Interview mit dem Philosophieprofessor Motonao Mori, Universität Nagasaki
»Das wichtigste politische Zentrum weltweit ist Rojava«
Anja Flach, Sol Rodriguez – Hamburg
Anfang Juli war der japanische Philosophieprofessor Motonao Mori der Universität Nagasaki in Hamburg zu Besuch im Tatort Kurdistan Café, um gemeinsam mit dem Semiotikprofessor Abdurrahman Gülbeyaz über den Demokratischen Konföderalismus und Rojava zu referieren. In einem Interview sprach Mori über die Ideen David Graebers, Murray Bookchins und Abdullah Öcalans sowie die Lage der Linken in Japan.
Kannst du dich unseren Leser:innen vorstellen?
Mein Name ist Motonao Mori. Die Schriftzeichen des Namens können auch als Gensai gelesen werden. Ich arbeite an der Universität Nagasaki als Philosophieprofessor an der Fakultät für globale Geistes- und Sozialwissenschaften. Mein Spezialgebiet ist der Anarchismus.
Wie hast du von Rojava erfahren?
Es gab drei Begebenheiten, die mich zum Themengebiet Rojava gebracht haben. Die erste ist meine direkte Verbindung zu David Graeber, ich hatte ihn auf einer Konferenz in London kennengelernt. Als ich mit ihm kommunizierte, sagte er mir, dass im Moment das wichtigste politische Zentrum weltweit Rojava sei. Die zweite Begebenheit ist, dass ich eine Stelle an der Universität Nagasaki bekam und dort zu arbeiten begann. An der Universität habe ich in Erfahrung gebracht, dass dort eine Person mit Namen Abdurrahman Gülbeyaz arbeitet und dieser kurdischer Herkunft sei. Mit ihm trat ich dann in Kontakt, und er erzählte mir sehr viel. Das war für mich die Quelle der Motivation. Der dritte Umstand ist die Realität des Ausländergesetzes in Japan und wie Japan die Asylbewerber:innen, speziell die kurdischen Asylsuchenden, behandelt und wie schrecklich dies ist. In dem Zusammenhang habe ich viel Wut empfunden.
Ich habe mir diese Fakten im Zusammenhang mit dem Anarchismus durch den Kopf gehen lassen. Auch dadurch kam ich wieder auf das Phänomen Rojava. Es interessierte mich, wie ein solches autonomes Gebiet entsteht und welche Dynamiken dahinterstecken. Darüber hinaus gab es noch einen letzten Faktor, nämlich die Situation der Frauen in Japan. Japan ist auch in dieser Hinsicht sehr zurückgeblieben. Das waren die Motive, die mich zur Rojava-Forschung gebracht haben.
Wie viele Kurd:innen leben in Japan und wie ist ihre Situation?
Offiziellen Angaben zufolge leben etwa zweitausend Kurd:innen in Japan. Vermutlich sind es aber mindestens dreitausend. Diese leben vor allem in Kawaguchi bei Tokio. Es leben natürlich auch woanders in Japan Kurd:innen, allerdings werden diese nicht zu den Asylsuchenden gezählt, da sie auf anderen Wegen nach Japan gekommen sind. Die Kurd:innen in Osaka gelten zum Beispiel als Türk:innen. Es gibt also mindestens dreitausend Kurd:innen in Japan, aber wahrscheinlich noch viel mehr.
Es gab einen kleinen Bericht über einen Vorfall von vor einigen Tagen in Kawaguchi. Dort soll es einen Zusammenstoß zwischen Kurd:innen und Türk:innen gegeben haben. Darüber hat die Presse berichtet, unter anderem auch verschiedene Fernsehkanäle. Es wurde so dargestellt, dass fürchterliche, wilde und unkontrollierbare Kurd:innen Türk:innen angegriffen hätten. Dass ein solches Zerrbild über die Kurd:innen in Japan besteht, hat damit zu tun, dass in Japan niemand die Kurd:innen und deren Kultur kennt. Auch die kurdische Problematik ist unbekannt. Dass die Kurd:innen in Japan ein solch negatives Image haben, sehe ich als sehr problematisch. Die Hauptnachricht von Japan an kurdische Asylsuchende ist »Geht zurück, verschwindet«. In der Hinsicht hat es verschiedene Aktivitäten und Veranstaltungen in den letzten Monaten gegeben, um das Ausländergesetz zu modifizieren. Das Ausländergesetz wurde nun dahingehend modifiziert, dass im Gesetzestext ein Satz hinzugefügt wurde: Unrechtmäßige Diskriminierung ist schlecht. Das impliziert allerdings, dass es rechtmäßige Diskriminierung geben kann. Dieses Gesetz ist in Japan momentan ein aktuelles Thema. Es wurde ungefähr drei Mal im Laufe dieses Jahres modifiziert und auch die letzte, angeblich »beste« Fassung ist schlimm genug.
Dann gibt es also keine Solidaritätsbewegung in Japan mit den Kurd:innen?
Es gibt hauptsächlich zwei Gruppen. Die eine Gruppe heißt direkt übersetzt »Mit den Kurd:innen zusammen«. Das ist eine Gruppe von Menschen, die versuchen, den Kurd:innen auf direktem Weg bei alltäglichen Problemen zu helfen, wie zum Beispiel bei den Behördengängen. Es gibt auch einen japanisch-kurdischen Freundschaftsverein, aber das Problem ist, dass sie eher rechts sind. Dieser Verein hat zwei Zentren: Eines in Başûr [Südkurdistan/Irak] und eines in Tokio.
Ist das Wissen über Rojava oder über die Revolution in Kurdistan weit verbreitet in Japan oder ist das eher ein Spezialwissen, was man an der Uni lernt?
Nicht mal an der Uni kennt man Rojava. Es ist also relativ unbekannt.
Gibt es irgendeine Diskussion über das Paradigma von Abdullah Öcalan in Japan? Vielleicht auch an der Uni?
De Facto nein. Es gibt mich und Tanaka Hikaru. Hikaru Tanaka ist Professor an der Meiji-Universität in Tokio. Er ist Historiker und forscht zur Geschichte des Anarchismus. Wir schreiben manchmal Artikel für Zeitungen, Zeitschriften und auch für Tageszeitungen.
Das Buch »Revolution in Rojava1« wurde ins Japanische übersetzt, weißt du, wer das gemacht hat?
Das ist ein Rätsel. Die Übersetzung ist nicht so gut. Ich habe mal recherchiert, was die Person so macht, die das Buch übersetzt hat. Aber ich habe festgestellt, dass er mit Rojava und ähnlichen Zusammenhängen eigentlich nichts zu tun hat. Ich gehe davon aus, dass der Übersetzer darum gebeten wurde. Ich möchte dieses Buch gerne erneut übersetzen.
Wie ist die Lage der Linken in Japan?
Katastrophal. Es gibt dieses sehr interessante Phänomen in Japan, dass die Kommunistische Partei Japans2 immer noch knapp über 10 Sitze im Parlament hat. Bis 2010 oder 2015 war es Tradition, dass diese Partei nicht an den Tennō3-zentrierten Ritualen teilgenommen hat. Inzwischen machen sie das auch. Also wie gesagt, es gibt nicht wirklich eine Linke, aber wenn man sich die Situation im Detail anschaut, dann gibt es immer noch einen dünnen Fluss, der aus den 1968ern übrig geblieben ist. Nach den 68ern gab es einige sektenhafte Gruppierungen und es gab auch linke und neue linke Bewegungen. Das waren aber auch damals kleine Gruppierungen, die sehr marginalisiert waren. An der Universität habe ich in meinem Umfeld diese Menschen kennengelernt und von ihnen wurde ich beeinflusst.
Gibt es eine Anti-Atomkraft-Bewegung in Japan?
Diese Bewegung hat natürlich mit den zwei Bomben in Nagasaki und Hiroshima angefangen. Direkt danach gab es eine Anti-Atom-Bewegung, welche in der Anfangsphase sehr stark und irgendwo auch einflussreich war. Aber diese Bewegung ist jetzt alt geworden. Nach 1945 gab es eine relativ starke Bewegung und danach wurden sie immer unbedeutender; nach und nach ist diese Bewegung einfach verschwunden. Nach Tschernobyl kam es wieder zu einer neuen Anti-Atom-Welle, die wieder relativ stark war. Akademiker:innen und militante Anti-Atom-Menschen haben sich zusammengefunden, und die Bewegung hielt einige Jahre an. Nach den 90ern wurde sie schwächer. Dann kam die Katastrophe von Fukushima. Nach Fukushima gab es tatsächlich so etwas, was man Bewegung hätte nennen können, aber es gab kein aktives Zentrum dieser Bewegung. Sie haben nur den Wunsch geäußert, dass das System oder der Staat etwas machen solle. Das war wahrscheinlich auch der Fehler. In der Anfangsphase gab es Großdemonstrationen, bei denen teilweise Hunderttausende auf die Straße gingen. Diese Bewegung hielt allerdings auch nur für einen kurzen Moment an. Vor ein paar Tagen wurde beschlossen, dass das verstrahlte Wasser in den Ozean abgelassen wird und niemand hat protestiert.
Für uns hier in Deutschland ist das Paradigma von Abdullah Öcalan eine große Hoffnung und so haben wir dich auch verstanden. Hast du Ideen, wie man das Paradigma von Öcalan in Japan bekannt machen kann?
Ich meine, dass es möglich ist, dass dieses Paradigma in Japan bekannt und verständlich gemacht wird und Menschen für diese Idee gewonnen werden. Für mich als Anarchist ist die Idee des Konföderalismus als soziales Konstrukt ideal. Ich war auch schon, bevor ich Öcalans Paradigma kennengelernt habe, vertraut mit dieser Idee. Besonders durch Murray Bookchin und seine soziale Ökologie. Vor allem weil Japan ein Katastrophenland ist und die Tendenz, dass natürliche Katastrophen wie Erdbeben oder Tsunamis auftreten, sehr groß ist. Es gab auch in Japan, auf die Theorie von Bookchin Bezug nehmend, sozialphilosophische Ideen in dieser Richtung.
Es stellte sich die Frage, wie man eine Gesellschaft nach einer großflächigen natürlichen Katastrophe erneut aufbauen kann. Eine Gesellschaft, in der Menschen mit der Natur zusammen sinnvoll interagierend leben können. Auch aus dieser Perspektive heraus, dass die Idee bereits da war und sich in Japan auch schon Gedanken darüber gemacht wurden, käme für mich das System von Öcalan für Japan in Frage. Ich sehe also die Möglichkeit, dass das Paradigma auch in Japan verbreitet werden kann. Darüber hinaus kam ich auch auf die Jineolojî, die für Japan von großer Bedeutung sein könnte. Auf der einen Seite im Zusammenhang mit der Sozialökologie und auf der anderen Seite auch im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung der Frau in Japan. Die momentane Situation der Frau in Japan ist schrecklich. Aber es ist nicht immer so gewesen. In der Edo-Periode4 gab es eine Gesellschaft in der Frauen sogar eine zentrale Rolle gespielt hatten, dies wurde u.a. von Takamure Itsue5 und Yoshihiko Amino6 erforscht. Es gab eine matrilineare Kultur. Es war nicht so, dass die Frauen einfach so absolut unterdrückt worden sind. Nachdem die europäische Kultur etwa 1865 nach Japan kam, etablierte sich auch das Patriarchat in Japan. Das war ein europäisches Problem, das sich so sehr manifestiert hat, dass die Rolle der Frau in Japan nun so niedrig gestellt ist.
Kannst du kurz die Situation der Frau in Japan umreißen?
Ein kurzes Beispiel: Es ist in Japan so, dass folgender Prozess fast ritualisiert ist: Man studiert vier Jahre, sodass die meisten mit 22 oder 23 Jahren ihr Studium abschließen, und dann beginnt man mit der Arbeit. An diesem Punkt bekommen die Frauen erst mal keine gute Arbeit. Weil in Japan immer noch davon ausgegangen wird, dass die Frauen sowieso heiraten und erst mal Kinder bekommen. Daher bekommen sie das, was übrig bleibt. Man kann sich zum Beispiel die Universitäten angucken und schauen, wie viele Professorinnen es gibt und an welcher Stelle Frauen arbeiten. Wenn man das Umfeld der Großstadt verlässt und aufs Land geht, sieht man in Japan in der Regel Frauen nur dabei, wie sie zuhause Reisbällchen zubereiten, während die Männer arbeiten gehen und Bier trinken.
Denkst du, dass Anarchismus in Japan weiter verbreitet werden kann? Ist das ein realistisches Bild?
Mein Buch »Einführung in den Anarchismus«7 von 2017 verkauft sich sehr gut. Es könnte ein Zeichen dafür sein, dass Anarchismus doch in der japanischen Gesellschaft ankommen könnte.
Der Unterschied zwischen Graeber, Bookchin und Öcalan ist, dass Öcalan die Geschlechterfrage an erster Stelle stellt. Er sagt ja, dass es ohne die Befreiung der Frau keine Befreiung der Gesellschaft geben kann.
Wie wird die Geschlechterfrage in deinem Buch behandelt?
In dem neuen Buch geht es um Gewalt im Allgemeinen, im theoretischen und praktischen Sinne. In dem Buch über Anarchismus gibt es das noch nicht, weil ich das noch nicht kannte. Im neuen Buch kommt die YPJ und Jineolojî in einem signifikanten Sinne ins Spiel
1 Anja Flach / Ercan Ayboğa / Michael Knapp, Revolution in Rojava Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Flach_ua_Rojava_4Aufl_niedrig.pdf
2 KPJ - Nihon Kyōsantō - Eines der Hauptziele der KPJ ist das Ende der Militärallianz mit den USA und die Schließung aller US-Militärbasen in Japan. Sie will Japan in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Selbstbestimmung und nationalen Souveränität zu einem bündnisfreien und neutralen Land machen
3 Tennō, ist ein japanischer Herrscher- und Adelstitel
4 Als Edo-Zeit (Edo jidai), genannt auch Jedo-Periode, wird der Abschnitt der japanischen Geschichte von 1603 bis 1868 bezeichnet. Sie ist benannt nach dem damaligen Namen der Hauptstadt Edo (heute Tokio). Sie beinhaltet die längste Friedenszeit der japanischen Geschichte mit einer Dauer von mehr als 250 Jahren.
5 Takamure Itsue (1894–1964) war eine japanische Schriftstellerin, Volkskundlerin und Feministin. Sie spielte zunächst eine aktive Rolle in Frauenbefreiungsbewegung, widmete sich dann in der zweiten Hälfte ihres Lebens dem Studium der japanischen Ehe- und Frauengeschichte. Takamure war Anarchistin und schloss sich der anarchistisch-feministischen Gruppe Proletarische Künstlerinnenliga (Musan Fujin Geijitsu Renmei) an. 1930 gründete sie die anarchistisch-feministische Zeitschrift Fujin Sensen (The Woman's Front).
6 Yoshihiko Amino (1928–2004) war ein japanisch marxistischer Historiker, der vor allem für seine Untersuchung der mittelalterlichen japanischen Geschichte bekannt ist.