Ein autobiografischer Bericht aus der Zeit der Befreiung Kobanês

Die Erfüllung des Traumes von Millionen von Menschen

Dilpak Jîn

Der Beginn der Revolution in Rojava war wie ein Weckruf. Für Millionen von Kurd:innen war es so, als würde plötzlich jemand rufen: »Steht auf! Euer Traum von Freiheit wird wahr!« Die Revolution der Völker war angebrochen.

Für mich, wie für viele von uns, waren es vor allem die Frauen an der Front und ihre oft entscheidende Rolle im Kampf für die Revolution, die uns am meisten beeindruckt haben. Als wir die Bilder der Kämpferinnen der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) sahen, schienen die Göttinnen unserer alten Mythen und die Tradition der Muttergöttinnen plötzlich lebendig zu werden. Wir waren stolz auf sie, denn sie gaben uns Kraft. Je länger der Kampf für die Revolution dauerte, desto mehr dieser Frauen mit ihren »reinen Herzen«1 ließen ihr Leben. Auch wenn wir nicht bei ihnen waren, brannten unsere Seelen und Herzen jedes Mal, wenn wir sahen, dass eine von ihnen gefallen war. Viele dieser Frauen ließen ihr Leben in der Hoffnung, dass andere junge Frauen ihren Platz einnehmen würden. Damals sah ich diese Hoffnung in dem Lächeln, das jede von ihnen auf den Lippen zu haben schien. Es war eine Hoffnung, die ich tief in meinem Herzen spürte.

Ruf nach Freiheit und Ankunft in Rojava
Ein Jahr nach dem Beginn dieser Revolution der Völker ging von Rojava aus ein Aufruf durch Kurdistan und die Welt. Es war ein Appell an unser Gewissen: »Erhebt euch!« So sehr ich auch versuchte, mich an den mir in die Wiege gelegten Vorstellungen zu orientieren, konnte ich meine Augen und Ohren nicht vor diesem Aufruf verschließen. Es war ein Appell an mein Gewissen, in dessen Folge ich mich mehr und mehr den revolutionären Träumen hinzugeben begann. Die Zeit der Akzeptanz war vorbei, ich wollte nichts mehr dulden, ich wollte eine klare rote Linie ziehen, und diese Linie war weit überschritten. Gepackt von dieser Spannung und der nervösen Freude, die Revolution aus der Nähe zu sehen, betrat ich dann 2013 zum ersten Mal befreiten Boden in Kurdistan.

Als ich mich umsah, war ich zunächst überrascht. Vor allem das Gebiet von Cizîrê bis Kobanê war eine trockene Ebene ohne erkennbare Erhebungen oder Senken. Besonders im Sommer war es wie in der Wüste, alles schien zu kochen. Kein Mensch schien es dort auch nur eine Minute aushalten zu können. Das einzige, was uns diese Hitze ertragen ließ, war das schöne Lächeln der Menschen, wo immer wir sie trafen. Man merkte, dass diese Nervosität und die Freude der Revolution nicht nur uns, sondern alle Menschen dort erfasst hatte. In Rojava schienen die Menschen plötzlich wie Blumen aufzublühen.

Die Menschen waren auch an den Kämpfen und am Aufbau beteiligt. Sie waren offensichtlich sehr überzeugt und sehr welatparêz2, sowie aufopferungsvoll. Wir unterstützten uns gegenseitig und gaben uns die nötige Kraft. Tag für Tag schritt die Revolution voran und brachte die Menschen, allen voran uns Frauen, Schritt für Schritt der Freiheit näher. Inzwischen war auch ich eine Revolutionärin geworden und hatte das glückliche Los gezogen, in das freie Rojava zu gehen.

Hauptstadt der Revolution und Zentrum des Krieges: Kobanê
Im Chaos des Krieges und der Revolution geschah so viel, dass ich gar nicht merkte, wie die Zeit verging. Seit einem Jahr war ich nun Militante der kurdischen Befreiungsbewegung. Es war im Oktober 2014, als der große Krieg in Kobanê begann. Es waren die Banden des sogenannten Islamischen Staates (IS) mit ihren am besten ausgebildeten Leuten, die in Zusammenarbeit mit den Agenten des türkischen Staates den Angriff auf Kobanê starteten.

Kobanê war der Ausgangspunkt der Revolution gewesen. Bereits damals, als sich die kurdische Befreiungsbewegung im Aufbau befand, zeichnete sich das ab. Rêber Apo3 war damals über diese Stadt nach Rojava gekommen und hatte viel mit den Menschen dort gearbeitet und dadurch die Grundlage für den 19. Juli4 geschaffen.

Die Bedeutung der Stadt Kobanê war auch dem Feind bewusst und er hat deshalb versucht, von dort aus seine Schreckensherrschaft zu errichten. Das ist die Dialektik dieser Stadt. Auf der einen Seite unser Traum von Freiheit, auf der anderen Seite der Traum der Banden von absoluter Herrschaft. Die Stadt erlebte den größten menschenmöglichen Widerstand, aber auch den größten Verrat an der Menschlichkeit. In diesem Kampf kam es auf viel an, und deshalb hatten wir uns alle geschworen, dass, komme was da wolle, nur ein erfolgreicher Kampf akzeptabel sei. Noch nie waren wir unseren Träumen so nahe.

Die kurdische Gesellschaft strömte wie ein Fluss nach Kobanê, als die kurdische Befreiungsbewegung beschloss, bis zum Ende Widerstand zu leisten. Kobanê sollte zur Hochburg des Jahrhundertwiderstands und zum Ort der Erfüllung so vieler Träume werden.

Der Weg ins Herz des Widerstandes
An diesen Tagen waren wir eine Gruppe von Hevals5 unter der Führung von Şehîd6 Rojen Rojhilat in einem Dorf im Kanton Cizîrê. Obwohl wir sehr isoliert waren, hatten wir erfahren, dass 10 unserer Hevals Anfang des Monats in Kobanê eingedrungen waren. Das war eine sehr erfreuliche Nachricht für uns, auch wenn wir traurig waren, weil wir keine Gelegenheit hatten, uns voneinander zu verabschieden. Vor allem zwei Fragen drängten sich uns allen auf: »Werden wir die Hevals wiedersehen?« und »Wann werden wir die Möglichkeit haben, nach Kobanê zu gehen?«.

Noch am selben Tag wurde unsere Gruppe von unserem Tabûr7 getrennt und zog weiter. Ich verabschiedete mich von Heval Rojen. Lachend schüttelten wir uns die Hände und umarmten uns. Auf dem Weg wünschte ich mir, ich hätte Heval Rojen länger in meinen Armen gehalten. Einige Wochen später erreichte mich die Nachricht, dass sie gefallen war.

Als wir in der Kommandozentrale ankamen, teilte uns Heval Yilmaz mit, dass wir nach Kobanê gehen würden. Wir waren auf einen Schlag so glücklich, dass wir nicht wussten, was wir tun sollten. Wir konnten nicht einmal still sitzen. Die ganze Müdigkeit und Erschöpfung der letzten Monate schien von einer Sekunde auf die andere von uns abzufallen.

Obwohl die meisten von uns bereits an Offensiven im Kanton Cizîrê teilgenommen hatten, hatten fast alle nur wenig Kampferfahrung. Wir waren eine Gruppe Jugendlicher, die sich voller Nervosität und Überzeugung auf den Weg in die sagenumwobene Stadt aufmachte.

Verteidigungslinie von Şehîd Zîlan bis Şehîd Arîn
Wir waren sehr interessiert an allen Nachrichten über die Entwicklungen in und um Kobanê. Wo immer es möglich war, haben wir versucht, ein Radio oder einen Fernseher zu bekommen, um auf dem neuesten Stand zu sein. Kurz bevor wir nach Kobanê aufbrachen, schalteten wir bei einem Halt wie immer sofort den Fernseher ein. Eine Eilmeldung lief. Sie lautete: »Die YPJ-Kämpferin Arîn Mîrkan hat sich auf dem Hügel Miştenûr in einer selbstaufopfernden Aktion den Banden des IS entgegen geworfen und viele von ihnen getötet.«8

Der Krieg hatte sich immer mehr ausgeweitet, der Feind zog dort alle seine Kräfte zusammen. Sie haben buchstäblich versucht, uns in der Stadt zu ersticken. Rêvan Rojava9 und Arîn Mîrkan wollten das durchbrechen. Als wir damals von Heval Arîn hörten, gab uns das Kraft. Unsere Herzen und Köpfe waren voller Wut und Zorn. Die Aktion von Heval Arîn war für uns ein Zeichen des Widerstandes, ein Zeichen, dass wir nicht einfach aufgeben würden. Eine Verbindung zu Heval Zîlan10, die uns allen viel bedeutete. Es war ein Signal an alle, dass wir siegen würden.

Neben der Nachricht über Heval Arîn erreichte uns vor allem diejenige über die Menschen an der Grenze zu Rojava11. Die Menschen aus Nordkurdistan waren in Massen an die Grenze zu Kobanê geströmt. Sie haben dort protestiert, Widerstand geleistet und damit verhindert, dass der türkische Staat von dort aus in den Krieg eingreift. Wir haben die Bilder der Menschen an der Grenze gesehen und die Hoffnung in ihren Augen. Wir sagten uns, dass es unsere Pflicht sei, Heval Arîn zu rächen und die Träume dieser Menschen, unseres Volkes, zu erfüllen. Jetzt gab es wirklich kein Halten mehr und wir machten uns sofort auf den Weg nach Kobanê.

Verteidigung der Stadt
Als wir in Kobanê ankamen, bot sich uns ein ungewohntes Bild. Natürlich hatten wir alle viele Videos und Dokumentationen gesehen, aber das Bild, das sich uns jetzt bot, war noch einmal etwas ganz anderes. Plötzlich waren wir mittendrin und sahen mit eigenen Augen, was in der Stadt passierte. Im ersten Moment hatte ich das Gefühl, in einem Weltkrieg gelandet zu sein, im dritten Weltkrieg und dabei an der heißesten Front. Ständig war Gefechtslärm zu hören. Im Abstand von wenigen Minuten gab es immer wieder Explosionen, die so stark waren, dass es schien, als würde die ganze Stadt erschüttert.

Wir mussten uns schnell an das Stöhnen der Verwundeten gewöhnen, wir mussten lernen, den Kopf einer Freundin zu halten, während sie ihren letzten Atemzug tat, und unsere Augen daran gewöhnen, aufmerksam ihren Lippen zu folgen, während sie ihre letzten Worte sprach. Der Feind kam nicht voran und versuchte zunächst, mit schweren Waffen und Selbstmordattentätern in mit Sprengstoff beladenen Autos Zerstörung und Verwirrung in unsere Reihen zu bringen.

Am Tag unserer Ankunft in Kobanê war das islamische Opferfest. Die Banden hatten die Parole ausgegeben: »Unser Opfergebet werden wir in Kobanê beten!« und Erdoğan verbreitete über die Medien die Botschaft: »Kobanê ist gefallen, es wird bald fallen«. Keine ruhige Sekunde blieb uns an der Front. Auf dem Hügel von Miştenûr hatte sich ein immenser Kampf entwickelt, nachdem Heval Arîn dort den Banden entgegengetreten war. Hunderte der Islamisten wurden dort getötet und auch viele unserer Hevals wurden dort verwundet oder fielen. Schließlich entschieden sich die Hevals, sich in die Stadt zurückzuziehen. In den folgenden Kämpfen fiel eines der Hauptquartiere der Asayîş12 in die Hände der Banden. Genau zu diesem Zeitpunkt trafen wir auf die Hevals. Wir hatten uns in der zerstörten »Gelben Schule« verschanzt, andere hatten sich verstreut in Häusern rund um das besetzte Hauptquartier positioniert. Wir waren zu fünft oder sechst in der Schule. Die meisten Hevals um uns herum und in den Stellungen in unserer Nähe waren sehr neu und unerfahren. Einige waren erst seit zwei Monaten dabei und standen schon hier mit uns an der Front des Widerstands.

Nach dem Rückzug vom Miştenûr-Hügel nach Kobanê hat sich unsere Kriegstaktik geändert. Wir gingen von den Kämpfen in den Dörfern zu den Kämpfen in den Straßen und Gassen über. Ich kannte die Stadt damals überhaupt nicht, und wir Neuankömmlinge konnten die Stadt auch nicht ­ausreichend erkunden. Für uns galten daher zwei Hauptziele: erstens den Feind nicht weiter vorrücken zu lassen und zweitens die eigenen Stellungen nicht aufzugeben. Es bestand immer die Gefahr, angegriffen zu werden. Man konnte sich nie sicher sein. So kam es zu vielen Gefechten, in denen wir oft siegten, aber auch oft zurückgedrängt wurden. Wir mussten gegen alle Angriffe gewappnet sein und auch selbst überlegen, wie wir uns aus der festgefahrenen Situation befreien konnten.

So verteidigten wir eine Zeit lang unsere Stellungen in der Gelben Schule, bis eines Tages die Hevals kamen und uns mitteilten, dass dringend jemand in die benachbarten Stellungen gehen müsse. Ich wusste, dass eine größere Operation vorbereitet wurde und meldete mich sofort freiwillig. Als wir dort ankamen, wurden wir von den Hevals herzlich empfangen. Im Keller eines Gebäudes hatte sich die Kommandantur des Abschnitts versammelt und arbeitete einen Plan aus. Ziel war es, den Banden das strategisch wichtige Hauptquartier der Asayîş zu entreißen.

Die Besprechung der Hevals dauerte relativ lange, alle Eventualitäten mussten berücksichtigt werden. Wir waren sehr gespannt auf den Plan. Um im Krieg erfolgreich zu sein, ist es von großem Vorteil, die Umgebung zu kennen. Da ich mich in der Stadt noch nicht so gut auskannte, nutzte ich die Gelegenheit, die sich mir bot, während die Hevals sich berieten, und erkundete die Umgebung aus der Ferne, wobei ich mich auf das Hauptquartier konzentrierte. Das war eine Erfahrung, die ich aus früheren Offensiven mitgebracht hatte. Generell wollte ich in den Gefechtspausen keine Zeit verlieren.

Als ich von der Wache zurückkam, sah ich, dass alle Hevals gut gelaunt waren. Heval Xwînrêj war gekommen. Man merkte sofort eine Veränderung, die durch ihn in die Gruppe gekommen war. Die Hevals waren noch besser gelaunt, alle lachten und saßen zusammen. Heval Xwînrêj hatte einige Dinge mitgebracht, die wir gut gebrauchen konnten; vor allem Grüße von Hevals aus anderen Stellungen.

Die Stellung von Heval Xwînrêjs Einheit befand sich in unserer Nähe und war auch in einer zerstörten Schule untergebracht. Erst kurz zuvor hatte ich die Hevals dort kennen gelernt. Heval Xwînrêj war ein überaus herzlicher Mensch, der seine positive Energie überall verbreitete und mich schnell angesteckt hatte. In den Diskussionen hat er uns immer motiviert. Immer sagte er: »Hevals, nicht mehr lang, dann erobern wir das Hauptquartier, womit der Weg zur Befreiung Kobanês frei wird!« Als er sich wieder von uns verabschiedete, gaben wir ihm unsererseits Grüße mit auf den Weg. Er ging zurück zu seiner Stellung, um den Hevals dort den Plan für unseren kommenden Angriff mitzuteilen, anschließend kam er direkt wieder zurück. »Die Hevals grüßen zurück. Lass uns dieses Hauptquartier erobern und Kobanê befreien, dann könnt ihr einander selbst grüßen!«, sagte er mit seinem grinsenden Gesicht, als er an mir vorbeihuschte.

Kampf um das besetzte Asayîş-Hauptquartier
Heval Xwînrêj und ich waren beide der Einheit zugeteilt, die den direkten Angriff durchführte. Heval Xwînrêj begann unseren Angriff, indem er mehrere Handgranaten in den Eingang des Hauses warf. Wir drangen sofort in das Gebäude ein und waren in heftige Kämpfe verwickelt. Der Feind war nie weiter als 10-20 Meter von uns entfernt. Zuerst stürmten drei Hevals in das Gebäude, während wir ihnen von außen Feuerschutz gaben, dann folgten wir ihnen. Da unsere Munition insgesamt knapp war und wir praktisch keine Granaten hatten, hatten wir uns für selbstgebastelte Bomben entschieden. Sie waren in ihrer Wirkung nicht weniger tödlich als herkömmliche Granaten. Während des Gefechts zündete Heval Xwînrêj eine weitere Bombe. Im Prinzip genau in dem Moment, als er sie zündete, hörten wir schon die Explosion. Es war sofort klar, dass die Bombe in seinen Händen explodiert sein musste. Ich rannte sofort zu ihm.

An beiden Händen waren ihm die Finger abgerissen worden, und auch am Kopf hatte er eine Wunde. Ich legte seinen Kopf auf meinen Schoß und tastete ihn vorsichtig ab. Meine Finger ertranken förmlich im Blut. Überall schien Blut zu fließen und er stöhnte schwer. Ich war geschockt. Noch nie hatte ich einen so schwer verletzten Menschen gesehen, der noch lebte. Sein Stöhnen brannte sich in meine Seele ein. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Das einzige, was mir einfiel und was ich immer wieder sagte, war: »Heval, kein Problem. Wir haben ein gepanzertes Fahrzeug angefordert, es wird dich abholen und dann wirst du wieder in Ordnung sein«. Wir riefen das Fahrzeug und zogen Heval Xwînrêj aus der Schusslinie, damit er nicht sein Leben verlor, aber da der Beschuss immer heftiger wurde und wir nun weniger waren, blieb mir keine Wahl. Ich musste zurückkehren, um die Hevals zu unterstützen und ihnen Schutz zu gewähren. Ich überließ Heval Xwînrêj der eintreffenden Verstärkung und kehrte zu meiner Stellung zurück.

Innerhalb kürzester Zeit gelang es uns gemeinsam, das Gebäude Zimmer für Zimmer zu säubern. Trotz aller Vorbereitung und Unterstützung gelang es den Banden nicht, unseren Angriff abzuwehren. Die verbliebenen Kämpfer ließen ihre Toten zurück und flohen. Ein letztes Mal kontrollierten wir die Räume auch auf Minen, bevor wir uns einander zuwandten. Wir schauten nach jedem Einzelnen, bevor wir schließlich die Säuberung des Gebäudes meldeten. Danach lief ich sofort zu Heval Xwînrêj, der immer noch dort lag, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Ich fragte nicht die Hevals, die bei ihm waren, sondern setzte mich direkt neben ihn. Ich wollte wissen, ob er noch lebte. Ich rief seinen Namen, einmal, dann immer wieder, aber er antwortete nicht mehr. Er hatte aufgehört zu stöhnen. Ich hielt es nicht mehr aus und verließ das Gebäude, kurz darauf kam ein Heval und sagte mir, dass Heval Xwînrêj gefallen sei. Ich ging sofort zu ihm zurück.

Es war der 9. Oktober 2014, und ich kannte Heval Xwînrêj wahrscheinlich erst seit zwei Stunden. Dieser Xwînrêj mit so viel Energie, so viel Lebenslust war in meinen Händen gefallen. Dass Heval Xwînrêj als Şehîd fiel, hatte einen großen Einfluss auf mich. Was er gesagt hatte, klang mir noch in den Ohren. Taubheit breitete sich in mir aus. Das Einzige, was ich fühlte, war das unbändige Bedürfnis nach Rache. Ich schwor mir in diesem Moment, dass wir Kobanê befreien müssen, koste es, was es wolle, allein schon für diesen einen Heval. Alles andere war sinnlos. Pure Wut überkam mich. Ich ließ niemanden in die Nähe von Heval Xwînrêj. Ich blendete den Lärm der Schüsse und Explosionen völlig aus. So blieb ich bei Heval Xwînrêj, bis der gepanzerte Wagen kam. Erst dann rief ich die anderen Hevals herbei. Gemeinsam hoben wir ihn in den Wagen, und ich verabschiedete mich ein letztes Mal von ihm. Wir machten uns wieder auf den Weg, unser Ziel war unsere alte Stellung in der Gelben Schule.

Schließlich konnten wir Heval Xwînrêjs Traum erfüllen. Bei den Hevals angekommen, sah ich mich noch einmal um. Das Hauptquartier der Asayîş, das wir von den Banden gesäubert hatten, war schließlich der Anfang einer Kette. Der Reihe nach wurden alle wichtigen Gebäude in Kobanê zurückerobert und darüber dann die Stadt befreit. Doch bis dahin sollte es noch dauern.

Die Gefechte in der Gelben Schule
Am 10. Oktober waren wir wieder an unserem alten Platz in unserer alten Einheit, die jedoch Verstärkung durch Heval Botan, Bêrîtan und Siyabend bekommen hatte. Es dauerte nicht lange, bis der Feind unsere Stellung heftig angriff. Nachdem die Dschihadisten uns zuerst von vorne angegriffen hatten, dehnten sie ihren Angriff auf beide Flanken aus und standen schließlich auch hinter uns. Wir waren zu acht, als sie uns umzingelten.

Sie setzten zunächst vor allem auf den Einsatz schwerer Geschütze, was es uns fast unmöglich machte, die Köpfe zu heben. Für uns galt, uns selbst und unsere Stellungen zu verteidigen. Wir hielten uns an das, was uns Heval Botan einst gesagt hatte: »Im Häuserkampf musst du zuerst lernen, dich selbst zu verteidigen, erst dann lernst du, andere und deine Stellung zu verteidigen«. Heval Botan war bereits seit einem Monat in die Kämpfe in Kobanê involviert und hatte somit mehr Erfahrung als alle anderen. Wann immer wir in Schwierigkeiten gerieten, fand er einen Ausweg, und so war es für uns eine große Beruhigung, ihn gerade jetzt an unserer Seite zu wissen. Er war unser Fels in der Brandung, er war der Berg, auf den wir uns stützen konnten.

Unsere Ausgangslage war schlecht. Wir hatten nur Kalaschnikows mit wenig Munition zur Verfügung. Zwei oder drei Hevals hatten zusätzlich je eine Handgranate. Wenn wir also den Feind wirksam und langfristig daran hindern wollten, uns zu überrennen und die Gelbe Schule einzunehmen, brauchten wir dringend Munition, aber da wir nicht auf ein Wunder hoffen konnten, mussten wir in erster Linie darauf achten, nichts von dem zu verschwenden, was wir hatten. Wir erwiderten daher das Feuer lange Zeit nicht. Das schien den Feind noch wütender zu machen. Dazu kam, dass sie oft Drogen nahmen, bevor sie in die Schlacht zogen. Dann kämpften sie wie verrückt. Sie hatten nur ein Ziel. Sie wollten uns lebendig fangen und dann langsam unter großen Schmerzen zu Tode foltern. So bauten sie die Umzingelung auf, wie eine dicke Schlange, die sich immer weiter zusammenzieht, um ihr Opfer zu erdrosseln.

Ein wichtiger Faktor in der Taktik des IS war stets der Einsatz von Scharfschützen. Auch jetzt hatte er, bevor der Angriff startete, an allen Seiten Scharfschützen positioniert, die in alle Öffnungen der Schule feuern konnten. Das stellte für uns mit die größte Gefahr bei ihrem Angriff dar.

Als der Feind bis auf wenige Schritte an die Schule herangekommen war, begannen wir unsererseits zu schießen. Der Kampf hatte nun wirklich begonnen. Sie hatten eine große Kraft gesammelt, wir hatten nur unsere Überzeugung, an die wir uns klammerten. Zu acht versuchten wir, die ganze Schule zu verteidigen. Jeder von uns hatte sich an einer Stelle der Schule positioniert und kämpfte gegen eine zehnfache Übermacht. Noch bevor wir völlig umzingelt waren, hatten uns die Hevals von außen immer wieder über Funk zum Rückzug aufgefordert. Wir hatten das aber nicht mehr gehört, weil wir die Funkgeräte leise gestellt hatten, um unsere Position nicht zu verraten. Deshalb sahen die Hevals von außen sich gezwungen, zu versuchen die Umzingelung zu durchbrechen.

Das Gefecht wurde sehr heftig, und der Feind rückte immer weiter vor. Eine Stellung nach der anderen fiel, und die Scharfschützen versuchten, jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen. Zu Beginn wurde Heval Welat von einem Scharfschützen am Auge getroffen. Wir zogen ihn aus seiner Position und verbarrikadierten seine Stellung. Wir rückten immer näher zusammen, aber es gelang uns, einige der Angreifer zu töten. Es war zu spüren, dass der Hass und die Wut unseres Feindes immer größer wurden. Doch nun erreichte uns auch der Rückzugsbefehl. Statt uns weiter einzugraben, galt es nun, die Stellung koordiniert aufzugeben und uns einen Weg nach draußen zu erkämpfen. Wir wollten eine Linie bilden, in der einer nach der anderen vorrückte, während die anderen die Verteidigung übernahmen.

Aber es gelang uns nicht. Alle Hevals, die sich auf den Weg machten, wurden nach kurzer Zeit verwundet oder fielen. Auf jede:n verwundete:n Heval folgte ein:e ander:e, der:die versuchte, die ersten zurückzuholen. So fielen innerhalb kürzester Zeit Heval Welat, Heval Serhed, Heval Cûdî, Heval Bêrîtan und Heval Siyabend. Sie waren nicht einmal zwei Monate in der Bewegung gewesen, als sie nacheinander fielen. Der Feind wusste, dass wir nur noch zu dritt waren. Sie wollten den Vorteil nutzen und zu Ende bringen, was sie begonnen hatten.

Eine neue, noch stärkere Angriffswelle begann
Jetzt standen wir den Angreifern direkt gegenüber. Nachdem sie die anderen Hevals getötet hatten, wollten sie uns lebend fangen. Wir mussten uns also einen neuen Plan ausdenken. Wir hatten nicht mehr viele Möglichkeiten, also beschlossen wir, dass Heval Botan und ich den Garten vor der Schule unter Beschuss nahmen, während der dritte Freund den Haupteingang sicherte. Unser Ziel war es, den Feind nicht weiter in die Schule eindringen zu lassen und ihn nicht an uns herankommen zu lassen. Mitten im Kampf rief mir auf einmal Heval Botan zu, dass seine Waffe Ladehemmung habe. Sie funktioniere nicht mehr, und er wolle sich die Waffe von einem der getöteten IS-Kämpfer holen. Er stand auf und rannte los. Als ich mich nach ihm umdrehte, sah ich, dass mein Heval, der mir so viel Kraft gegeben hatte, der mir so viel geholfen hatte, mich praktisch und auch taktisch weiterzuentwickeln, kurz vor der Tür zu Boden gefallen war. Die Kugel eines Scharfschützen hatte ihn getroffen.

Damit waren wir noch zu zweit. Für uns stellte sich nur noch die Frage, wann und wie auch wir fallen würden. Nachdem Heval Botan gefallen war, sahen wir keine Chance mehr, die Schule lebend zu verlassen. Wie in einem Traum sah ich die Hevals, die gerade ihr Leben gelassen hatten, vor mir. Egal, was ich tat, ich konnte jedes einzelne Bild von ihnen, nachdem sie gefallen waren, nicht aus meinem Kopf bekommen. Kurz bevor Heval Serhed fiel, war er schwer verwundet worden. Trotzdem bat er uns, ihm eine Waffe zu geben, damit er uns weiter verteidigen könne. Er gab uns alles, er vertraute uns blind, obwohl wir uns kaum kannten. Die Kraft und die Intelligenz von Heval Bêrîtan kamen mir in den Sinn, aber auch Heval Siyabend, wie er aus der Tiefe seiner Lungen »Hevaaaaal« rief. Sein Ruf klang noch in meinen Ohren.

Es gelang uns jedoch, uns für so lange Zeit zu halten, dass die Hevals von außen den Ring durchbrachen und unsere Position erreichten. Das gepanzerte Fahrzeug, das wir angefordert hatten, um die Gefallenen abzuholen, konnte zunächst nicht durchbrechen, so dass sie einige Zeit liegen blieben und sich die Kämpfe verzögerten. Als Şehîd Cûdî uns erreichte und unseren Zustand sah – wir waren beide verwundet und hatten viel Blut verloren – war er schockiert. Er sagte, es sei ein Wunder, dass wir noch am Leben seien. Sie bestanden darauf, dass wir uns mit Hilfe der nachrückenden Hevals aus dem umzingelten Kreis zurückziehen sollten, und nach einigem Hin und Her stimmten wir zu, und die Hevals nahmen unsere Positionen ein.

Alle Hevals, die an unserer Seite gekämpft hatten, waren gefallen. Das Schlimmste für mich in diesem Moment war, dass wir beide uns zurückzogen, während unsere Hevals noch dort lagen. Immer wieder habe ich mich nach ihnen umgedreht. Es war ein Gefühl, das ich noch nie zuvor empfunden hatte.

Rückkehr nach Kobanê
Nachdem ich einige Zeit hinter der Front verbracht hatte, um meine Wunden zu heilen, wollte ich sofort an den Ort zurückkehren, an dem ich verwundet worden war. An die Ostfront von Kobanê. Inzwischen hatte sich die Front verändert. Es hatte sich eine erkennbare Verteidigungslinie gebildet und wir rückten Stück für Stück vor. Wir hatten auch nicht mehr so viele Verluste und Verwundete wie früher. Das war für uns der größte Erfolg. Uns hat natürlich auch viel Kraft gegeben, dass die meisten Kommandant:innen in Kobanê Frauen waren.

Als ich an der Front eintraf, war auch eine Einheit Hevals aus Aleppo eingetroffen, aber auch aus anderen Gebieten kam spürbare Unterstützung. Mit diesen vereinten Kräften war es uns gelungen, die Verteidigungslinie aufzubauen und dem Feind die Initiative zu nehmen. Unsere Taktik hatte sich aber auch deutlich verbessert. Die Hevals hatten aus ihren Fehlern gelernt und erfolgreiche Taktiken analysiert und weiterentwickelt. Ein Tabûr hatte vom Hügel Miştenûr am Stadtrand von Kobanê eine Offensive gestartet. Von dort aus führten sie einen Guerillakrieg gegen den IS und drangen in die Stadt ein. In der Stadt haben wir dafür unsere Stellungen ausgebaut und dafür gesorgt, dass unsere Front stabil blieb.

Als ich das zweite Mal nach Kobanê kam, waren die meisten der Hevals, die ich von früher kannte, entweder verwundet oder tot. Das vor Augen zu haben, hat mich einerseits sehr belastet, andererseits habe ich mir gesagt, dass es unsere Verantwortung ist, ihre Träume zu verwirklichen, und das hat mir Kraft gegeben. Mit einer kleinen Anzahl von Menschen, aber einer umso größeren Überzeugung und Hoffnung hatten wir in Kobanê gekämpft und den Krieg langsam für uns entscheiden können.

Wir waren zu siebt in unserer Stellung, obwohl immer wieder andere Hevals kamen und gingen. Die meisten Hevals, die bei uns waren, waren dem Aufruf an das kurdische Volk, sich dem Widerstand anzuschließen, gefolgt und so zu uns gekommen. Nach meiner ersten Verwundung waren wir fast jeden Tag in Gefechte verwickelt und hatten so viel Gelegenheit, unsere Taktiken zu entwickeln, aber auch den Feind besser kennen zu lernen. So konnten wir die Methoden entwickeln, um den Feind Stück für Stück zurückzudrängen.

Von unserer Position aus hatten wir einen freien Blick auf »Kaniya Kurdan«13. Kein Haus oder eine andere Stellung versperrte uns die Sicht. Wir hatten nur einen Garten vor uns, der im ägyptischen Stil angelegt war. Dieser Garten war sowohl für uns als auch für den Feind eine Chance. Es kam darauf an, wer sie besser zu nutzen wusste. Der Feind versuchte oft, sich durch den Garten an uns heranzuschleichen, aber es gelang uns immer, ihn zu entdecken, bevor er uns erreichte, und so konnten wir ihn mehrmals empfindlich treffen und zurückschlagen.

Als wir schon lange in der Stellung ausharrten, erreichte uns eines Tages die Nachricht von Rêber Apo. In Kobanê war es ohnehin Tradition, dass wir uns jeden Morgen über das Funkgerät Texte von Rêber Apo vorlasen. Aber an diesem Tag war es anders. Es kam die Meldung, dass auf İmralı14 Gespräche stattgefunden hätten und es eine Nachricht von Rêber Apo über Kobanê gebe. Sofort holte ich die schriftliche Nachricht von den Hevals und brachte sie zu meiner Einheit zurück, wo wir uns sofort versammelten, um sie gemeinsam zu lesen. Ein Satz, der sich mir besonders eingeprägt hat, war: »Kobanê kann der Schlüssel zur Lösung der kurdischen Frage sein. Deshalb darf die Stadt unter keinen Umständen fallen.« Wir als Militante spürten eine schwere Verantwortung auf unseren Schultern und waren stolz, diese Aufgabe zur Verteidigung und Befreiung Kobanês bekommen zu haben. Die Botschaft löste bei uns allen große Freude aus, und wir schöpften viel Kraft daraus. Als Antwort darauf wurde jedoch noch am selben Tag der Grenzübergang Mûrşîd Pinar15 von türkischer Seite angegriffen. Es war die verzweifelte Reaktion des türkischen Staates, gemeinsam mit dem IS eine letzte Offensive gegen Kobanê zu unternehmen. Wäre Mûrşîd Pinar damals gefallen, wäre Kobanê aufgrund seiner strategisch wichtigen Lage gefallen. Aber es war die Nachricht von Rêber Apo, die uns an diesem Tag die Kraft gab, diesen wichtigen Angriff abzuwehren. Der Feind musste den Angriff nach schweren Kämpfen abbrechen und sich zurückziehen.

Anfang November wurde ein Plan für die vollständige Be­freiung der Stadt diskutiert, der mit Hilfe einer großen Hilfstruppe umgesetzt werden sollte. Als ich von dem Plan hörte, bot ich mich sofort an, in eine der mobilen Operationseinheiten an der Front aufgenommen zu werden. Es dauerte nicht lange, bis ich eine Antwort der Leitung erhielt. Mein Vorschlag wurde angenommen.

Die letzte Schlacht
In Kobanê konnte man an einem einzigen Tag des Widerstands viel lernen. Ich persönlich habe in dieser Zeit viel über die Bedeutung von Krieg und Widerstand gelernt. Ich habe mir gesagt, dass ich als Frau, die so lange in die Kämpfe um die Stadt verwickelt war, zwangsläufig an der Offensive zur Befreiung der Stadt teilnehmen und natürlich an vorderster Front stehen muss. Ich war sehr aufgeregt. Ich hatte mich so weit entwickelt und wusste, dass die aktive Teilnahme an der Front mir noch einmal ein ganz anderes Gefühl geben würde. Eine ganz andere Aufregung und Moral.

Exakt nach Plan stellten wir uns als mobile Einheit auf und machten uns auf den Weg. Wir erreichten die Stelle, an der ich zum ersten Mal verwundet worden war, und zogen weiter. Jedes Mal, bevor wir den Ort verließen, sicherten wir die Stellung und übergaben sie den nachrückenden Hevals. Schließlich erreichten wir ein ehemaliges Ärzt:innenhaus in der Hal-Straße. Wir kontrollierten das Gebäude und gingen auf das Dach, um dort eine Stellung zu errichten.

Um eine gute Stellung zu haben, füllten wir Säcke mit Erde und stapelten sie vor uns auf. So waren wir besser geschützt, als wenn wir z.B. große Steine vor uns gehabt hätten. Es war eine anstrengende Arbeit, die Last zu tragen, die Säcke zu füllen und zu stapeln, und wir wurden langsam müde. Zwei Hevals setzten sich neben mich, um eine kurze Zigarettenpause zu machen, nur ich war noch auf den Beinen, denn ich wollte noch ein paar Sachen beiseite räumen. In der Zwischenzeit hatte uns der Feind bemerkt und hatte sich angeschlichen. Es war nur eine kleine IS-Zelle, aber sie hatten einen Raketenwerfer dabei. Sie richteten ihn auf uns drei und schossen. Ich verlor das Bewusstsein, bevor ich überhaupt wusste, was passiert war.

Als ich die Augen wieder öffnete, befand ich mich in einem Krankenhaus in Nordkurdistan, also auf türkischem Staatsgebiet. Ich hatte ein Auge verloren, mit dem anderen konnte ich nichts mehr sehen, und überhaupt musste ich eine Kopfverletzung haben, denn mein Kopf war komplett bandagiert. Als mir meine Lage bewusst wurde, durchfuhr mich ein Schmerz. Es war kein körperlicher Schmerz wegen der Wunden. Ich hatte immer davon geträumt, bei der Befreiung von Kobanê an der Front zu stehen und mit den Hevals auf dem Hügel von Miştenûr zu tanzen. Das hatte ich den Gefallenen versprochen. Stattdessen lag ich hier im Krankenhaus, und kurz nachdem sich mein Zustand stabilisiert hatte, wurde ich dort von den Kräften des türkischen Staates abgeholt und ins Gefängnis geworfen.

Am 26. November hörte ich im Gefängnis im Radio die Nachricht von der Befreiung Kobanês. Mein Versprechen kam mir wieder in den Sinn. Wer war wohl gerade dort? Wer war gerade dabei, den Traum von Millionen Menschen wahr werden zu lassen? Welche Hevals standen wohl gerade auf dem Hügel von Miştenûr und tanzten, um die Befreiung zu feiern?

 

   Fußnoten

1 Anspielung auf den Nom de guerre, den die Autorin später annahm. »Dilpak«, bedeutet so viel wie »die mit dem reinen Herzen«. »Jîn« steht für das Leben.

2  »Welatparêz« setzt sich aus den kurdischen Wörtern »welat« für Land oder Heimat und »parastin« für verteidigen zusammen. Es wird vor allem für die Menschen verwendet, die ihr Land lieben und es gegen Kolonialisierung und Ausbeutung verteidigen. Es bedeutet auch, eine Verbindung zur eigenen Geschichte zu haben und zur Kultur des Ortes oder der Gemeinschaft, aus der eine Person kommt. Im Gegensatz zu Patriotismus ist es verbunden mit Internationalismus, was bedeutet, dass die Kämpfe und die Verteidigung des Landes niemals zu Lasten oder im Ausschluss anderer Orte oder anderer Gesellschaften gehen.

3  »Rêber Apo« ist die respektvolle Anrede für Abdullah Öcalan, die auf seine Eigenschaft, in der Bewegung ›wegbereitend‹ (rê=Weg; ber=voraus) zu sein, hindeutet.

4  Der 19. Juli 2012 markiert den Beginn des Aufstandes von Kobanê im Zuge dessen die Revolution in Rojava begann, welche in der Existenz der heutigen Autonomen Administration Nord- und Ostsyrien (AANES) mündete.

5  »Heval« bedeutet soviel wie »Freund:in« oder »Genoss:in», und wird als Anrede für die Militanten der kurdischen Befreiungsbewegung verwendet.

6  »Şehîd« bedeutet soviel wie »Gefallene« bzw. »Gefallener«, jemand der/die sein/ihr Leben für ein Ziel gegeben hat, das größer als er/sie selbst ist. In diesem Fall deutet es an, dass die Kämpferin Rojen Rojhilat mittlerweile im Kampf ihr Leben gelassen hat.

7  »Tabûr« ist in der kurdischen Militärsprache die Bezeichnung einer Einheit, die in etwa einem Bataillon entspricht. Bei der heutigen YPG ist die kleinste Einheit das »Tîm« bestehend aus i.d.R. 2-6 Personen, das »Taxim« mit i.d.R. 10-30 Personen und das Tabûr mit 100 bis hin zu hunderten Kämpferinnen und Kämpfern.

8  Arîn Mîrkan war eine Kämpferin der YPJ. Als die Dschihadisten des IS am 5. Oktober den Miştenûr Hügel kurz vor Kobanê zu stürmen begannen, um von dort aus Kobanê zu überrennen, stellte sich Arîn Mîrkan in den Weg. Sie kämpfte mit ihren Genoss:innen so lange es möglich war, bis sie schließlich den Dschihadisten entgegenschritt und eine große Menge Sprengstoff, den sie zuvor an ihrer Weste befestigt hatte, zur Explosion brachte. Sie riss etliche Dschihadisten in den Tod, ermöglichte ihren Genoss:innen so den Rückzug und verzögerte somit das weitere Vordringen der Dschihadisten entscheidend.

9  Um nicht in die Hände des IS zu fallen verschanzte sich Rêvan Rojava nach langen Gefechten im Zuge des Vormarsches des IS im Dorf Gulmetê im ­Süden von Kobanê. Nachdem sie am 26. September 2014 dort über ­Stunden Widerstand geleistet hatte, ließ sie die Angreifer in das Haus eindringen, wo sie mehrere an ihrem Körper befindliche Granaten zündete.

10  Zeynep Kınacı (Heval Zîlan) war keine 24, als sie sich 1996 auf eigene Initiative bei einem Zapfenstreich der türkischen Armee mitten in Dersim in die Luft sprengte. Mit ihrer Aktion setzte sie ein Fanal für die kurdische Bewegung, insbesondere die Frauenbewegung.

11  Kobanê befindet sich direkt an der türkischen Grenze. Während der Kämpfe um Kobanê strömten Tausende Menschen an die Grenze, um zu protestieren und den Kämpfer:innen vor Ort Hilfe zu leisten. Sie wurden von den türkischen Grenzsoldaten jedoch aufgehalten, woraufhin es zu einem großen Widerstand der Menschen an der Grenze kam.

12  »Asayîş« stammt aus dem Kurdischen und bedeutet »Sicherheit«. Mit Asayîş sind im Kontext der Revolution in Rojava und damit der Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens die Kräfte der inneren Sicherheit gemeint, die sich vor allem aus Menschen zusammensetzen, die selbst in den Gebieten leben, in denen sie aktiv sind.

13  Quelle in Kobanê, die den Namen »Quelle der Kurd:innen« trägt.

14  İmralı ist eine Gefängnisinsel im Marmarameer. Über viele Jahre hinweg war der einzige dortige Gefangene, der von Tausenden Soldaten bewacht wurde, Abdullah Öcalan. Auch heute noch wird Öcalan dort festgehalten und unter menschenrechtswidrigen Umständen isoliert.

15  Eine der großen Gefahren für Kobanê ist der unmittelbar am Rande der Stadt befindliche Grenzübergang Mûrşîd Pinar, der in die Türkei führt. Während der Kämpfe haben von dort aus immer wieder Angriffe auf ­Kobanê stattgefunden, und der IS ging immer wieder über die Grenze, um sich neu zu formieren, sich auszuruhen und um sich versorgen zu lassen.


 Kurdistan Report 229 | September / Oktober 2023