Im Gedenken an Şehîd Ronahî/Andrea Wolf

Nicht nur eine Internationalistin in den Bergen – ein Teil dieser Berge selbst

Melsa Botan, ehemalige Kommandantin von Şehîd Ronahî

Wir schreiben das Jahr 1998, Oktober. In den Nachrichten kommt die Meldung über eine deutsche Guerillakämpferin, die in den kurdischen Bergen von der türkischen Armee ermordet wurde. 25 Jahre ist das nun her. Doch weder ist dieser Kampf vergangen noch diese mutige, neugierige, tapfere Kämpferin aus dem Süden Deutschlands vergessen. Nicht in Deutschland und erst recht nicht in Kurdistan. Ganz ihrem Namen und ihrem Ansinnen treu warf sie Licht auf den Freiheitskampf des kurdischen Volkes. Sie ist zu einem Symbol des Internationalismus geworden und ein wichtiger Bestandteil der kurdischen Frauengeschichte. Ihr Name wird heute stolz von vielen internationalistischen Ronahîs getragen. Nach einem Vierteljahrhundert ununterbrochenen Kampfes erinnert sich die Kommandantin Melsa Botan, die damals einige Zeit mit Ronahî/Andrea Wolf in der Akademie des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan in Damaskus und in den freien Bergen Botans verbrachte, voller Stolz und mit großer Herzlichkeit an diese mutige Freiheitskämpferin.

Es war im Herbst, ein kalter Wind fegte über die Berge und zerrte an den Blättern der Bäume, so dass sie Blatt für Blatt langsam zu Boden fielen. Der Wind benetzte leicht das Gesicht und trug einen tief in Gedanken weit fort. Gelb wurden die Blätter, die sich langsam von ihren Ästen trennten. Die Natur legte ihre herbstlichen Kleider an. Diese alte Stadt, diese Stadt des Wissens und der Suchenden, die Stadt der Kommandant:innen, derjenigen, die sich in die Wissenschaften vertieften, auf der Suche nach neuen Gedanken waren, war für sie alle ein Wohnort. Aber manchmal war es nicht das Paradies, sondern die Hölle. Viele Menschen gingen in diese Stadt, um es in den Wissenschaften, dem Handel etc. zu etwas zu bringen. Auch wir begaben uns in diese alte Stadt. Der Wind fegte vom Gipfel des Qasiyun hinab und wehte um die Stadt Damaskus herum, so als wolle er schlechte Nachrichten in die Natur setzen. In diesen Augenblicken war diese altehrwürdige Stadt, die so vielen Gästen ihre Arme ausgebreitet, so vielen Freiheitssuchenden ihre Tore geöffnet hatte, zum Unterschlupf von Revolutionär:innen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts geworden. Viele, die in dieser Zeit auf der Suche nach Freiheit sind, kommen in diese Stadt und gesellen sich dazu. Diese Revolutionär:innen, die Arme weit ausgebreitet, empfangen die von weither gekommenen Gäste. Bekannt ist diese Stadt für ihre Gastfreundschaft. Viele haben hier ihr Lager aufgeschlagen, sie zu ihrer Hauptstadt erkoren, z.B. Salahaddin Ayyubi (»Sultan Saladin«), Chalid ibn al-Walid. Heutzutage hat diese Stadt erneut einigen Freiheitskämpfer:innen ein Nest geboten, die in ihr eine Schule aufbauten. Die Schule des sich selbst Erbauens. Die Schule des Neugeborenwerdens. Das ist asch-Scham.

An jenem Tag war ich als Wachposten an dem dafür vorgesehenen Ort und dabei tief in Gedanken versunken. Der Wind wehte und ich fühlte mich, als trüge er mich auf die Gipfel der Berge und in die Tiefe meiner Träume, weit fort. Mit einem Mal sprang das Tor auf und ein Auto kam hereingerauscht. Es blieb genau dort stehen, wo wir Wache hielten, und schon stieg der Fahrer aus. Als ich mich umwandte, sah ich eine junge Frau den Wagen verlassen. Und wir gingen aufeinander zu. Voller Wärme umarmten wir uns innig. Der Fahrer sagte, ich solle sie in das Gästehaus begleiten. Also nahm ich sie dorthin mit. Sie strahlte vor Freude und Aufregung. Ob das die Schule sei, fragte sie, auf eines der Gebäude deutend, was ich bejahte. Ob denn auch der Vorsitzende herkomme, fragte sie dann, was ich ebenfalls bejahte. Das sei also der Ort der Ausbildung und des Unterrichts, stellte sie fest, was ich erneut bejahte. Dann erreichten wir das Gästehaus und ich kehrte, mich verabschiedend, wieder auf meinen Wachposten zurück.

Als ich mich am nächsten Morgen zum gemeinsamen Frühstück begab, sah ich, dass auch die am Vortag angekommene junge Frau anwesend war. Erneut strahlend vor Energie und Freude, wandte sie sich mir zu. Ob ich diejenige sei, die sie tags zuvor gesehen habe, fragte sie, was ich bestätigte. Vielleicht sei es auch der letzte Ort, an dem wir uns sehen würden, fügte sie dann an, was mich etwas verwunderte. Dann fragte sie mich nach meinem Namen, den ich ihr nannte, und ich hakte nach, ob sie denn seine Bedeutung kennen würde. Sie bejahte. Ich sagte ihr, ihr Name sei doch Ronahî, wenn ich nicht falsch läge. Und dass das Licht bedeute, also jemand erhelle die Dunkelheit. Ein wunderschöner Name. Sie erwiderte, auch ihr gefalle der Name sehr. Darauf fragte ich, ob sie denn das Buch von Zarathustra gelesen habe, was sie verneinte. Ich sagte weiter, dass doch Nietzsche darüber geschrieben habe. Dass Zarathustra gesprochen habe. Darin beschreibe er, dass Zarathustra den Kampf des Lichts gegen die Dunkelheit führe. Dann fragte ich sie nach ihrem Alter, weil sie noch sehr jung aussehe. Sie überging jedoch die Frage und meinte, sie habe gehört, dass ich aus den Bergen gekommen sei, und ob ich dort keine Schwierigkeiten gehabt habe. Ich reagierte verärgert, was denn Schwierigkeiten seien, ob ihr Alter dafür denn schon ausreiche. Woher solle sie denn auch wissen, wie schwer es in meiner Heimat ist? Ob sie eine Journalistin sei, fragte ich; weil sie so viele Fragen stellte, kam mir das in den Sinn. Das verneinte sie jedoch, sie sei eine internationalistische Revolutionärin. Ob sie dabliebe, fragte ich daher, was sie bejahte. Sie sei hergekommen, um am Unterricht und der Ausbildung teilzunehmen.

Doch ihre Neugier wegen der Berge war nicht gestillt. Sie fragte weiter, wie denn das Leben und der Kampf in den Bergen seien. Ich sagte ihr jedoch, dass das nicht in ein paar Sätzen zu beantworten sei, und vertröstete sie auf später. Wie alt ich gewesen sei, als ich mich dem Kampf angeschlossen hatte, wollte sie nun wissen. Ich wirke noch sehr jung. Woraufhin ich entgegnete, dass ich diese Sichtweise gewohnt sei, diesen orientalistischen Blick auf uns. Ob sie denn wisse, dass meine Kindheit ermordet wurde, doch nicht nur meine, so sei es dort Tausenden von Kindern ergangen. Ich fügte hinzu, dass in unserer Heimat die Menschen keine Rechte hätten und die herrschende Besatzungsmacht und der Faschismus niemand ein Recht zugestehen würden. Besonders die Kurd:innen hätten keine Rechte. Es heiße in unserer Heimat, dass nur die Faschisten Rechte haben. Überrascht schluckte sie. Ob sie sich denn darüber nicht informiert habe? Dass tausende Kinder in Kurdistan ihrer Freiheitsträume beraubt werden würden. Woraufhin sie entgegnete, dass sie genau deswegen hergekommen sei, um als Internationalistin mit uns für unsere Heimat, unsere Freiheit und gegen den Faschismus zu kämpfen. Auch in ihrer Heimat sei vieles geschehen.

Während wir uns also so unterhielten, fiel ihr Blick auf das Buch in meiner Hand. Was ich denn lese? »Die Mutter«, von Gorki, erwiderte ich. Ob es mir auch so gut gefalle, fragte sie weiter. Es sei okay, antwortete ich etwas reserviert und fügte leicht gereizt hinzu, dass meine Mutter mindestens doppelt so patriotisch sei. Doch weil unsere Heimat besetzt sei und unsere Existenz verleugnet werde, würden die Geschichten unserer mutigen Mütter und unsere Held:innengeschichten leider nicht aufgeschrieben. Meine Mutter liebe ihre Heimat mindestens genauso sehr und habe ihre Kinder voller Herzensgüte der Revolution übergeben. Deswegen seien diese Geschichten aufgeschrieben worden, aber unsere leider nicht. Dem stimmte sie zu. Dann kamen wir erneut auf sie zu sprechen und ihre Begeisterung, die sie ausstrahlte. Sie sagte, dass sie diese Nacht, vielleicht wie noch nie zuvor, voller Vorfreude und Energie geschlafen habe. Außerdem sei ihr sofort das kommunale Leben aufgefallen, alle würden zusammen aufstehen, zusammen Sport machen und zusammen essen. Noch etwas anderes habe ihre Aufmerksamkeit erregt, sagte sie. Ob die Genossinnen denn nicht kochen würden? Nein, antwortete ich, dort würden nur die Männer in der Küche arbeiten. Darauf lachte sie laut und sagte, da werde das ganze Leben verändert. Doch nicht nur in Worten.

Dann wollte ich von ihr wissen, wo sie denn Kurdisch und Türkisch gelernt habe. Sie habe Freund:innen in Deutschland gehabt. Weil sie als Revolutionärin immer auf der Suche nach Freiheit gewesen sei, habe sie einige Kurd:innen kennengelernt, darüber sei sie auch mit den Ideen Rêber Apos [Abdullah Öcalan] in Berührung gekommen, habe sie studiert und ihr sei klar geworden, dass er in diesem Zeitalter nach einer neuen Art und Weise des Lebens sucht. Dass er ein Leben mit Gleichheit erträumt. Dann sprach sie davon, dass sich auch in Deutschland Menschen dem Faschismus entgegenstellen würden. Dass es die RAF gebe, organisierte junge Leute, verschiedenste Revolutionär:innen, auch in ihrer Heimat gebe es sie. Auf die Situation in meiner Heimat bezogen sprach sie davon, dass es auch in ihrer Heimat viele Ungerechtigkeiten gebe, viele Menschen andere unterdrücken würden. Dass auch dort Faschismus herrsche. Dass auch sie nicht frei seien. Dann sagte sie, dass sie bereits voller Vorfreude sei auf das heutige Gespräch mit dem Vorsitzenden. Worauf ich erwiderte, dass wir uns um neun Uhr in den Pavillon begeben würden, wohin auch er dann kommen werde.

Erstes Zusammentreffen mit Abdullah Öcalan
Als sich zu der Zeit alle Teilnehmenden der Ausbildung versammelt hatten, kam es mir so vor, als sei Ronahî unter allen vielleicht die gespannteste. Ihre blauen Augen blickten wie Meerestropfen aufgeregt umher, sie war sich wohl unsicher, was genau sie sagen sollte. Ihre Hände hatte sie auf die Knie gelegt, während sie in der vordersten Reihe sitzend auf die Ankunft des Vorsitzenden wartete.

Mit einem Mal erschien er, begrüßte uns alle, woraufhin sich alle Anwesenden erhoben und auf seine Handbewegung hin wieder Platz nahmen. Dann hieß er Gäste willkommen, eine deutsche Genossin, und dann bat er Ronahî aufzustehen. Als er sie fragte, ob ihr Name Ronahî sei, erwiderte sie: »Ja, mein Vorsitzender.« Er begrüßte sie. Ob sie gekommen sei, um uns besser kennenzulernen? Auch das bejahte sie, dass sie sich darum bemühen werde. Dann fragte er, von welcher Organisation sie gekommen sei. Dass sie aus dem Umfeld der RAF komme, entgegnete sie und schilderte ihren revolutionären Werdegang. Alle lauschten ihren Ausführungen sehr gespannt, wie sie so dem Vorsitzenden gegenüberstehend seine Fragen beantwortete. Ob sie sich denn sicher sei, dass sie dableiben will? Dass sie, wenn sie es sich anders überlege, auch wieder umkehren könne. Dass die Realität in Kurdistan sehr hart sei, die Gesellschaft sehr zerstückelt und die Kultur ganz anders. Dass sie niemand mit Zwang dort halten würden. Daraufhin erwiderte Ronahî, dass sie nicht nur dableiben, sondern auch in die Berge Kurdistans gehen wolle. Ob sie sich denn dafür vorbereitet sehe, fragte er. Was sie bejahte. Denn weil sie auf der Suche nach Freiheit sei, sei ihr kein Hindernis zu schwer.

Dann wollte der Vorsitzende wissen, ob sie denn zwischen all diesen Menschen aus allen Teilen Kurdistans mit all ihren unterschiedlichen Kulturen keine Schwierigkeiten habe. Das verneinte sie nicht nur, sie fügte auch hinzu, dass ihr die Art und Weise dort eine neue Hoffnung gegeben habe. Dass dort der Samen eines neuen Lebens gelegt, ein neuer Mensch geschaffen werde. Das seien ihre ersten Eindrücke. Und dass sie in dieser Schule eine gute Schülerin sein werde, dafür würde sie sich anstrengen. Der Vorsitzende sagte dann, dass jede:r Einzelne von ihnen mit den eigenen Problemen und der eigenen Kultur hergekommen sei und er mit ihnen allen einen tagtäglichen Kampf führen würde. Viele von ihnen hätten nicht die ihnen zustehende Erziehung erhalten, weil der Feind sie zerstückelt, ihre Hirne zerstückelt, sie von der Liebe, der Freiheit und dem Kurdentum entfremdet habe. Doch alle seien sie hergekommen, um sich an ihn zu klammern und von ihm zu verlangen, sie zu befreien. Freiheit werde jedoch nicht gegeben, man erschaffe sie sich. Sei es nicht so, fragte er an Ronahî gewandt. Sie nickte zustimmend. Nachdem er sie noch einmal willkommen geheißen hatte, beendete er den Unterricht. Alle kehrten zu ihren Aufgaben zurück.

Die Tage vergingen und die Freundin Ronahî nahm so gut sie konnte an allen Aktivitäten teil und führte viele intensive Gespräche mit allen. In nur kurzer Zeit wurde ihre Anwesenheit sehr offensichtlich. Besonders beim Sport, den sie sehr gern mochte und wobei sie sich sehr gescheit zeigte. Jeden Morgen, wenn wir uns zum Morgensport versammelten, erschien sie voller Vorfreude noch vor allen anderen.

Abschied aus der Akademie
Darüber vergingen Tage, Wochen, Monate, und die Freundin Ronahî entwickelte sich und half den Freund:innen um sich herum, sich auch zu entwickeln und Fortschritte zu machen. In jeder weiteren Unterrichtsstunde lernte sie etwas Neues. Eines Tages, als wir vom Sportfeld zurückkehrten, wandte sie sich an mich und sagte, dass sie nun schon eine ganze Weile da seien und sie sich an den Tag ihrer Ankunft erinnert habe, und dass wir uns genau dort an diesem Ort zum ersten Mal begegnet seien und wie sich in diesen Monaten die Genossenschaftlichkeit entwickelt habe. Dann fragte sie mich, ob ich nach Botan ginge, was ich bejahte, woraufhin sie ankündigte, auch nach Botan gehen zu wollen. Ich erwiderte, dass die Geografie und das Leben in Botan sehr anstrengend und schwer seien. Das sei ihr jedoch gleichgültig, entgegnete sie, und dass sie, egal was es koste, trotzdem mitkommen wolle. Dass viele der Freund:innen ihr voller Begeisterung von Botan erzählt hätten und auch früher schon Internationalist:innen dorthin gegangen seien, um zu kämpfen. Ich antwortete jedoch, dass ich nicht glaubte, dass der Vorsitzende dies gutheißt, und ich eher davon ausginge, dass er sie zurück in ihre Heimat schickt. Darauf sagte sie, dass sie keine feste Heimat habe, die sei überall, dass sie eine Revolutionärin sei, die keine Grenzen kenne. Ich bekannte, dass ich mich trotz meiner Zweifel, ob es ihr erlaubt werden würde, natürlich riesig freuen würde, mit ihr gemeinsam dorthin zu gehen. Und fügte hinzu, dass es schön wäre, sie so wie damals in der Schule auch in Botan begrüßen zu können.

Die Zeit ging ins Land und die Freundin Ronahî machte sich schon Monate vor mir auf den Weg in die Berge Kurdistans. Als sie uns verließ und wir uns alle zum Abschiednehmen versammelt hatten, sagte sie zu mir: »Du warst die Erste, die mich begrüßte, als ich hier ankam, nun werde ich die Erste sein, die dich begrüßen wird, wenn du ankommst.« »Aber wo denn?«, fragte ich. »In Botan natürlich«, entgegnete sie schmunzelnd. Sie wäre so gern mit mir gemeinsam dorthin gegangen und gemeinsam den dortigen Schwierigkeiten begegnet. Doch wenn uns das Glück hold sei, würden wir uns treffen, und auch wenn nicht, so sei sie doch im Geiste genossenschaftlich verbunden. Dann wollte sie noch wissen, was ich ihr mit auf den Weg gebe, worauf sie achten solle. Ich sagte ihr, dass die Verhältnisse in den Bergen teils sehr hart und schwierig seien und sie sich gut darauf einstellen solle. Woraufhin sie jedoch entgegnete, dass sie sich jeglichen Schwierigkeiten gewachsen sehe. Weil sie sich dem Ziel der Freiheit verschrieben habe, was ihr großes Selbstvertrauen verleihe. Dass ich mir dahingehend keine Sorgen machen müsse. Ich sagte ihr dann, dass ich mich also freuen und damit rechnen würde, dass sie mir, wenn ich ankäme, einen leckeren Tee zubereiten würde. Und so gaben wir uns das Versprechen, uns in den Bergen Kurdistans erneut zu begegnen. Als sie sich vom Vorsitzenden verabschiedete, wollte er von ihr, dass sie, wo auch immer sie hinkäme, auf jeden Fall alles aufschreiben solle. Das versprach sie. Dass sie das Leben der Revolutionär:innen in den Bergen aufschreiben und ihm zuschicken werde. Dann umarmte sie ihn und machte sich mit den anderen auf den Weg in Richtung Berge, einen Weg, auf dem jeder Augenblick Material für einen Roman liefern könnte, und wurde nicht nur zu einer Internationalistin in den Bergen Kurdistans, sondern zu einem Teil dieser Berge selbst.

Wiedersehen auf den Hochalmen von Elkê
Als auch ich nach ein paar Monaten die Ausbildung an der Akademie, der Schule des sich selbst Aufbauens beim Vorsitzenden abgeschlossen hatte, verabschiedete ich mich und begab mich Richtung Botan. Nach meiner Ankunft dort verging einige Zeit und dann erreichte mich die Nachricht, die Genossin Ronahî habe vorgeschlagen, zu mir versetzt zu werden. Damit packte mich ein Gefühl der Aufregung. Als ich fragte, wo Ronahî sei, sagten sie mir, dass sie sich nach dem Zap nun in Colemêrg (Hakkari) befinde und zu uns kommen wolle. Nach dem Brief der dortigen Freund:innen an uns war ich noch mehr von Freude erfüllt. Darin schrieben sie, dass sie gern zu den Freund:innen kommen würde, mit denen sie Zeit in der Akademie des Vorsitzenden verbracht hatte. Deswegen habe sie meinen Namen angegeben. Also schrieb ich umgehend eine positive Antwort, dass sie Ronahî gern zu uns schicken könnten. Zehn Tage waren darüber vergangen, als mir am frühen Morgen eine Freundin meldete, dass gerade eine Gruppe aus Richtung Colemêrg eingetroffen sei, die mich sehen wolle. Wir befanden uns in Elkê (Beytüşşebap), dessen Hochweiden die Heimat der Schäfer waren, ein Ort, an dem neues Leben erschaffen werden konnte. Jeden Frühling begaben sie sich mit ihren Tieren auf diese Weiden, doch seit einer Weile hatten sie sich hier nicht mehr blicken lassen. Es war ein verlassener Ort, an dem nur wir als Guerilla uns aufhielten. Morgens wehte ein kühler Wind und die Strahlen der Morgensonne legten sich auf die Erde.

Als ich mich langsam auf die neu ankommende Gruppe zubewegte, hörte ich die Freundin Ronahî laut rufen, während sie mir entgegenlief. Doch gegenüber unserer ersten Begegnung steckte sie nun in der typischen Guerilla-Kleidung, Pluderhose und weites Hemd. Über ihrer Schulter hing eine Kalaschnikow und um die Hüfte trug sie einen Magazingürtel. Als wir uns erblickten, umarmten wir uns innigst und ich hieß sie willkommen. Sie bemerkte, wie wunderschön es dort doch sei. Wie berauschend die Natur sei und wie sehr sie doch die Hochweiden liebe. Ich sagte ihr, dass sie sich sehr verändert habe. Offensichtlich hätten die Weiden ihre Gesichtsfarbe verändert. Von ihrem alten Ich sei keine Spur mehr übrig. Sie stimmte zu, in den Nächten sei es sehr kalt und während des Tages sehr heiß. Die Sonne sei sehr intensiv, fügte sie hinzu. Diesmal stimmte ich ihr zu. Der Sommer dort sei so. Sie sprach weiter, dass nicht nur die Hochweiden, sondern auch die Bäche und die Luft ihr sehr zusagten. Dann fragte ich sie, ob sie wisse, wie es früher aussah. Als sie verneinte, erzählte ich ihr, dass früher viele Hirten mit ihren Tieren dorthin gekommen seien und an den zu der Zeit noch sichtbar kahlen Stellen ihre Zelte errichtet hätten. Im Frühling seien sie gekommen und dann bis zum Herbst geblieben. Ihre Schafe hätten sich an den Gräsern gütlich tun können.

Auf dem Weg nach Faraşîn
Doch sie solle erst Faraşîn sehen, dort sei es noch viel schöner, sagte ich. Und fügte hinzu, dass wir in drei Tagen dorthin gehen würden und ich ihr einen ganz besonderen Ort zeigen wolle, der Quell der Fische genannt wird. Mit einem etwas überraschten Ausruf sagte die Freundin Ronahî, dass sie sich doch versprochen hätten, gemeinsam Fische zu fangen, und darauf ich, dass wir das ganz sicher machen würden. Dass dazu das Wasser des Masîro-Flusses sehr gut geeignet sei. Außerdem erinnerte sie mich daran, wie ich ihr damals in der Akademie versprochen habe, eines Tages gemeinsam zum Masîro zu gehen. Dann setzte ich noch hinzu, wie schön es doch sei, dass all die Dinge, die wir damals diskutiert und uns versprochen hatten, nun Schritt für Schritt realisiert werden würden.

Nach drei Tagen machten wir uns also auf den Weg nach Faraşîn. Auf der Wiese wuchsen alle erdenklichen Blumen wie Rosen, Narzissen, Dahlien, wilder Basilikum. Als Heval Ronahî ein Heft aus der Tasche zog, konnte ich sehen, wie sie all die verschiedenen Blumen, denen sie begegnet war, getrocknet und unter Klebeband geschützt darin eingeklebt hatte. Als ich sie fragte, was das sei, erwiderte sie, dass sie an jedem Ort, den sie besuche, eine Blume als Erinnerung bei sich behalte und außerdem die Bezeichnung der Fundstelle danebenschriebe. Denn sie habe die Hoffnung, wenn sich die Zeit ergebe, einmal ausführlich über die dortige Natur zu schreiben. Grinsend sagte ich, das sei eine sehr kluge Methode, ihr Heft anstelle einer Kamera zu verwenden. Dann blätterte sie darin und zeigte mir einige Seiten. Diese sei aus Elkê, sagte sie auf eine Blume deutend, auf einer anderen Seite zeigte sie mir eine aus Colemêrg, und nun, fuhr sie fort, würde sie noch eine aus Faraşîn einkleben. Daneben schrieb sie dann Kaniya Masiya (Quelle der Fische). Dann zog sie los, pflückte eine Lilie und eine Narzisse. Danach schöpfte sie mit ihren Händen etwas Wasser aus dem Fluss und benetzte ihr Gesicht damit. Dann holte sie tief, tief Luft. Während der ganzen Zeit beobachtete ich sie aufmerksam. Als sie erneut ihre Augen schloss und tief Luft geholt hatte, sagte sie plötzlich zu mir: »Komm schnell her, beeil dich.« Verwundert fragte ich, ob etwas passiert sei, doch sie winkte nur ab und wiederholte es. Als ich ihr erneut etwas fragend erschien, fügte sie hinzu: »Komm schnell her, stell dich neben mich, schließ die Augen und atme tief ein. Die Luft ist so frisch, dass sie einen berauscht.«

Sie war so begeistert von der frischen Luft und den vielen sie umgebenden Blumen und Gräsern. Als ich ihr dann sagte, dass ein Großteil davon sogar essbar sei, begann sie mich nach jeder einzelnen zu fragen. Was dieses sei und was jenes. Jede dieser Pflanzen, nach der sie mich fragte, erläuterte ich ihr, eine nach der anderen. Sie wolle all die Namen in ihr Heft schreiben, sagte sie. Wie viele verschiedene es denn da wohl gebe, fragte sie noch, was ich ihr jedoch nicht beantworten konnte. Ob wir denn nicht eine kleine Untersuchung darüber beginnen sollten? Darauf entgegnete ich schmunzelnd, dass wir dafür leider keine Zeit hätten und ob sie sich denn unter die Botaniker:innen begeben habe. Sie gab zurück, dass jede:r Revolutionär:in gleichzeitig auch Naturliebhaber:in und Verteidiger:in der Tiere sein müsste. Ich stimmte ihr zu; wie anders wäre doch alles, wenn Kurdistan nicht besetzt sei, und was ließe sich alles machen, wenn die Revolution erfolgreich sei. Heval Ronahî sagte daraufhin, dass sie, wenn das alles dort befreit sei, doch liebend gern auf dem höchsten Gipfel ein kleines Lokal eröffnen wolle, wo sie all die Kräuter und Pflanzen aus der Umgebung auf leckere Art und Weise zubereitet anbieten würde. Ich fügte hinzu, dass es sicherlich auch etwas Schönes wäre, wenn die Schäfer mit ihren Zelten, Kindern und Tieren nun da wären. Erfüllt von der Schönheit dieses Ortes mit seiner klaren Luft, wanderte ihr Blick in die Ferne, und sie war so angetan vom Farbenreichtum, als würden gleich mehrere Jahreszeiten nebeneinander ihr Kleid über die Natur legen. Dass es wegen der frischen, klaren Luft auch ein sehr erholsamer Ort für kranke Menschen sein müsse, fügte sie dann noch hinzu. Unbedingt müsse sie an dem Tag noch alles aufschreiben, was sie dort erlebt hätten. Fast wie ein Gemälde sehe die Natur dort aus.

Dann fuhr sie fort, dass sie, bevor sie nach Botan kam, geglaubt habe, die kurdische Realität bereits verstanden zu haben, doch nachdem sie angekommen sei, mit den Menschen dort und in dieser Natur gelebt habe, ihr Verständnis ein völlig anderes geworden sei. So viel Liebe würden sie ausstrahlen. Als sie kurz zuvor in ein Feuergefecht geraten seien, erinnerte sie sich, hätten alle Genoss:innen zuallererst nach ihr gefragt und ob es ihr gut gehe. Ein bisschen geschämt habe sie sich dabei, aber gleichzeitig habe es auch die tiefe Liebe und Sorge der Freund:innen gezeigt. Doch sie sei auch ein bisschen traurig darüber gewesen und habe sich etwas später an den verantwortlichen Kommandanten gewandt. Warum sie denn alle bei dem Feuergefecht nur nach ihr gefragt hätten, habe sie von ihm wissen wollen. Nur weil sie sich noch nicht genügend auskenne und sie sich deshalb sorgten, damit sie nicht verloren ginge. Sie habe dann gesagt, dass sie nur sichergehen wolle, dass sie nicht anders als die anderen behandelt werde und darum etwas ärgerlich geworden sei.

Fische fangen im Masîro
Einige Tage vergingen und wir gelangten zum Masîro, um dort unser Lager aufzuschlagen. Die Freunde waren schon vor uns angekommen und bereits zum Fischen aufgebrochen. Doch ihre Angelstelle war tief und das Wasser eiskalt, was ihnen entgegen ihren Erwartungen nur einen kläglichen Fang einbrachte. Als nun auch wir uns auf den Weg machten, begegneten wir einer Gruppe von Freunden mit einer Tüte mit ein paar Fischen. Sie meinten, wir sollten lieber mit ihnen umkehren, weil das Wasser kalt und tief und daher wenig geeignet sei, Fische zu fangen. Als wir jedoch darauf bestanden, es selbst zu versuchen, fragten sie etwas herablassend, wie denn wir, wenn sie es schon nicht geschafft hätten, einen ordentlichen Fang zusammenbekommen wollten. Daraufhin entfuhr Heval Ronahî ein verärgerter Wortschwall über die verdammte männliche Mentalität und dass sie schon sehen würden, dass wir nicht mit leeren Händen zurückkommen würden. Die Freundin Nûjin und ich blickten Heval Ronahî an und mussten grinsen, sagten ihr aber, nun besser zu gehen und erst mit einem handfesten Ergebnis vor die Freunde zu treten. Weil wir alle drei gut schwimmen konnten, dauerte es nicht lange, bis wir viele Fische gefangen hatten und diese immer wieder an Land warfen, wo zwei Freundinnen sie aufsammelten. Während wir so immer wieder in das kalte Wasser eintauchten, riefen wir oftmals beim Auftauchen mit unserem Fang wedelnd nach den anderen. Einmal rief die Freundin Ronahî mir zu, unsere Socken auszuziehen und damit die Fische zu halten, damit sie uns nicht aus den Händen glitten. Beeindruckt musste ich ihren Erfindungsreichtum loben, der sich als sehr hilfreich herausstellte. Auf diese Weise hatten wir in recht kurzer Zeit einen guten Haufen Fische zusammen. Das Sammeln von Pilzen auf den Hochweiden wie auch das Fangen von Wildfischen erfüllt eine:n immer mit einem starken positiven Gefühl.

Als wir uns mit unserem großen Fang auf den Rückweg machten, war kaum zu glauben, dass wir so erfolgreich gewesen waren. Heval Ronahî sagte dann, dass sie gern einen Teil zu den Freunden bringen würde. In der Nähe ihres Lagers rief sie »Heval, Heval!«, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Als sie wissen wollten, was los sei, hieß Heval Ronahî sie kommen und sich einen Teil der Fische abholen. Die Freunde zeigten sich jedoch recht misstrauisch und frotzelten, ob wirklich wir die Fische gefangen hätten. Die Freundin Ronahî packte etwa 10 bis 15 Fische in eine Tüte und lief zu ihnen hinüber: »Wir haben genug für uns, für euch und die nächsten zwei Tage gefangen.« Einem der Freunde, der ihr entgegenkam, sagte sie: »Hier, gib die deinem Kommandanten, der meinte, wir würden beim Fischen keinen Erfolg haben. Ich werde dann später, wenn wir gegessen haben, auf einen Tee bei euch vorbeischauen.« Das tat sie dann auch. Uns sagte sie: »Die haben sich einen Spaß mit uns gemacht, dass wir keine Fische fangen können, denen werde ich es zeigen.«

Beim Tee setzte sie sich mit den Freunden zusammen und sie unterhielten sich. Dann fragte sie: »Warum nur habt ihr kein Vertrauen in uns Frauen? Im Gefecht stehen wir vor euch, bei den Märschen laufen wir vor euch, auch mehr Fische als ihr haben wir gefangen. Der Vorsitzende hat in dieser Hinsicht eine völlig andere Annäherung als ihr.« Dann begann sie ihnen detailliert von ihrer Zeit in der Akademie und den Bewertungen des Vorsitzenden zu berichten. Die meisten der Freunde nahmen ihre Erzählungen freundlich auf, nur der Kommandant der Gruppe blickte weiterhin etwas ablehnend. Als Heval Ronahî wieder einmal etwas in seine Richtung äußerte, meinte er nur, dass wir alle drei, also Ronahî, Nûjin und Melsa, sowieso wie Fische im Wasser seien. Als sie dann von den Freunden wieder zu unserem Camp zurückkehrte, empfing Heval Nûjin sie lachend: »Na, hast du den Freunden ein ordentliches Seminar erteilt?«, feixte sie. Auf Heval Nûjins Bemerkung hin, die Männer würden sich sowieso nicht ändern, widersprach ihr Heval Ronahî und sagte, dass es an uns Frauen liege, dies zu erkämpfen, und dass Worte allein nicht ausreichten, sondern die Praxis von großer Bedeutung sei.

Hinterhalt auf dem Weg nach Besta
Gegen Abend machten wir uns zügig wieder auf den Weg Richtung Besta. Nach etwa einer Stunde Marsch gerieten wir jedoch in einen feindlichen Hinterhalt. Während des Feuergefechts wurde mein Bein von Splittern getroffen, so dass ich nur unter großen Schmerzen vorwärtskam. Zwar hatten wir es geschafft, den Hinterhalt hinter uns zu lassen, ich konnte mich jedoch kaum fortbewegen. Immer wieder kamen Freund:innen, um mir unter die Arme greifend eine Stütze zu sein, doch mit jedem Schritt schmerzte mein Bein. Als ich aufschaute, sah ich, wie sich mir plötzlich Heval Azîme und Heval Ronahî näherten und ankündigten, sie würden mich stützen. Weil beide hochgewachsen waren, schmerzte mein Bein nicht, während sie mich hochhoben. Vielleicht zwei Stunden trugen sie mich so gut sie konnten weg vom Ort des Hinterhalts.

Am nächsten Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen sich hervorwagten, holten die Freund:innen einen Arzt, der sich mein Bein besah und die Splitter herausholte. Mein Glück war, dass sie nicht allzu tief eingedrungen waren. Daraufhin fragte Heval Ronahî ihn, ob er Material bei sich habe, mit dem sie die Wunde regelmäßig reinigen könne. Auf die Frage, ob denn jemand aus dieser Einheit etwas davon verstünde, erwiderte sie, sie würde sich mit Heval Azîme persönlich darum kümmern. Und meinem Einwand, dass ich nun, da die Splitter entfernt seien, wieder laufen könne, begegnete sie mit einem breiten Grinsen, dass nun sie meine Ärztin sei und daher entscheide, wann ich kuriert bin. Nach ein paar Tagen ging es mir schon erheblich besser, und bis heute fühle ich die große Dankbarkeit, dass Heval Ronahî und Heval Azîme mich aus diesem Gefecht gerettet haben. Dass sie an die zwei Stunden lang, mich schulternd, uns in Sicherheit gebracht haben. Jedes Mal, wenn ich eine der beiden sah, fühlte ich fast so etwas wie eine Schuld auf meinem Rücken. Ihre starke Genossenschaftlichkeit, aufgrund derer sie mich trotz der Kugeln und umherfliegenden Splitter auf sich geladen und in Sicherheit gebracht hatten, würde mir für immer in Erinnerung bleiben. Eine ganze Zeit lang noch waren wir gemeinsam in einer Einheit und jedes Mal, wenn ich irgendwo hinging, bestanden die beiden darauf, mit mir zu kommen.

Dem Feind eine angemessene Antwort geben
Die Zeit verging und nach einer Weile begaben wir uns wieder in Richtung Elkê. Dort setzten wir uns an den berühmten Nismo-See und Heval Ronahî holte Heft und Stift aus der Tasche und begann zu schreiben. Von der Schönheit des Sees und seiner Umgebung, zwischen diesen Bergen und und und. »Jeden Tag und jeden Moment, jedes Mal, wenn wir ein Gefecht überstehen und uns erneut unseren Aufgaben zuwenden können, erkenne ich, wie sich die Bedeutung und der Wert des Lebens noch steigern«, sagte sie dann. Nickend stimmte ich ihr zu; es sei Zeit, uns der Planung zuzuwenden, dass wir uns um die Vorbereitung einiger Aktionen und Angriffe kümmern müssten. Dass wir jeder Operation des Feindes mit einer angemessenen Antwort zu begegnen hätten.

Im Laufe der nächsten Tage also begannen die Planungen und alle Freund:innen wurden zusammengetrommelt, um sie mit ihnen zu teilen und die Aufgaben zu verteilen. Als ich an einem Tag unter einem Apfelbaum saß, dieser Sorte saurer Äpfel, die in dieser Gegend weit verbreitet sind, da gesellten sich Heval Ronahî und Heval Azîme zu mir. Heval Ronahî bekannte, dass sie mit jedem Tag, den sie unter solch teils schwierigen Bedingungen verbringe, dem Leben und der Freiheit mehr Bedeutung gebe. Deshalb sei sie sehr glücklich, nach Botan gekommen zu sein. Dass sie dort unendlich vieles gelernt habe. Darauf entgegnete ich, dass sie nun wie ein Mädchen aus Botan sei. »Ich habe sogar ihre Redensarten gelernt«, sagte sie lachend, »darum werde ich meinen Namen jetzt in Ronahî Botan ändern.«

Ob sie denn überhaupt keine Schwierigkeiten im Leben dort habe, fragte ich sie, worauf sie zugab, dass sie sehr wohl mit einigem hadere, besonders einigen Angelegenheiten keine Bedeutung geben könne. Dass sie sich an eines unserer ersten Gespräche erinnere, als ich ihr gesagt habe, dass unsere Realitäten, in denen wir aufwachsen, meilenweit auseinander lägen. Sie denke in letzter Zeit sehr viel über die Soziologie des kurdischen Volkes nach. Die sei sehr interessant und dass sie sich ihr sehr nahe fühle. Vielleicht sei das auch mit der gemeinsamen Philosophie verbunden, für die sie kämpfen würden. »Ich bin ja auch nicht nur eine Internationalistin, inzwischen bin ich genauso zu einem Mädchen aus Botan geworden. Ich träume davon, all meine Gedanken dazu und all diese Beobachtungen aufzuschreiben und dem Vorsitzenden zu schicken.« »Der wird fragen, ob wir denn in einem riesigen Garten leben würden, wenn er dein Heft durchsieht«, sagte ich schmunzelnd. »Ich habe sie aber nicht nur in mein Heft eingeklebt, sondern auch in meinen Gedanken abgespeichert«, fügte sie hinzu, »mein Wunsch ist es, all diese Erinnerungen und Erlebnisse aufzuschreiben, damit andere Völker einen Eindruck von dem Leben und dem Kampf hier in den Bergen Kurdistans gewinnen können. All den Schwierigkeiten, die hier durchlebt werden, wofür hier gekämpft wird.«

Aber eines verwundere sie jedes Mal aufs Neue, das seien die Dorfschützer. Also diejenigen, die während der Operationen der türkischen Armee dieser zu Hilfe eilten. Und das, obwohl sie selbst Kurden seien. »Hast du nicht gehört, wie sie in den letzten Gefechten nach uns riefen und uns aufforderten, uns zu ergeben?«, fragte sie. Ich erwiderte ihr, dass unser Volk verdammt worden sei. Heval Azîme jedoch widersprach mir und fragte, warum wir so schlecht von den Kurd:innen sprechen würden. Ich sei doch auch Kurdin, sagte ich ihr dann. Und ob ihr diese Dorfschützer nicht auch bitter aufstießen und eine:n zum Nachdenken über die Soziologie des eigenen Volkes anregten? Heval Ronahî fügte hinzu: »Ja, die Soziologie des kurdischen Volkes ist wirklich merkwürdig und noch immer sind sie so in ihren Feind verliebt.«

Ob ich mich an das Buch erinnern würde, dass sie gelesen und mir empfohlen habe, fragte sie mich dann. Woraufhin ich wissen wollte, welches, weil wir uns immer wieder gegenseitig Bücher empfohlen hatten. Das über die Pädagogik der Unterdrückten1, meinte sie dann. Worauf ich mich erinnerte. Dass die Armee, wenn es diese Banden und Dorfschützer nicht gebe, keinen Fuß in die Berge setzen könnte, sagte ich dann. Und dass auch ich damals von diesem Buch sehr beeindruckt worden sei. Wie dort der Kolonialismus und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft beschrieben werden würden und dadurch die Zerstückelung und der Verfall der Gesellschaft. »Doch wir als kurdische Gesellschaft wurden nicht nur einmal massakriert, sondern immer und immer wieder. Weil die Liebe, die Kultur, die Kindheit, alle Aspekte dieses Volkes massakriert wurden, müssen die Revolutionär:innen, die dieses Volk befreien wollen, besonders stark sein.« Dem stimmte sie zu und ergänzte, dass sie denke, dass diese vielen jungen Menschen da in den Bergen nicht lange überdauern könnten, wenn der Glaube an die Befreiung nicht so stark sei. »Sie nehmen Rache für ihre Liebe, für ihre Heimat. Hast du das alles aufgeschrieben?«, fragte ich. »Ja natürlich, vier Hefte habe ich bereits vollgeschrieben.« Sie solle sie gut verpacken und an den Vorsitzenden schicken, sagte ich ihr. Die Kurier:innen würden sich die Tage auf den Weg machen.

Die Suche nach Freiheit …
Am Abend dann machten wir uns Gruppe für Gruppe auf. Eine Gruppe würde sich um das Auskundschaften des Feindes für künftige Aktionen kümmern, die anderen Gruppen zur Einheit von Heval Agirî stoßen. Bevor wir loszogen, rief ich Heval Ronahî und Heval Azîme zu mir und erklärte ihnen, dass wir nun getrennte Wege gehen würden. Doch Heval Ronahî fiel mir ins Wort, dass auch sie mit mir gehen würde. Dass sie auch das Auskundschaften lernen und sich gleichzeitig auch an der Aktion beteiligen wolle. Ich sagte, dass es vielleicht beim nächsten Mal möglich sei, doch sie insistierte, dass sie dieses Mal teilnehmen wolle. Darauf erwiderte ich, dass das nicht möglich sei, weil wir bereits die Gruppen eingeteilt hätten und sie beide zur Einheit von Heval Agirî stoßen würden. So ging es noch eine Weile hin und her, doch ich ließ mich nicht erweichen, weil alle Planung bereits unter Dach und Fach war. Später sagte sie, dass sie sich an ihre Ankunft in der Akademie erinnere und ich die erste Freundin gewesen sei, die sie begrüßt habe. Und dass wir uns doch in der Akademie versprochen hätten, dass wenn sie nach Botan käme, sie von mir alles Nötige lernen könne. »Oho«, sagte ich, »bis nach Damaskus sind deine Gedanken jetzt gewandert.« Während ich daran dachte, dass schon damals die Rede davon war, dass wir uns vielleicht zum letzten Mal sehen würden, wanderte mir plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken und ich erstarrte förmlich. Heval Ronahî konnte nicht umhin, das zu bemerken. Ich war über mich selbst verwundert, wie mir gerade dieser Gedanke jetzt in den Kopf gekommen war. Heval Ronahî fragte dann, ob ich mich erinnern würde, wie ich sie damals verärgert angesehen und gefragt hatte, ob sie denn die kurdische Realität nicht richtig kennen würde. »Die Zeit ist schon etwas Wunderliches. Darum sagt ja auch der Vorsitzende »Zeit, entweder ich werde dich frei leben oder gar nicht.« Was für eine lange Reise wir doch schon unternommen hätten, sinnierte ich. Dort von Damaskus, über die Gipfel des Cûdî, von dort nach Besta, nach Elkê, bis nach Colemêrg. Nun waren wir an solch einem schönen Ort. Der Geist des Menschen ist doch wirklich etwas Beeindruckendes. Die Suche des Menschen ist so etwas. Jedes Mal, wenn er etwas lernt, begegnen ihm neue Dinge und Ideen. »Ja, so ist die Suche nach Freiheit, endlos und immer begegnet man Neuem. Manchmal denke ich, dass der Vorsitzende selbst über Jahre hier in diesen Bergen gelebt haben muss. So genau beschrieb er uns die Schwierigkeiten und Probleme, die uns später eins nach dem anderen begegneten«, sagte ich. Heval Ronahî antwortete, dass sie das alles versuchen werde niederzuschreiben, aber dass sie manchmal denke, wäre sie doch früher hergekommen. Hätte sie doch früher all das erlebt und entdeckt. »Bevor ich nach Kurdistan kam, dachte ich, ich hätte bereits viel gelernt und wüsste viel, doch nach meiner Zeit hier in den Bergen muss ich diese Ansicht revidieren«, fügte sie hinzu. Jeden Tag würde sie neue Menschen kennenlernen, die alle so viele Erfahrungen mit sich brächten.

Während es Abend wurde, begann der Wind kälter zu wehen und Stern für Stern erschien am Himmel. Wir alle machten uns für den Abmarsch bereit und Heval Ronahî fragte: »Warum nur ist mir heute dieser erste Tag unserer Begegnung in den Sinn gekommen?« Das wüsste ich auch nicht, antwortete ich ihr. Dann zog ich zwei der wertvollsten Dinge aus meiner Tasche, die eine Guerillakämpferin besitzt, mein Tagebuch und mein Fotoalbum. Ich gab sie Heval Ronahî und Heval Azîme: »Ich werde jetzt aufbrechen, aber mein Tagebuch und mein Fotoalbum lasse ich bei euch. Das ist das Wertvollste, was ich habe.« Darauf Heval Ronahî: »Wir werden gut darauf aufpassen, aber auch du musst versprechen, gut auf dich aufzupassen. Dort, wo du hingehst, ist es gefährlich. Versprich uns, dass wir uns wiedersehen.« Ich versprach es und erinnerte sie auch daran, vorsichtig zu sein. Es gebe Informationen, dass der Feind demnächst eine groß angelegte Operation begänne. Heval Ronahî sagte nur, dass ich sie ungerecht behandele, so allein ohne sie zu gehen, und fragte dann etwas verschmitzt, wer dann da sei, um mich zu tragen, wenn ich erneut verwundet werden würde. Als ich auf Heval Kerim verwies, begann sie laut zu lachen. Der sei so klein, dass meine Beine auf dem Boden schleifen würden, sollte er mich hochheben. Doch ich versicherte ihr, dass ich nicht vorhätte, diesmal erneut verwundet zu werden. Dann verabschiedeten wir uns voneinander. Als die Gruppe, mit der ich mich entfernte, erst ein paar Schritte gegangen war, rief Heval Ronahî plötzlich ganz laut: »Warte, warte!« Was denn los sei, wollte ich wissen, ob ich etwas vergessen habe. Doch sie umarmte mich nur ganz fest, ich solle gut auf mich aufpassen. Dann sagte ich ihr noch, dass sie und Heval Azîme, wenn es zu einer Operation komme, dem Einheitskommandanten stützend zur Seite stehen sollten, weil er neu auf seinem Posten sei. Dann versprachen wir uns, uns bald erneut zu sehen. Bis wir aus ihrem Blickfeld verschwunden waren, rief sie noch einmal, dass ich gut auf mich aufpassen solle. Mir kamen ihre blauen Augen in den Sinn und ein mulmiges Gefühl bemächtigte sich meiner, und ich fragte mich, warum nur wir jetzt wieder daran erinnert worden seien, was wir damals in der Akademie gesprochen hatten. Bei jedem Schritt schlug mein Herz schwer und es fühlte sich an, als bohre sich ein Nagel mit jedem weiteren Schritt in meine Brust.

Zwei Tage vergingen und wir wurden in ein Gefecht verwickelt, während die erwartete Operation des Feindes begann. Drei Tage dauerte der Kampf, bis beide Seiten etwas Zeit zum Atmen brauchten. Doch während der gesamten Zeit gingen mir Heval Ronahî und Heval Azîme einfach nicht aus dem Kopf. Ganz im Gegenteil. Mit jedem Tag hatte ich mehr Fragen. Ob es ihnen wohl gut gehe, ob sie einen sicheren Platz gefunden hätten ... Nach vier Tagen Gefechten und dem Rückzug des Feindes war es ein Erstes, per Funkgerät Kontakt mit der Einheit von Heval Agirî aufzunehmen, um mich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Sie berichteten, dass der Feind einen Gipfel in ihrer unmittelbaren Nähe eingenommen habe und sie deswegen in der kommenden Nacht ihr Lager an einen anderen Ort verlegen würden.

Am Abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, hörten wir aus der Nähe das Knattern von Gefechten. Mit jedem Schuss, der abgefeuert wurde, fühlte ich mich, als werde ich innerlich getroffen, und Heval Ronahî mit all ihren Bewegungen und dem, was sie alles so gesagt hatte, rauschte an meinem inneren Auge vorbei. Und ihr Heft mit den vielen verschiedenen Blumen. Dann kam mir auch in Erinnerung, was sie darüber gesagt hatte, ein Lokal auf einem der Berggipfel zu eröffnen. Ihre Stimme echote in meinem Ohr.

Nach einigen Tagen erreichte mich die Nachricht, dass die gesamte Einheit von Heval Agirî in ein schweres Gefecht am Fuße des Sixûr-Gipfels verwickelt worden sei, nahe dem Dorf Keleş. Dort habe der türkische Faschismus ein Massaker an unseren Freund:innen begangen und ihre Körper zerfetzt. Alle Freund:innen der Einheit erschienen nacheinander vor meinem inneren Auge. Sobald es die Situation zuließ, begaben wir uns zum Ort des Gefechtes. Der Anblick, der mich dort empfing, führte mir erneut die Grausamkeit des türkischen Faschismus vor Augen. So schrecklich war er. Auch die internationalistische Revolutionärin, die verliebt war in die Freiheit, hatte ihre Zelte abgebrochen und dieser Welt entsagt. Doch ihre Worte bleiben und viele nach ihr, die sich voller Stolz den Namen Ronahî gegeben haben und geben werden.


 Fußnote

1  Die Pädagogik der Unterdrückten – Paulo Freire


 Kurdistan Report 229 | September / Oktober 2023