Pluriverse – Pluriversum

Zum Erscheinen des »Lexikon des Guten Lebens für alle« auf Deutsch

Interview des Kurdistan Report mit Ashish Kothari

Für kommenden Oktober ist das Erscheinen der deutschen Ausgabe des Sammelbandes »Pluriversum. Ein Lexikon des Guten Lebens für alle« angekündigt, in dem transformative Alternativen zu den heute vorherrschenden gesellschaftlichen und ökonomischen Prozessen sowie zahlreiche entsprechende Initiativen vorgestellt werden. 2019 erschien das Buch auf Englisch mit dem titel »Pluriverse«. Ashish Kothari ist einer der Herausgeber:innen.

Kannst Du dich kurz vorstellen und die Absicht hinter Eurem Buch erläutern?

Mein Name ist Ashish Kothari und ich arbeite seit 44 Jahren für die aktivistische Umweltgruppe Kalpavriksh und ein nationales Forum, Vikalp Sangam (Confluence of Alternatives) in Indien und gehöre zum Hauptteam des Global Tapestry of Alternatives1. Die Idee für das Buch »Pluriverse« entstand aus einem Gespräch, das Alberto2 und ich am Rande der Internationalen Degrowth-Konferenz in Leipzig im Jahr 2014 nach einer Sitzung führten, in der wir über radikale Alternativen gesprochen hatten. Es war ein besonders interessantes Gespräch, denn er sprach nur wenig Englisch und ich kein Spanisch, aber wir konnten uns trotzdem verständigen! Dazu trug auch Federico bei, der beide Sprachen beherrschte und bei der gleichen Konferenz zu unserem Gespräch dazustieß. Wenig später haben wir auch Arturo Escobar und Ariel Salleh3 hinzugezogen.

Das Hauptanliegen des Buches ist es, auf möglichst verständliche Weise eine Reihe von radikalen alternativen Praktiken und Weltanschauungen aus der ganzen Welt zu präsentieren, als eine Art Kompendium der Hoffnung, das dem vorherrschenden Narrativ von Unheil und Düsternis etwas entgegensetzen kann. Wir hoffen, dass wir damit viele Menschen erreichen, vor allem junge Menschen, die von der gegenwärtigen Situation frustriert sind und nach Wegen der Veränderung und Alternativen suchen, die erfolgversprechend sind.

Wir hatten auch von Anfang an die Absicht, das Kompendium in mehrere Sprachen zu übersetzen, um die Vielfalt des Pluriversums widerzuspiegeln und ein großes Publikum zu erreichen. Ungefähr zur gleichen Zeit habe ich auch geholfen, eine Website für Geschichten über radikale Transformationen auf der ganzen Welt einzurichten, https://radicalecologicaldemocracy.org, die mit der Vernetzung rund um den Ansatz der Radical Ecological Democracy (Radikal-ökologische Demokratie) oder Eco-Swaraj verbunden ist, über den ich in dem Buch geschrieben habe4.

 

Was war die Inspiration für das Buch? Warum war es für Euch wichtig, dieses Buch zu schreiben?

Für alle Mitherausgeber:innen sind die Hauptinspirationen die Kämpfe von Gemeinschaften und Kollektiven bei ihnen vor Ort, die sich sowohl gegen zerstörerische Prozesse der »Entwicklung« wehren, die durch die Strukturen des Kapitalismus, des Etatismus, des Rassismus, des Patriarchats und des Anthropozentrismus hervorgerufen und aufrechterhalten werden, als auch bestehende oder neue konstruktive Alternativen zu diesen durchsetzen, die dazu beitragen, menschliche Bedürfnisse und Bestrebungen zu erfüllen, ohne die Erde zu zerstören und enorme Ungleichheiten und Not zu schaffen. Leider haben die Mainstream-Medien, die akademische Welt und sogar ein großer Teil der Zivilgesellschaft (ganz zu schweigen von den Regierungen!) diese Bemühungen ignoriert oder ins Abseits gestellt, insbesondere die Schaffung konstruktiver Veränderungen, die auf lokaler Ebene stattfinden, bleiben unbeachtet. Daher hielten wir es für wichtig, diese Bemühungen so weit wie möglich mit den Worten der Praktiker:innen oder Visionär:innen selbst zu beschreiben und sie für die Welt sichtbar zu machen. Wir hielten es auch für wichtig, auf eine große Vielfalt von Alternativen hinzuweisen und zu betonen, dass es nicht nur eine einzige Lösung oder Antwort gibt, nicht nur eine einzige Alternative, sondern eine Vielzahl an Alternativen, jede für sich einzigartig, aber auch mit einigen gemeinsamen Strängen ethischer Werte und Prinzipien. In unserem Einführungskapitel werden einige dieser Hauptpunkte ausführlicher dargestellt.

 

In Eurem gemeinsam herausgegebenen Buch »Pluriverse« werden verschiedene transformative Alternativen vorgestellt. Du hast die Theorie der »Flower of Transformation« entwickelt. Kannst Du die Eckpfeiler dieser Theorie vorstellen?

Die »Flower of Transformation« ist eine Art Analysewerkzeug oder vielleicht sogar eine Vision der Gesellschaft, die hilft, radikale Transformationen in Richtung Gerechtigkeit, Gleichheit und Nachhaltigkeit zu verstehen und voranzutreiben. Sie ist aus dem Vikalp Sangam-Prozess5 in Indien hervorgegangen, der auch mit meiner Arbeit über radikal-ökologische Demokratie zusammenhängt. Es besteht aus fünf Blütenblättern oder Bereichen: den politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und den ökologischen. Im Mittelpunkt stehen ethische Werte und Prinzipien, die die Grundlage für solche Veränderungen bilden, wie Solidarität, gemeinsame Vernetzung, Vielfalt und Pluralismus, Rechte von Menschen und der übrigen Natur, Würde usw. Wir nutzen dieses Werkzeug, um die Bewegungen für radikale Demokratie und Autonomie, für Lebensmittel-/Energie-/Wassersouveränität und solidarische Ökonomie, kulturelle und wissensbasierte Vielfalt, naturbezogene Weltanschauungen und viele andere zu verstehen, die es weltweit gibt – und deren Überschneidungen, und um zu verstehen, was noch alles geschehen muss. Nachstehend eine bildliche Darstellung der Blume6.

Grafik_Asish_Kotari_Blume

 

Was die deutsche Ausgabe Eurer Publikation betrifft: welche der verschiedenen transformativen radikaldemokratischen und ökologischen Alternativen, die in dem Buch vorgestellt werden, hältst Du in Deutschland für umsetzbar? Wo müssen wir ansetzen, damit sie sich hier etablieren können?

Das ist schwer zu sagen, denn das können die Deutschen besser beurteilen als ich! Aber aus dem Wenigen, was ich über die deutsche (und europäische) Realität weiß, denke ich, dass einige Punkte entscheidend sind:

Schritte in Richtung Vergemeinschaftung, einschließlich der Rückführung privatisierter Räume in die Gemeinschaft (z.B. Parkplätze in städtische Gärten oder Bauernhöfe; oder von geistigem Eigentum beherrschtes Wissen in Copyleft oder Creative Communities);

Degrowth, d.h. die Reduktion des Material- und Energieverbrauchs auf ein Niveau, das für die Erde nachhaltig ist und mehr ökologischen und klimatischen Spielraum für die immer noch benachteiligten Menschen des globalen Südens schafft, damit sie genug Energie, Nahrung usw. haben;

radikale Neuinterpretationen der gängigen Religionen, um sie wieder in Einklang mit den grundlegenden spirituellen Werten der Solidarität, des Mitgefühls, der Einfachheit usw. zu bringen – und weg von dogmatischen Hegemonien und Zwängen;

Wiedervereinigung mit und Wiedereingliederung in die Natur, einschließlich der Anerkennung ihres ethischen und spirituellen Wertes (die Bewegung zur Anerkennung von »Rechten der Natur« geht bis zu einem gewissen Grad in diese Richtung, wenn sie nicht im formalen legalistischen Rahmen stecken bleibt);

eine andere Globalisierung oder de-koloniale Ansätze, die Deutschland (und Europa) von der Vorstellung befreien, dass es »entwickelter« sei als der globale Süden, dass es eine überlegene Zivilisation habe und den Rest der Welt belehren müsse, so dass eine gleichberechtigtere Beziehung mit dem globalen Süden aufgebaut wird.

 

Ein Teil Deiner Arbeit befasst sich mit der internationalen Vernetzung von Bewegungen, die alternative soziale Projekte vorschlagen und umsetzen. Wie beurteilst Du in diesem internationalen Kontext demokratischer Bewegungen die kurdische Freiheitsbewegung, die den Widerstand und den Aufbau eines demokratischen Konföderalismus in Kurdistan vereint?

Abgesehen von dem einen Aufsatz, den wir über die kurdische Bewegung in dem Buch haben, denke ich, dass die Bewegung Verbindungen zu vielen anderen Aufsätzen über Autonomie, radikale Demokratie, ökologischen Feminismus und anderes aufweist. Meines Erachtens ist sie eine der aufregendsten Bewegungen auf dem Planeten, weil sie vielfältige Veränderungen erforscht, die nicht nur den Kapitalismus, sondern auch den Nationalstaat in Frage stellen und sich ihm widersetzen, eine Form des Ökofeminismus durchsetzen, für ein radikales Gleichgewicht zwischen individuellen Freiheiten und Gemeinschaftsinteressen eintreten und zeigen, wie politisches Walten in großem Maßstab ohne einen zentralisierten Staat funktionieren kann. Ich habe darüber geschrieben7, wie die Blume der Transformation in Kurdistan bereits erblüht (obwohl sie natürlich vor großen Herausforderungen steht, sowohl intern als auch extern!), und ich hoffe, dass wir die Beziehungen zu dieser Bewegung vertiefen und ausweiten können, insbesondere durch den Globalen Wandteppich der Alternativen8, um das gegenseitige Lernen zwischen ihr und anderen radikalen Bewegungen zu intensivieren.

 

Ashish Kothari, Ariel Salleh, Arturo Escobar, Federico Demaria, Alberto Acosta (Hg.): Pluriversum. Ein Lexikon des Guten Lebens für alle. Neu-Ulm, AG SPAK Bücher 2023. Ca. 450 S. ISBN 978-3-945959-67-1

 

  Fußnoten

Kalpavriksh: https://kalpavriksh.org; Vikalp Sangam, Confluence of ­Alternatives: www.vikalpsangam.org; Global Tapestry of Alternatives: ­https://globaltapestryofalternatives.org

2  Alberto Acosta, Wirtschaftswissenschaftler und auch einer der Herausgeber des Buches

3  Beide gehören ebenfalls zu den Herausgeber:innen des Buches.

4  S. auch den Artikel »Frieden mit der Erde und untereinander schließen« von A. Kothari, Kurdistan Report 225

5  Vikalp Sangam wurde 2014 von vier indischen NGOs (Kalpavriksh, ­Bhoomi, Shikshantar und der Deccan Development Society) gegründet, die aktiv nach Lösungen für die Umwelt-, Entwicklungs- und Bildungsherausforderungen des Landes suchen.

8  Global Tapestry of Alternatives – https://globaltapestryofalternatives.org


 Kurdistan Report 229 | September / Oktober 2023