Ein kleiner Rückblick in die Geschichte

Kurdische Kulturfestivals 
in Europa

Amele Can, Künstler

 Mit rund 1,5 Millionen Einwohner:innen stellen die Kurdinnen und Kurden heute eine der größten Einwanderergruppen in Europa dar. Obwohl sie über mehrere europäischen Länder verstreut sind, haben sie ihre nationale Identität unter allen Umständen bewahrt und einen Organisations- und Solidaritätsgeist entwickelt, und doch träumen sie immer von dem Tag, an dem sie in ihr Heimatland zurückkehren werden.
Die Hauptgründe für die Auswanderung der Kurd:innen nach Europa waren u.a. die Niederschlagung des kurdischen Aufstands im Irak im Jahr 1975, der totale Vernichtungskrieg gegen Kurd:innen durch das Khomeini-Regime im Iran im Jahr 1979, der Ausbruch des iranisch-irakischen Krieges und folglich die Flucht von Tausenden von Menschen und letztlich die Machtübernahme durch die faschistische Militärjunta am 12. September 1980 in der Türkei.


Erstes Festival in Bochum

Im Jahr 1965 waren es in Europa nur eine handvoll Menschen aus Kurdistan. Die anfangs von nicht mal 500 Menschen besuchten Feierlichkeiten waren später dermaßen voll, dass sie nicht mehr in kleine Säle passten. Diejenigen, die vor dem Krieg aus dem Land flohen, brachten traditionelle Wärme und Gefühle aus ihrer Heimat mit. Sowohl organisatorisch als auch künstlerisch waren wir überfordert, den Anforderungen dieser Strömung gerecht zu werden. Es wurde ein starkes Netzwerk organisiert, um das erste Festival 1992 im Bochumer Stadion zu veranstalten, an dem Zigtausende von Menschen teilnehmen sollten; alle Kurd:innen aus Europa arbeiteten in einer festlichen Atmosphäre, mit Begeisterung und Moral. An der kulturellen Front wurden monatelang Hunderte von Künstler:innen, Sportveranstaltungen, Musikgruppen und Folkloreaufführungen organisiert und viele Vorbereitungen getroffen. Am Tag des Festes erlebten wir die Begeisterung von Zigtausenden von Menschen in ihren Nationaltrachten, die sich in einer festlichen Atmosphäre von jung bis alt umarmten und tanzten. Tausende füllten das Stadion. Sportliche junge Menschen trugen die Namensschilder von Hunderten von Gefallenen. Das Gefallenenlied, das von der später Gefallenen Mizgin gesungen wurde und die Parole »Şehîd namirin – Die Gefallenen sind unsterblich« hallten im Stadion wider. Es waren sogar Tränen der Freude zu sehen.
Die Aufregung wuchs mit dem Beginn des Programms. Die unterstützenden Botschaften der Freunde des kurdischen Volkes, die schillernde Aufführung von Koma Berxwedan im Orchesterstil auf der Bühne, die schönen sportlichen Bewegungen der Jugendlichen und die Dutzenden von Folkloristen in farbenfrohen Trachten, die Tänze aus vielen Regionen Kurdistans zeigten, schufen eine kurdische Atmosphäre. Die Rede der Parteiführung auf der Großbildleinwand, die aufmerksamen Zuhörer und die ständigen »Bijî Serok Apo«-Slogans vermittelten eine Atmosphäre, als hätten wir den Sieg schon errungen. Ein solch grandioses Festival erschreckte den deutschen Staat, der das Festival im folgenden Jahr 1993 verbat, so dass wir es in den Niederlanden abhalten mussten. Die Kurd:innen, die mit Bussen nach Holland reisen wollten, wurden von der deutschen Polizei angehalten und daran gehindert, an dem Festival teilzunehmen. Hunderte von Kurd:innen stiegen aus den Bussen aus und lieferten sich heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Polizei ging mit Tränengas und Schlagstöcken gegen die Menschen aus Kurdistan vor, die sich wehrten und darauf bestanden, zum Festival zu gehen, wobei viele Menschen verletzt wurden. Trotz all dieser Hindernisse konnten sie Zehntausende von Menschen nicht davon abhalten, an dem Festival teilzunehmen.


Das Halim-Dener-Festival
Aus irgendeinem Grund verlief keines unserer Festivals ohne Zwischenfälle. 1994 wuchsen die Leidenschaft und der Ärger noch mehr. Hunderte oder sogar Tausende von Häusern und Wohnungen der Kurd:innen wurden durchsucht, und es wurden sehr hohe Geldstrafen verhängt, um die Menschen einzuschüchtern, was aber nicht funktionierte. 1994 wurde Halim Dener, ein Jugendlicher aus Kurdistan, der am Steintor in Hannover Plakate gegen das PKK-Verbot klebte, durch eine von hinten abgefeuerter Kugel deutscher Polizisten getötet, weswegen das Festival in diesem Jahr dem nur 16 Jahre alt gewordenen Halim Dener gewidmet wurde. Hunderttausend Menschen nahmen an dem Festival teil, in einem Jahr des Hasses und der Wut. Vor den Vereinen der Kurd:innen, die sich auf das Fest vorbereiteten, richtete die deutsche Polizei ihr Revier ein. Es wurden Fotos von Menschen gemacht, die die Vereine besuchten, mit dem Ziel die Massen einzuschüchtern. Der deutsche Staat rief die Busunternehmen an und sagte: »Vermieten Sie keine Busse an Kurden, sonst werden wir Ihr Unternehmen schließen«.    All dies haben wir von den Firmeninhabern persönlich erfahren. Viele Busunternehmen erklärten diese Aufforderung für illegal und vermieteten trotz Drohungen Busse an uns. Menschen aus Kurdistan, die sich all dieser Hindernisse bewusst waren, wussten auch, wie sie auf diese Hindernisse reagieren würden. Wir würden nicht gegen die Polizei intervenieren, aber auch nicht von unserem demokratischen Protest ablassen. Und genau das ist am Ende passiert. Die Busse wurden angehalten und die Menschen gingen raus und blockierte die Straßen. An einigen Orten trat die Polizei zurück und erlaubte den Bussen zum Festivalgelände zu fahren, aber an vielen anderen Orten nicht. Wir erfuhren davon, dass Hunderte von Menschen aus Kurdistan am Besuch des Festivals gehindert und Busse zurückgewiesen wurden. Neben der Parteiführung wurde ein riesiges Plakat von Halim Dener aufgehängt, während die Parolen »Şehîd namirin« gerufen wurde. Trotz aller Hindernisse waren die Leidenschaft, der Hass und die Wut auf höchstem Niveau. Das Programm wurde mit aller Begeisterung fortgesetzt.


Festivalverbote und andere Schikanen
Im Jahr 1995, als alle Vorbereitungen fast abgeschlossen waren, wurde unser Festival einen Tag vor dem Festival vom deutschen Staat ohne jegliche Begründung abgesagt. Zusätzlich zu all den Ausgaben und Vorbereitungen, die getroffen wurden, verursachte diese Entscheidung einen großen finanziellen Schaden. In den folgenden Jahren hörte dieser Druck nicht auf. Diesmal durften wir ein Festival veranstalten, aber Eintrittskarten, Stände für Essen, Bücher, CDs usw. waren nicht erlaubt. Selbst kostenloses Wasser durfte nicht an die Öffentlichkeit verteilt werden. Selbst lebenswichtige Dinge wie Essen und Wasser waren den Künstler:innen auf der Bühne nicht gestattet. Sie gingen sogar so weit, dass sie die von den Menschen mitgebrachten Speisen und Getränke beschlagnahmten. Auf diese Weise hofften sie, dass die Menschen mitten im Sommer, in der brennenden Hitze, es nicht aushalten und sich zerstreuen würden. Aber im Gegenteil, es wurde zu einem Massenprotest, und die schmutzigen Beziehungen des deutschen Staates mit dem türkischen Staat wurden auf diesem Festival bloßgestellt.


Eins, zwei, drei, viele Festivals ...

In Anbetracht all dieser Zwänge und Hindernisse wurden alternative Festivals mit mehr Enthusiasmus und reichhaltigen Programmen organisiert, wie das Mazlum-Doğan-Jugendfestival, das Zilan-Frauenfestival, Dersim-Festival, Şengal-Festival, Kinderfeste, ab 2013 das Sakine-Cansız-Frauenfestival in der Schweiz, das Fidan-Doğan-Frauenfestival in der französischen Hauptstadt Paris. Auf diese Weise wurden die Festivals nicht nur in einem Teil Europas, sondern in ganz Europa organisiert, wodurch das Verbot unserer Festivals verhindert wurde. Die Festivals in den gemieteten Fußballstadien von Dortmund, Gelsenkirchen, Köln und Bochum, sowie an den großen Veranstaltungsplätzen in Düsseldorf, Köln, Frankfurt und Mannheim sorgten für eine größere Teilnahme. Auch die starken Programme machten die Feste schöner und bunter. Das Festival im Jahre 2015 stand ganz im Zeichen des Widerstands von Şengal und Kobanê und der starken Beteiligung von Internationalist:innen am kurdischen Freiheitskampf. Inzwischen gibt es fast hunderte von Festivals in ganz Europa, die bis heute fortgesetzt werden. Europäische Geheimdienste verbreiteten über Fernsehen, Zeitungen usw., dass die Menschen aus Kurdistan die am besten organisierte Volksgruppe in Europa sind, wenn sie rastlos und energiegeladen außer diesen Festivals noch andere Veranstaltungen wie Newroz, Gedenkveranstaltung für die Mai-Gefallenen, Folkloretanzveranstaltungen, Hungerstreiks und lange Märsche organisieren. Nahezu 250 Einrichtungen und Organisationen beteiligten sich an mehr als hundert Festivals und Tausende von Künstler:innen präsentierten ihr reichhaltiges Kulturprogramm. Hunderte von Politiker:innen nahmen als Redner:innen an diesen Festivals teil. Dutzende von internationalistischen Gruppen zeigten ihre Solidarität. Die Bemühungen der Tausenden von Verteidiger:innen aus Kurdistan sind von unschätzbarer Signifikanz, die sich stark für das Festival einsetzten, sowohl bei der Organisation als auch bei der Sicherheit, bei den Ständen für Essen, bei der Verteilung der Eintrittskarten und bei der Organisierung der Hin- und Rückfahrt der vielen Menschen.
Das bevorstehende Festival 2023 wird unter Beteiligung von Kurd:innen und Freund:innen des kurdischen Volkes ein großartiges Fest werden, ein Fest gegen den Vertrag von Lausanne, der vor genau hundert Jahren unterzeichnet wurde und der Kurdistan in vier Teile aufteilte, dem zu widersprechen ist. Das diesjährige Fest wird ein Fest, das die gute Nachricht verbreitet, dass wir kurz vor der Freiheit von Abdullah Öcalan und einem Status für Kurdistan stehen.


 Kurdistan Report 229 | September / Oktober 2023