NATO knickt beim Gipfel in Vilnius vor den Forderungen der Türkei ein

»Wir wollen langfristig Terrorismus und organisierte Kriminalität bekämpfen«

Elmar Millich, Vorstandsmitglied des Rechtshilfefonds AZADÎ e.V.

Am Vorabend des NATO-Gipfels vom 11. bis 12. Juli in der litauischen Hauptstadt Vilnius herrschte große Erleichterung. Nach einem Treffen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und des schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson unter Vermittlung des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg gab die Türkei ihre Blockade gegen den angestrebten NATO-Beitritt Schwedens auf. Den Preis, den die »westliche Wertegemeinschaft« dafür zahlt, ist hoch. Konnten kurdische Exilant:innen sich in Schweden bislang vor allem im Vergleich zu Deutschland relativ frei für ihre politischen Ziele einsetzen und dafür werben, wird dies wahrscheinlich bald der Vergangenheit angehören. Am 1. Juli traten in Schweden neue »Terrorgesetze« in Kraft, die es strafbar machen, sich an einer Terrororganisation zu beteiligen, sie zu finanzieren oder anderweitig zu unterstützen. Waren bislang individuelle Straftaten im Zusammenhang mit terroristischen Vereinigungen für die juristische Verfolgung notwendig, ähnelt die neue Gesetzgebung dem deutschen §129b StGB (Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung) und liefert die Grundlage für ausufernde Verfolgung politischer Oppositionsaktivitäten. So wurde im März erstmalig von der schwedischen Staatsanwaltschaft Anklage gegen einen Mann wegen »Terrorismusfinanzierung« für die PKK erhoben. Vorgeworfen wurden ihm Verbindungen mit einer in Deutschland wegen PKK-Mitgliedschaft verurteilten Person sowie ebenfalls Kontakte zu einer Person, deren Konten in Frankreich wegen Finanzierung der PKK eingefroren wurden. Die Anklageschrift stützt sich dabei laut Meldung der FAZ auf Informationen des deutschen und französischen Geheimdienstes. Im Juli wurde dann erstmalig die Auslieferung eines PKK-Anhängers wegen vermeintlicher Drogendelikte an die Türkei durch Schwedens Oberstes Gericht bestätigt.

Aushebelung des Asylrechts

Auch das bislang liberale schwedische Asylrecht wird mittlerweile ausgehebelt, wenn es sich um kurdische Personen handelt. Deren Asylanträge werden zunehmend aufgrund von Interventionen des Inlandgeheimdienstes Säpo (»Sicherheitspolizei«) abgelehnt. Ähnlich wie der deutsche Verfassungsschutz arbeitet auch dieser mit den nationalen Migrationsbehörden zusammen. Wenn bei Befragungen der Asylsuchenden prokurdische politische Aktivitäten in der Türkei oder im Exil zutage kommen, werden diese als Bedrohung für die innere Sicherheit eingestuft und daraufhin die Asylanträge systematisch abgelehnt. Amnesty international beklagt, dass die Einschätzungen des schwedischen Geheimdienstes über die Bedrohung der inneren Sicherheit durch eine Person der Geheimhaltung unterliegen und somit auch nicht an­fecht­bar sind. Auch hier zeigen sich Parallelen zu den Aus­wei­sungs­verfügungen deutscher Behörden. Menschen mit jahre­langem gesichertem Aufenthaltsstatus werden aufgrund lega­ler politischer Aktivitäten für die kurdische Bewegung zur Aus­reise aufgefordert. In Schweden scheint selbst Sippenhaft nicht mehr ausgeschlossen. Aufenthaltserlaubnis und Asyl­an­trag eines kurdischen Exilanten wurden abgelehnt, weil er an­geblich die prokurdischen politischen Aktivitäten seiner Frau mit schwedischer Staatsbürgerschaft unterstützt.

Bereits im Juni 2022 war absehbar, dass die skandinavischen Staaten Schweden und Finnland vor den türkischen Forderungen als Gegenleistung für eine Zustimmung zu deren NATO-Beitritt komplett kapitulieren würden. In einem von den drei Staaten unterzeichneten Memorandum wurde die türkische Sichtweise auf den kurdisch-türkischen Konflikt vollständig übernommen und nicht nur die PKK, sondern auch die Institutionen der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, zu denen Schweden bislang enge Kontakte unterhalb der diplomatischen Ebene pflegte, mit dem Stigma des Terrorismus versehen. Während die Türkei den NATO-Beitritt Finnlands bereits Anfang April ratifizierte, wollte sie den Knüppel des Vetos allgemein nicht so schnell aus der Hand geben, um letztendlich nicht nur Schweden, sondern alle NATO-Staaten auf eine türkeifreundliche und kurdenfeindliche Politik einzuschwören.

EU-Staaten verschärfen Repression gegen Kurd:innen

Und das mit Erfolg, wenn man sich die Politik verschiedener europäischer Staaten gegenüber der kurdischen Befreiungsbewegung in den seit dem Memorandum verstrichenen letzten zwölf Monaten anschaut. Den Vorreiter in der Repression bildete wieder einmal die Bundesrepublik Deutschland. Im Juli letzten Jahres reiste Generalbundesanwalt Dr. Peter Frank zu dreitägigen Konsultationen mit seinem türkischen Amtskollegen in die Türkei. Seitdem hat sich die Repression vor allem in der Anwendung des §129b deutlich verschärft. Fast monatlich finden umfangreiche Razzien in kurdischen Vereinen und in den Privaträumen politisch aktiver Personen statt. Am 19. April wurden die Räumlichkeiten des Demokratischen Gesellschaftszentrums der kurdischen Community in Darmstadt sowie des ebenfalls dort angesiedelten Büros der »Föderation der demokratischen Vereine – KAWA e.V.« durchsucht. Razzien fanden auch in den Wohnungen der ehemaligen KAWA-Vorsitzenden in Mainz, Mannheim und Rüsselsheim statt. Nur vier Wochen später dasselbe Vorgehen in der nordrhein-westfälischen Stadt Duisburg: Dort wurden am 16. Mai die Räume des kurdischen Vereins sowie Wohnung und Arbeitsplatz eines Kurden von einem Großaufgebot der Polizei durchsucht. Gegen den Mann, der ehrenamtlich im Vorstand des betroffenen Vereins »Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Duisburg e.V.« mitwirkt, wird nach §129b ermittelt. Jüngste Durchsuchungen betrafen am 6. Juli das Kurdische Gesellschaftszentrum Heilbronn. Beamte brachen die Türen auf und durchsuchten alle Räumlichkeiten ohne die Anwesenheit von Zeugen. Etwa zeitgleich fanden Durchsuchungen bei zwei Mitgliedern des Vereins zuhause statt. Die Personen wurden im Anschluss auf der Polizeiwache erkennungsdienstlich behandelt, ebenfalls unter dem Vorwurf des §129b.

Aber auch außerhalb Deutschlands interveniert die deutsche Justiz zunehmend. Auf Betreiben deutscher Behörden wurde am 2. Juni der langjährige kurdische Aktivist Kenan Ayaz von Zypern an Deutschland ausgeliefert. Auch ihm wird die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vorgeworfen. In den Monaten davor waren aufgrund von Haftbefehlen aus Deutschland bereits kurdische Aktivist:innen aus Italien, Frankreich und Belgien ausgeliefert worden.

Aber auch NATO-Länder wie Polen, die nicht zuletzt aufgrund einer nur geringen Anzahl kurdischer Bürger:innen bislang in die Repression gegen die kurdische Befreiungsbewegung nur wenig involviert waren, springen nun auf den Zug auf, wenn es um die Stärkung der NATO gegen Russland geht. Im Oktober 2022 gab es eine großangelegte Razzia, bei der die Wohnungen und Arbeitsstellen von fünfzig Kurd:innen durchsucht wurden. Laut Angaben der Betroffenen hätten zwei an der Operation beteiligte Polizisten türkisch gesprochen, was den Verdacht erhärtet, dass der türkische Geheimdienst MIT an der Aktion beteiligt war.

Frankreich scheint einen zweigleisigen Kurs zu fahren. Während es von allen EU-Ländern noch die engsten Kontakte zur Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien unterhält, geht es gegen angebliche PKK-Aktivitäten im eigenen Land rigoros vor. Ein Pariser Strafgericht verurteilte im April elf kurdische Aktivist:innen zu Freiheitsstrafen zwischen drei Jahren auf Bewährung und bis zu fünf Jahren Gefängnis. Vorgeworfen wurde ihnen, Teil eines »Netzwerkes« zu sein, das im Südosten von Frankreich beträchtliche Beiträge für eine sogenannte Jahresspendenkampagne der PKK beschafft haben soll. Das solidarische »Collectif Internationaliste Marseille Kurdistan« wies darauf hin, dass die Verhaftungen nach einem Telefongespräch zwischen den Präsidenten Erdoğan und Macron Anfang März 2021 erfolgten.

Selbst Griechenland, welches sich aufgrund von Gebietsstreitigkeiten im ägäischen Meer und der Nutzung der Erdgasfelder im Dauerkrisenzustand mit der Türkei befindet, zog mit am NATO-Strang. Anfang Juli räumte die griechische Polizei mit einer Razzia das selbstverwaltete Flüchtlingslager Lavrio in der Nähe von Athen, in welchem etwa fünfzig kurdische Flüchtlinge aus der Türkei, Syrien und dem Irak lebten. Das Camp wurde seit langer Zeit von der türkischen Regierung als »terroristisches Ausbildungslager« und Zufluchtsort für die PKK bezeichnet.

Parallelen zum Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei

Die aufgeführten Beispiele erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es zeigt sich aber dasselbe Muster wie beim Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der EU von 2016. Wenn immer es zu Konflikten zwischen der Türkei und der westlichen Staatengemeinschaft kommt, findet der Kompromiss auf dem Rücken der Kurd:innen statt, die sich in den jeweiligen Ländern aufhalten, egal ob dort im Exil oder dort geboren. Demokratische Rechte wie Meinungs- und Demonstrationsfreiheit werden bis zur Unkenntlichkeit eingeschränkt und kurdische Medien kriminalisiert. Zudem findet auf die kurdische Bevölkerung, die in den Ländern nicht die jeweilige Staatsbürgerschaft besitzt, durch ausländerrechtliche Bestimmungen ein massiver Druck statt, sich von der kurdischen Befreiungsbewegung zu distanzieren.

Trotz des türkischen Drohnenterrors gegen die Zivilbevölkerung in Rojava und Şengal und den Einsatz chemischer Kampfstoffe gegen die kurdische Guerilla im Irak sind die westlichen Staaten jederzeit bereit, das »legitime Selbstverteidigungsrecht der Türkei gegen terroristische Bedrohungen« anzuerkennen, auch bei offensichtlichen Verstößen gegen das internationale Völkerrecht. Auch wenn die offizielle Begründung der Türkei für das Veto gegen den NATO-Beitritt Schwedens mit dessen angeblich zu kurdenfreundlicher Innenpolitik begründet wurde, war die Erpressung an alle NATO-Länder gerichtet, sich den türkischen Großmachtansprüchen in der Region nicht entgegenzustellen, sondern diese gegebenenfalls zu unterstützen. Maßgeblich für das kurzfristige Einlenken der Türkei vor dem NATO-Gipfel in Vilnius war ein kurz zuvor geführtes Telefongespräch zwischen Erdoğan und dem US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden, in dem dieser zusicherte, sich der Modernisierung der türkischen F-16-Kampfjet-Flotte nicht weiter entgegenzustellen, wenn die Türkei dem NATO-Beitritt Schwedens zustimmt. Auch die Bomben dieser F-16-Kampfjets werden im Zweifelsfall die kurdische Bevölkerung in Syrien, im Irak und in der Türkei selbst treffen.

Bilateraler »Sicherheitspakt« beschlossen

Als Teil der Einigung zwischen Schweden und der Türkei wurde auch ein bilateraler »Sicherheitspakt« beschlossen, der jährliche Treffen zwischen den jeweiligen Sicherheitsbehörden zur Terrorismusbekämpfung beinhaltet. »Wir wollen langfristig Terrorismus und organisierte Kriminalität bekämpfen« äußerte dazu Schwedens Ministerpräsident Kristersson. Auch auf NATO-Ebene wird erstmalig ein Sonderbeauftragter »für den Kampf gegen den Terror« installiert. Damit soll sichergestellt werden, dass die Sichtweise der Türkei, die den Konflikt mit den Kurd:innen in der Türkei und den Nachbarländern ausschließlich als »Terrorproblem« betrachtet, quasi zur NATO-Außenpolitik wird. Auch innenpolitisch wird die Tendenz in den europäischen Ländern zunehmen, dass die Sichtweise auf den seit vierzig Jahren andauernden Konflikt maßgeblich von Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden bestimmt und damit einem rationalen Kurs auch über eventuelle Lösungsmöglichkeiten entzogen wird. Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) als Dachverband    der kurdischen Befreiungsbewegung kommentierte die Einigung vor dem NATO-Gipfel zurecht als »Wegbereiter für die Kriminalisierung des legitimen Kampfes des kurdischen Volkes für Demokratie, Frieden und Freiheit, nicht nur in den vier Teilen Kurdistans, sondern auch in Europa und anderen Kontinenten«.

Aber auch nach der Einigung in Vilnius ist der NATO-Beitritt Schwedens noch nicht in trockenen Tüchern. Die anstehende Sommerpause der türkischen Nationalversammlung, die den Beitritt ratifizieren muss, verschafft Erdoğan zumindest bis Oktober Luft, die NATO-Staaten weiter nach seiner Pfeife tanzen zu lassen.


 Kurdistan Report 229 | September / Oktober 2023