Sie war konsequent, bis zuletzt oder:

Was das Leben von Andrea Wolf für den internationalistischen Befreiungskampf bedeutet

(Ronahî: Licht der Hoffnung)

Dîrok Hêvî

Ich erinnere mich noch als wäre es heute, wie ich damals durch die Straßen einer deutschen Großstadt lief. An einer Wand hing ein großes Bild einer Frau; daneben stand, was – wie ich annahm – ihr Name sein musste: Andrea Wolf, Ronahî. Außerdem hing dort die Antifa-Enternasyonal-Fahne. Wahrscheinlich war das mein erster direkter Kontakt, wenn man es so nennen will, mit der kurdischen Freiheitsbewegung. Obwohl mir damals die Geschichte und das Leben hinter dem Gesicht unbekannt waren, brannte sich dieser Moment aus unerfindlichen Gründen tief in mein Gedächtnis ein. Einige Jahre später sollte mir dieses Gesicht wieder und von da an immer wieder begegnen. Heute nun also sitze ich hier in Kurdistan, auch als Folge der Geschichte Andrea Wolfs, wenn vielleicht auch nur mittelbar. Doch ist es schwer, die heutige Situation des Freiheitskampfes in Kurdistan ohne ihre Geschichte zu denken.

Über Andrea Wolf oder Şehîd Ronahî zu schreiben ist insofern keine leichte Aufgabe, als dass sich nicht nur ein facettenreiches Leben vor einem auftut, das kaum auf ein paar Seiten in seiner Fülle dargestellt werden kann, nein, es hängt auch mit der Frage des Radius zusammen, den man anlegen will. Je kleiner der Radius, der geopolitische Radius in diesem Fall, desto detaillierter könnte auf gewisse Aspekte ihres Lebens eingegangen werden; gleichzeitig bin ich der festen Überzeugung, dass ein tiefes Verständnis ihrer Persönlichkeit ohne den zeitlichen Kontext kaum möglich ist. Beides ist nicht voneinander zu trennen. Deswegen will ich an dieser Stelle kurz auf den wunderschönen Sammelband von Freund:innen Andrea Wolfs hinweisen, der in Erinnerung an sie herausgegeben wurde1. Um viele kleine Details ihres Lebens, ihres Wirkens in Deutschland etc. besser verstehen und tiefergehend kennenlernen zu können, ist er eine wundervolle Ergänzung. Schon im Vorwort dieses Buches gehen ihre ehemaligen Weggefährt:innen und Freund:innen aus Deutschland auf zentrale Aspekte ihres Lebens ein, die Andrea besonders charakterisierten – nicht nur die Wichtigkeit, die sie der Dialektik zwischen politischer Theorie und Praxis beimaß, sondern auch die Rolle von Widerstand und natürlich die internationalistische revolutionäre Perspektive. Deswegen heißt es dort so treffend: »So steht Andrea in einer langen Tradition von Internationalistinnen und Internationalisten, die einerseits gegen Ausbeutung und Unterdrückung gekämpft haben und anderseits Kollektivität und Befreiung lebten. Sie war konsequent, bis zuletzt.«

Am 15. Januar 1965 wird sie, einige Augenblicke vor ihrem Zwillingsbruder Tom, in München geboren. Ihre Mutter zieht die beiden Kinder allein groß. Schon in der frühen Jugend kristallisiert sich das politische Bewusstsein von Andrea und auch das ihres Bruders Tom heraus. So schreibt sie, dass eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen die Teilnahme an einer Ho-Chi-Minh-Demo sei. Zuhause wird viel über alles Erdenkliche diskutiert; und Andrea ist ein aufgeschlossenes junges Mädchen, das bald zur Schulsprecherin wird. Schon mit sechzehn Jahren wird sie bei einer Demo anlässlich einer Hausbesetzung das erste mal verhaftet. Kurz danach erneut. Es ist eine aufgeladene Zeit. Sowohl das Thema der Hausbesetzungen als auch besonders die Ökologiefrage und die großen Proteste gegen Atomkraftwerke und Atommüllendlager stehen in diesem Jahrzehnt auf der Tagesordnung. Noch bevor sie 18 Jahre alt sind, werden sie und ihr Bruder Tom für sechs Monate in zwei unterschiedliche Knäste gesperrt. Im Frauengefängnis tritt Andrea gemeinsam mit anderen in einen Hungerstreik gegen die Haftbedingungen. Mit 20 nimmt sich Tom das Leben, was für sie und ihre Mutter ein harter Schlag ist. Als Andrea 21 ist, beschließt die Mutter nach Guatemala zu gehen, um dort gemeinsam mit anderen Frauen zu arbeiten. Andrea wird sie zweimal besuchen. Sie nutzt die Zeit dort, um ihr Leben und ihren politischen Aktivismus in Deutschland zu reflektieren. Es zieht sie für kürzere Besuche auch nach El Salvador und in die USA. 1996 geht Andrea nach Kurdistan, wo sie dann zu Ronahî wird. Nach einer kurzen Zeit in der zentralen Parteischule (Akademie) der PKK in Damaskus, wo es auch zu Gesprächen mit Rêber Apo kommt (es gibt ein Video von einem etwa 20-minütigen Dialog zwischen Hevala Ronahî und Rêber Apo, in dem sie sowohl über die Lage in der BRD als auch die Herausforderungen und Chancen im kurdischen Befreiungskampf sprechen), geht sie nach Botan2 zur Guerilla. Während sie in den kurdischen Bergen ist, schreiben sie und ihre Mutter sich einige Briefe, und tauschen sich darüber aus, dass ihre Mutter sie gerne dort besuchen kommen möchte. Leider kommt es nicht mehr dazu: während einer Operation der türkischen Besatzungsarmee wird Ronahî am 23. Oktober 1998 in der Region Çatak kaltblütig von türkischen Soldaten hingerichtet. Obgleich sie nur wenig über dreißig wurde, hat sie doch ein erlebnisreiches, ausgefülltes Leben gelebt. Trotz schwerster Schläge wie dem Tod ihres Zwillingsbruders, der sie sehr berührte und der dreimalige Verrat durch Spitzel und Agenten, der zu schwerer Repression führte, hat sie sich nicht unterkriegen lassen. Sie hat gekämpft.

ihre konsequente Haltung für das richtige einzustehen

Obwohl die Medien es immer wieder so darzustellen versuchten, als sei der Weg nach Kurdistan für Andrea nur eine Flucht vor der erneut anstehenden Verhaftung gewesen, lässt sich nicht nur aus ihrem Lebensweg, sondern auch aus ihrer Praxis in Kurdistan ganz deutlich ablesen, dass sie von einem starken internationalistischen Geist angetrieben war. Entgegen einer bloßen Flucht, hatte sie in Kurdistan und im Kampf der PKK und den Bewertungen und Ideen Rêber Apos eine Befreiungsperspektive gefunden, mit der sie auch neue Hoffnungen für die politische Organisierung in der BRD verband. Wie die Kommandantin Melsa Botan, die mit Heval Ronahî sowohl Zeit in der Akademie in Damaskus als auch in den Tagen vor ihrer Ermordung in Botan verbrachte, sich erinnert, schrieb Hevala Ronahî während ihrer Zeit in den kurdischen Bergen ununterbrochen Tagebuch, mit dem Ziel ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Evaluationen den Genoss:innen und Freund:innen in Deutschland mitzuteilen (ein erster Teil erreichte die Freund:innen in Deutschland noch zusammen mit ein paar Briefen, ein anderer Teil ist wohl bei dem letzten Gefecht durch den Feind zerstört worden). Damit wollte sie ihnen einen leichteren und besseren Zugang zum kurdischen Befreiungskampf und seiner emanzipatorischen Perspektive vermitteln, was besonders unter den Gegebenheiten einer intensiven und kontinuierlichen Desinformationskampagne gegen die PKK und Rêber Apo, von großer Wichtigkeit war. So schreiben auch ihre Genoss:innen in dem genannten Sammelband folgendes: »Es ging ihr vor allem darum, von der PKK aus einen neuen Blickwinkel auf die Situation in Europa zu bekommen. Sie war davon überzeugt, dass die Methoden und Prinzipien der PKK auch in der BRD Ansatzpunkte für den Neuaufbau einer revolutionären Bewegung geben könnten.« Ihr Motiv, nach Kurdistan zu gehen, war nicht Flucht, sondern die Perspektive auf Befreiung. Im Grunde war es ihre konsequente Haltung für das richtige einzustehen, für das zu kämpfen, was sie als richtig erachtete und sich vor nichts zu fürchten. Nicht vor dem Knast, nicht vor dem Tod.

»Wenn wir aber InternationalistInnen sind, können und müssen wir beides gleichzeitig machen. Und wir können an einem Kampf auf einem anderen Teil der Erde teilnehmen, um zu lernen, weil unser Horizont nicht an den eigenen nationalen Grenzen aufhört. Zumal wir als Metropolenmenschen unsere Situation nur wirklich verstehen können, wenn wir uns mit Augen von außerhalb betrachten.« (Ş. Ronahî)

Die 90er Jahre waren eine Umbruchszeit

Um den Bezug zu heute und die Anziehungskraft des kurdischen Befreiungskampfes und seine Bedeutung für Internationalismus richtig zu verstehen, ist es wichtig, dass wir die Schritte und Entwicklung von Andrea Wolf im historischen Kontext betrachten. Die 90er Jahre stellen in vielerlei Hinsicht einen großen Umbruch dar. Zuallererst ist da sicherlich das Ende der Sowjetunion und damit auch zu einem großen Stück der Zerfall der Hoffnung, dass die Menschheit durch den Sozialismus befreit werden könne. Gleichzeitig erleben wir in Kurdistan fast eine gegenteilige Entwicklung. Nicht nur, dass der Vorsitzende Apo durch ganz klare Kritik die Versäumnisse und Mängel des Realsozialismus aufzeigt, er zeigt auch auf, dass es dennoch notwendig ist, auf den Sozialismus zu bestehen. Es ist auch die Zeit der Serhildans (dt. Volksaufstände), die sich wie ein Lauffeuer über Nordkurdistan verbreiten und zu Massenbeitritten in die Reihen der Guerilla führen und damit auch zwangsläufig den Guerillakampf gegen den türkischen Kolonialismus ausweiten und intensivieren. Auch in der Diaspora, darunter federführend in Deutschland, gibt es immer größere und massenwirksamere Aktionen. In die erste Hälfte der 90er fällt auch der Düsseldorfer Prozess3 und das PKK-Verbot folgt. Es gibt eine rege Zusammenarbeit zwischen Teilen der revolutionären deutschen Linken und der kurdischen Freiheitsbewegung. Die 90er markieren jedoch auch das Ende des revolutionären, bewaffneten Kampfes in Deutschland. Die RAF löst sich offiziell 1998 auf, ihre letzte große Aktion findet jedoch bereits 1993 mit der Sprengstoffaktion gegen die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt (Hessen) statt. Für genau diese Aktion will man auch Andrea Wolf etwas anhängen, weil sie dafür angeblich Unterstützung geleistet haben soll.

Die 90er Jahre waren eine Umbruchszeit, in der global gesehen die Perspektive für einen revolutionären Befreiungskampf massiv an Einfluss verlor. Viele revolutionäre Bewegungen, Guerillabewegungen lösten sich in dieser Zeit auf. Die PKK jedoch machte nicht nur weiter, sondern sie wurde stärker und größer. Militärisch kann man in den 90er Jahren von einer Pattsituation zwischen der PKK und der Armee der Türkei, der zweitgrößten NATO-Armee, sprechen. Selbstverständlich führte das in einigen Kreisen der revolutionären Linken dazu, den Blick erstmals oder stärker als zuvor nach Kurdistan zu wenden.

Auch im Sommer 2012 und den Jahren danach geht der Blick wieder verstärkt nach Kurdistan. Als in Rojava die Revolution beginnt, folgen bald erneut die ersten Internationalist:innen dem Ruf nach Kurdistan. Viele der ersten Frauen, die als Internationalistinnen in Kurdistan ankommen und sich dem Kampf anschließen geben sich nicht zufällig den Kampfnamen Ronahî. Auch die 2010er Jahre sind eine besondere Zeit. Gerade hat im mittleren Osten der so genannte arabische Frühling (Frühling der Völker ist korrekter) begonnen, der schnell wie ein Funke auch auf andere Regionen überspringt. Gleichzeitig hatte die Welt gerade erst eine erneute große Wirtschaftskrise (2007-2008) überwunden, die wieder einmal vielen Menschen die Notwendigkeit einer Überwindung des Kapitalismus aufs Deutlichste vor Augen geführt hatte. Ein weiterer sehr wichtiger Punkt in dieser Zeit sind auch die weltweiten Demonstrationen und Proteste der Frauen gegen Patriarchat und Sexismus, die sich besonders ab 2015 um den Slogan »¡Ni una menos!« organisieren. Während sich in den 2010ern in vielen Ländern der Trend hin zu einer rechten, autoritären Regierung verschärft und es oftmals an linken, revolutionären Alternativen fehlt, entsteht völlig unerwartet von aller Welt mitten im Chaos des Krieges im Mittleren Osten ein befreites Gebiet. Wie ein Licht im Dunkel, stellt es dem vorherrschenden Nationalismus eine revolutionäre, internationalistische Perspektive entgegen. Machten sich schon in den 90ern immer wieder Menschen aus vielen Teilen der Welt für eine Weile auf den Weg nach Kurdistan, um von der Erfahrung der Guerilla und den Ideen Rêber Apos zu lernen, strömen nun hunderte Internationlist:innen nach Rojava um die Revolution zu verteidigen. Das Paradigma Rêber Apos, das unter dem Namen demokratischer Konföderalismus weltweit für Aufmerksamkeit und großes Interesse sorgt, beginnt für immer mehr Menschen eine klare Perspektive und Hoffnung für den Kampf in ihrem eigenen Land zu werden. Erstmals 25 Jahre nach dem Fall der Sowjetunion strahlt der Sozialismus wieder solche Hoffnung aus. Doch nicht nur nach Rojava zieht es Internationalist:innen, nein, eine immer größere Zahl sieht im Kampf und Leben der PKK eine Perspektive, an der sie teilnehmen und mitwirken will. Einige wie Lêgerîn Çiya, Dilsoz Bahar, Bager Nûjiyan, Sara Dorşîn, Şiyar Gabar oder vor ein paar Monaten Azad Şevger gaben dabei, wie Hevala Ronahî, ihr Leben. Doch noch mehr sind es, die all diesen mutigen Kämpfer:innen nachfolgen, ihre Namen annehmen und ihre Flagge hochhalten. Das Licht, das von ihnen ausgeht, strahlt mit jedem Tag der vergeht heller.

»Ich führe manche Diskussionen mit ›frustrierten‹ Deutschen über die Lage in Deutschland. Sie sehen dort zwar Möglichkeiten, aber keine Kräfte, die diese zu nutzen wüssten. Ich will in diesen Momenten nur zurück. Anfangen, arbeiten, ideologisch sich gemeinsam eine Grundlage schaffen, die bestehenden Beziehungen auf- und ausbauen. Die Erfahrungen auswerten. Ich weiß aber auch, dass ich geduldig sein muss, Schritt für Schritt.« (Ş. Ronahî)

Die Frage der Befreiung der eigenen Heimat

Ein wichtiger Punkt in Bezug auf die Perspektive von Hevala Ronahî ist, und das gilt in vielerlei Hinsicht auch für die Internationalist:innen, die sich heute dem Befreiungskampf in Kurdistan anschließen, die Suche nach neuen Methoden und neuen Formen der Organisation (für sich und für die Gesellschaft). Trotzdem oder gerade deswegen ist sie auch immer mit der Frage nach einer Lösung für die eigene Heimat, der Frage nach der Befreiung der eigenen Heimat verbunden. Wenn wir uns also heute, 25 Jahre nach dem Tod von Hevala Ronahî in den Bergen Kurdistans fragen, welche Aktualität ihr Weg, ihr Leben, ihr Kampf für uns heute hat, denke ich, liegt sie genau in diesen Aspekten. Darin, dass auch heute noch, 25 Jahre nachdem sie im Widerstand gegen den türkischen Kolonialismus gefallen ist, eine große Perspektive der Hoffnung vom Kampf der PKK ausgeht. Dass noch immer eine große organisatorische Leere besteht in den Kämpfen der europäischen Zentren, die revolutionäre Linke auf Grund fehlender Klarheit und Perspektive an Attraktivität eingebüßt hat. Dass die Methoden und das Paradigma der kurdischen Freiheitsbewegung eine gute Grundlage für die Organisierung im eigenen Land sind. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, und auch das war der Genossin Ronahî sehr klar, dass der konkrete Kampf gegen den Imperialismus notwendig ist. Denn ein Sieg des herrschenden Systems gegen die Revolution in Kurdistan würde die revolutionären Kräfte weltweit noch tiefer in ihre Hoffnungslosigkeit zurückwerfen.

Wenn wir uns die Gedanken und Fragen anschauen, mit denen sich Hevala Ronahî auseinandersetzte, insbesondere in ihrer Zeit in Kurdistan, die Reflexionen über die Lage in Deutschland von denen sie schrieb, dann zeigt sich auch, dass viele dieser Fragen und Probleme leider immer noch bestehen. Wie aus den Gedanken und Briefen Şehîd Bager Nûjiyans deutlich wird, sind sie teilweise aktueller denn je. Den Kampf von Hevala Ronahî weiterzuführen, bedeutet in diesem Sinne auch, an diese Fragen anzuknüpfen, ihre Gedanken weiterzugehen und besonders in der Praxis neue Schritte hin zu einer konkreten Organisierung zu wagen. Dabei wird sie uns mit ihren Reflexionen und Ansichten immer Licht der Klarheit sein.

 Fußnoten

1  Im Dschungel der Städte, in den Bergen Kurdistans … Leben und Kampf von Andrea Wolf. Berlin / Frankfurt/M. 1999, 2. Aufl.

2  Region in Kurdistan

3  1989 wurden vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf 17 kurdische Genoss:innen wegen des Vorwurfs der »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« angeklagt. Der Prozess zog sich bis 1994 und spielte eine wichtige Rolle im Vorfeld des PKK-Verbots. Verurteilt wurden am Ende vier der Angeklagten.


 Kurdistan Report 229 | September / Oktober 2023