Auszug aus dem Buch »Ich gehöre zu den Bergen«
Der Weg
Halil Uysal Dağ
Anfang 2023 erschien unter dem Titel »Ich gehöre zu den Bergen« eine Sammlung ausgewählter ins Deutsche übertragener Texte von Halil Uysal, Mitbegründer des kurdischen Fernsehsenders MED TV und Filmschaffender, der sich 1995 der Guerilla anschloss und 2008 in einem Hinterhalt der türkischen Armee ums Leben kam. »Der Weg« ist diesem Band entnommen.
Der Weg ist der Ort, an dem wir beginnen, uns selbst und unser Gegenüber kennenzulernen. Hierfür müssen wir nur einmal den Beschluss gefasst haben, uns auf den Weg zu machen und den ersten Schritt zu gehen. Wir müssen nur einmal den Mut aufgebracht haben, unseren Blick auf den Weg zu richten. Wir müssen uns nur einmal erträumt haben, den Ort, dessen Gefangener wir sind, zu verlassen. Einmal nur muss die Euphorie, etwas Neues zu finden, etwas zu entdecken, unser Inneres erfüllen. Einmal nur müssen wir den Beschluss fassen, uns auf die Suche nach uns selbst zu begeben, und uns auf den Weg machen ...
Dann wird sich der Weg mit all seiner Güte vor uns ausbreiten. Der Weg ist stets für jeden offen. Er stelle vielleicht gar den einzigen Ort auf Erden da, der uns alle mit offenen Armen erwartet und den Menschen zu sich selbst führt.
Gibt es etwas Schöneres, als sich selbst zu entdecken? Ist der Mensch selbst nicht der schönste Edelstein auf Erden? Und ist die schönste Reise unseres Lebens nicht die Reise zu uns selbst?
Bisher haben wir uns doch eigentlich gar nicht wirklich vorwärts bewegt. Die Wege, auf die wir uns in den Städten aus Beton begeben haben und die stets zum Beginn zurückführen, sind nicht unsere. Nicht einer dieser Wege hat uns zu uns selbst geführt. Wir haben diese Städte, die nicht uns gehören, immer aus der Ferne betrachtet. Wir waren stets Fremde. Stehen wir zu Abend vor derselben Türe, aus der wir morgens getreten sind, heißt dies, dass wir nicht vorangekommen sind.
Das erste, was ein Guerilla, der neu in den Bergen ist, kennenlernt, sind die Schmerzen des Laufens. Jeder einzelne Schritt treibt unerträgliche Schmerzen in unseren ganzen Körper. Wir wundern uns dann darüber, dass unsere Füße so kraftlos sind. Dann erst merken wir, dass uns die Straßen aus Beton getäuscht haben.
In unseren ersten Tagen in den Bergen lernen unsere Füße, unsere Schultern und unsere Arme einen nicht aushaltbaren Schmerz kennen.
Bei jedem Schritt krümmt sich unser ganzer Körper vor Schmerz. Wir glauben dann, dass wir diesen Schmerz nie wieder loswerden. Wir richten den Blick auf die vor uns liegenden Bergketten und verlieren fast die Hoffnung.
Dabei verfliegt auf diesen Wegen alle Last, die nicht zu uns gehört.
Schritt für Schritt fallen unsere Masken ab und bleiben auf den Pfaden, über die wir gehen, zurück. Stück für Stück lassen wir auf den Abhängen der Berge das Leben, das uns seit Tausenden von Jahren aufgezwungen wird, zurück.
Während wir auf den Wegen der Berge marschieren können, spüren wir, wie uns unser Körper Glied für Glied verlässt. Wir fühlen, wie die Schale, die Körper und Seele umfasst, zerbröckelt. Dieser Schmerz ist nicht auszuhalten. Wir fühlen, wie wir uns entfernen. Wir merken, dass wir etwas zurücklassen. Das ist unsere Auflösung.
Wir gehen und gehen und fühlen, dass wir uns etwas anderem nähern.
Wir fühlen, wie sich Körper und Seele verändern. Das ist unsere Entstehung.
Während sich etwas von unserem Körper und von unserem Geist löst, fügt sich etwas Neues hinzu. Unsere Füße stoßen auf Fels und Stein und bluten. Unsere Kleidung bleibt an Sträuchern hängen und zerreißt. Hände und Gesicht verletzen sich an dornigem Kraut. Müdigkeit überfällt unseren gesamten Körper. In diesen Momenten, in denen wir glauben, dass alles zu Ende ist, geben uns unsere Genoss*innen Halt.
Dann hält jemand inmitten der Dunkelheit unsere Hand und zieht uns langsam hinter sich her. Ein anderer teilt sein Brot, gibt einen Schluck Wasser. Unser Weg führt uns an einen Fluss. Alle springen auf die andere Seite. Aber wir schaffen es nicht. Wir trauen uns nicht, vertrauen nicht auf unsere Füße.
Dann strecken die Freunde auf der anderen Seite des Flusses ihre Arme aus und rufen uns zu. Wir halten kurz inne, sammeln unsere ganze Kraft, atmen tief durch und springen dann. Schon sind wir am anderen Ufer.
Wir haben uns getraut! Wer hätte das geglaubt!
Während wir so weiterlaufen, fühlen wir in unseren Füßen eine Veränderung. Sie beginnen in dunklen Nächten ihren Weg von selbst zu finden.
Wir können es nicht glauben. Sind das unsere Füße? Von nun an sehen unsere Augen alles, hören unsere Ohren jedes Geräusch. Nach unserem Körper beginnt sich auch unser Herz zu verändern. Auch unsere Sehnsüchte, unsere Träume verändern sich. Wir sehen jetzt eigene Träume.
Wir können Körper und Seele wirklich fühlen.
Jetzt sind wir wir selbst! Unsere Seele hat ihr Gehäuse verlassen. Unser Körper hat sich von seinen Ketten gelöst. Unsere Träume gehören uns. Und der Weg, über den wir laufen, ist unserer. Er wird uns zu neuen Horizonten führen.
Während wir voller Aufregung über die Wege der Berge laufen, erblicken wir Horizonte, die wir auf den Straßen zwischen Gebäuden aus Beton niemals gesehen haben, niemals hätten sehen können. Das ist der Augenblick, in dem wir begreifen, dass es sich beim Horizont nicht um eine Linie in der Ferne handelt.
Je höher wir steigen, umso mehr erkennen wir, dass der Horizont nie derselbe ist und stets darauf wartet, entdeckt zu werden. Jeder Berg, den wir besteigen, bietet uns einen anderen Horizont. In den Bergen ist jeder Sonnenuntergang einzigartig. Kein Tag ähnelt dem anderen und endet wie ein anderer. Hier wiederholt sich nichts. Denn wir haben hier entdeckt, dass sich hinter jeder bestiegenen Höhe ein anderer Horizont befindet.
Für uns Kurd*innen ist das Laufen, das Bewegen etwas Neues, das wir erst erlernen. Wir erlernen, Distanzen aufzubauen und Schritte nach vorn zu machen. Zum ersten Mal versuchen wir neue Wege zu eröffnen und uns auf unserem eigenen Weg voran zu bewegen. Nachdem wir Tausende von Jahren durch die Straßen der Zivilisation gelaufen sind, verlassen wir zum ersten Mal ihre Labyrinthe. Zum ersten Mal retten wir uns aus unseren Labyrinthen und blicken zu unserem eigenen Horizont.
Diesen unseren eigenen Weg, unsere Haltung und unseren Blick auf das Leben geben wir nach all dem, was wir erlebt haben, nicht mehr her …
Kurdistan Report 229 | September / Oktober 2023