. Die HDP (Demokratische Partei der Völker) war eine der Parteien, die sofort nach Bekanntwerden des Erdbebens ihre Kraft auf das Erdbebengebiet konzentrierte. Die HDP, die durch den Kobanê-Prozess2 und die Parteiverbotsverfahren geschwächt werden sollte, organisierte trotz der Hindernisse vom ersten Tag an materielle und mentale Hilfsmaßnahmen mit Hunderten von Mitarbeiter:innen. In Pazarcık beispielsweise, wo die alevitischen Kurd:innen, die das Maraş-Massaker3 erlebt hatten, auf engem Raum lebten, richtete die HDP ein Hilfsdepot sowie eine Koordination ein und brachte die Hilfsgüter aus Kurdistan und der Türkei zu den Menschen. Tagelang versuchten die Mitarbeiter:innen, denen es an Grundausstattung wie Toiletten und Waschmöglichkeiten mangelte, den Erdbebenopfern so gut sie konnten zu helfen und teilten, was sie hatten.

Die Einwohner:innen von Markaz (Pazarcık), sowohl die Alevit:innen als auch die Sunnit:innen, die den Staat nicht auf ihrer Seite sahen, schätzten dieses Engagement sehr. Die AKP-MHP-Regierung, die versucht, das kurdische Volk zu spalten, indem sie Alevit:innen und Sunnit:innen gegeneinander ausspielt und den politischen Willen durch die Ernennung von Zwangsverwaltungen verhindern will, hat mit der Ernennung eines Zwangsverwalters für dieses Hilfszentrum eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die vom Staat in den Kommunen, in denen die HDP die Bürgermeister:innen stellte, ernannten Zwangsverwalter haben nichts im Namen der Hilfe getan. Hätten in diesen Gemeinden jedoch die gewählten Bürgermeister:innen der HDP ihr Amt ausüben können, hätten Tausende von Menschen gerettet und die Missstände nach dem Erdbeben beseitigt werden können. Die Gemeinde Patnos ist ein Beispiel dafür.

Erdbeben und demografische Manipulation
Durch die Tatsache, dass die meisten der zehn vom Erdbeben betroffenen Provinzen in Kurdistan lagen, offenbarte sich das Handeln des Staates in den mentalen Codes der im Staatsapparat tief verankerten Feindseligkeit gegenüber Kurd:innen und Alevit:innen. Sowohl die subtile Diskriminierung bei der Verteilung der Hilfe als auch die Tatsache, dass das Erdbeben als gute Gelegenheit für demografische Manipulation angesehen wurde, zeigen, welches Ausmaß diese Feindseligkeit angenommen hat.

Der Staat, der das Maraş-Massaker mit dem Ziel organisiert hatte, die demografische und sozioökonomische Struktur der Stadt zu verändern, sah in dem Erdbeben eine Gelegenheit, die gleichen Zwecke zu verfolgen, und wollte, dass die alevitischen Kurd:innen so weit wie möglich von ihrem Land abwandern. Ziel war die Entvölkerung der Region. Die faschistische AKP-MHP-Regierung, die das Engagement der HDP und der demokratischen Organisationen in Nordwestkurdistan, wo eine intensive Spezialkriegspolitik betrieben wird, als Gefahr ansah, versuchte, die Hilfsleistungen mit allen Mitteln zu verhindern, indem sie Hilfszentren unter Zwangsverwaltung stellte, Hilfsfahrzeuge und Lagerhäuser beschlagnahmte und alles daransetzte, um die Begegnung mit der Bevölkerung zu verhindern.

Lehren, die aus der Katastrophe gezogen werden müssen

1. Es braucht starke lokale Verwaltungen
Das Erdbeben hat deutlich gezeigt, dass in solchen Momenten der Krise nicht alles von Ankara aus gesteuert werden kann. Ein System, in dem lokale Regierungen in ihren eigenen Regionen mehr Macht haben und nicht ein zentralisierter Staatsapparat, ist notwendig und wird sich durchsetzen. Die katastrophalen Missstände in allen Erdbebenprovinzen zeigen, dass die Türkei nicht von Ankara aus verwaltet werden kann und dass regionale, autonome Verwaltungssysteme erfolgreicher auf Krisenmomente reagieren können.

Eine politische Mentalität, die es für angemessen hält, Soldat:innen und Polizist:innen, die normalerweise im Einsatz sind, um Menschen zu töten, nicht mit der Beseitigung von Erdbebentrümmern und der Rettung von Menschenleben zu beauftragen, nur um den Eindruck einer vermeintlich starken Macht zu erwecken, ist eine größere Katastrophe für das Land als das Erdbeben selbst.

Es hat sich gezeigt, dass zentrale Verwaltungen nicht funktionieren und dass das Modell der demokratischen, autonomen Verwaltung eine lebensnahe Art der Regierung ist. Für eine demokratische, partizipatorische und starke lokale Regierung sollten die Befugnisse vom Zentrum auf die lokale Ebene übertragen und die Ressourcen durch ein demokratisches und wirtschaftliches Modell verteilt werden. Aus diesem Grund befürwortet das politische Paradigma unserer Partei starke lokale Regierungen, deren Streben nicht auf Gewinn und Profit ausgerichtet ist, damit Naturereignisse nicht zu ökologischen Katastrophen werden und zukünftig vor Ort und schnell geholfen werden kann.

26 02 2023 Hamburg Geld fur die Erdbebenopfer nicht fur den Krieg2. Es braucht eine gut organisierte Zivilgesellschaft
Die Grundlage der moralischen und politischen Gesellschaft ist die organisierte Zivilgesellschaft. Aus diesem Grund betrachtet die kapitalistische Moderne alle Formen der sozialen Organisation als gefährlich. Angesichts dessen muss die Organisation von Haus zu Haus, von Straße zu Straße zur Priorität gemacht werden. Im Falle einer Krise oder Katastrophe werden die bereits gebildeten Nachbarschaftskommissionen von der ersten Intervention an bestimmen, wer welche Aufgaben übernehmen soll. Diese Kommissionen, die alle möglichen Schulungen erhalten haben, werden im Krisenfall in der Lage sein, sozusagen ihre eigenen Wunden zu verbinden, ohne auf Hilfe von irgendwoher zu warten. Der Staat, die lokalen Verwaltungen und andere nichtstaatliche Einrichtungen werden natürlich beteiligt sein, aber die organisierte Gesellschaft ist die Grundvoraussetzung dafür, dass all diese Mechanismen funktionieren können.

3. Es braucht eine geistige Revolution gegen Erdbeben
Der Kampf für die Ökologie sollte mehr denn je auf unserer Tagesordnung stehen und im Kampf gegen den Kapitalismus mindestens so wichtig sein wie der Klassenkampf. Zu verhindern, dass Naturereignisse wie Erdbeben zu Katastrophen werden, wird nur möglich sein, wenn wir eine Revolution der Mentalität in unserer Beziehung zur Natur verwirklichen. Der Weg dazu ist der Aufbau der demokratischen Moderne, die das Leben als heilig ansieht und es gegen die Mentalität des Kapitalismus, die das menschliche Leben missachtet, in den Mittelpunkt stellt. Ein ökologisches Leben und die umfassende Vorbereitung auf Katastrophen werden verhindern, dass Naturereignisse zu großen Zerstörungen führen. Neben dem Aufbau starker lokaler Regierungen, die nicht profitorientiert sind, ist es nun eine unausweichliche Aufgabe, solidarische Strukturen aufzubauen, in denen jedes Viertel und jede Straße organisch miteinander organisiert ist.

 

Fußnoten

1  TOKİ (Toplu Konut İdaresi) ist eine staatliche Wohnungsbaugesellschaft

2  In dem als »Kobanê-Prozess« oder »Kobanê-Verfahren« bekannten Schauprozess sind insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung angeklagt, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden.

3  Das Pogrom von Maraş, auch Kahramanmaraş-Massaker genannt, wurde vom 19. bis zum 26. Dezember 1978 ausgeführt. Das Pogrom ist neben dem Massaker von Dêrsim und dem Brandanschlag von Sivas eines der Pogrome in der Türkei gegen die alevitische Glaubensgemeinschaft.  Dabei kamen mehr als 100 Menschen ums Leben, Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, Häuser und Arbeitsstätten geplündert.


  Kurdistan Report 229 | September / Oktober 2023