Syrien und die Türkei – Welche Auswirkungen hat dieser Annäherungsprozess regional und international?
In den offiziellen Gesprächen wird das syrische Volk außen vor gelassen
Kurdistan Report
Amjad Othman, Mitglied des Demokratischen Syrienrates, Adalat Omar, Ko-Vorsitzende der Frauenkommission in Nord- und Ostsyrien und Ahmed Al-Labban, Mitglied des Büros für Beziehungen des Syrischen Demokratischen Rates in Aleppo haben sich in Interviews zur Entwicklung der Beziehungen zwischen Syrien und der Türkei geäußert. Hier die Zusammenfassung der in Arabisch geführten Gespräche.
Wir danken dem RIC (Kurdistan Information Center in Qamişlo) für die Unterstützung bei den Gesprächen und der Übersetzung aus dem Arabischen.
Seit 10 Jahren spielt die Türkei eine wichtige Rolle als Kriegspartei in Syrien. Sie hat große Teile Nordsyriens besetzt und den sogenannten Islamischen Staat militärisch und politisch unterstützt. Das Ziel der Unterstützung der türkischen Regierung für die Opposition gleich zu Beginn des Bürgerkriegs war immer der Sturz des Assad-Regimes.
Jetzt beobachten wir einen beginnenden Annäherungsprozess auf Initiative Russlands. Dieser Prozess wird nicht einfach sein, denn es spielen sehr viele Faktoren und Fragen eine Rolle. Welche Ziele verfolgen die Türkei, Syrien und Russland? Welche Folgen wird diese politische Entwicklung für die Autonome Verwaltung in Nord- und Ostsyrien (AANES) haben?
Vor allem Russland unterstützt diesen Annäherungsprozess nachdrücklich und fördert Kontakte auf bilateraler Ebene, mit dem Ziel der Schaffung einer Basis für direkte Gespräche zwischen den Präsidenten Assad und Erdoğan. Die Haltung der USA ist zurückhaltend. In einer der seltenen Erklärungen zum Thema äußerte sich der stellvertretende Sprecher des US Außenministeriums, Vedant Patel wie folgt: »Die Vereinigten Staaten haben nicht die Absicht, die diplomatischen Beziehungen zum Assad-Regime zu stärken, und wir unterstützen andere Länder nicht bei der Normalisierung ihrer Beziehungen.«
Der Wandel in der Haltung Ankaras gegenüber Damaskus begann, als die Türkei erkannte, dass ihre Projekte in Syrien kaum noch zu verwirklichen waren
Die Bereitschaft der Türkei sich auf Gespräche mit dem Assad-Regime einzulassen hat laut Amjad Othmann mehrere Gründe. Zum einen konnte die Türkei nicht alle ihre Pläne – z.B. die Annexion Nord-Ostsyriens – verwirklichen; zum anderen sucht Erdoğan wegen der bevorstehenden Wahlen im Mai 2023 eine Lösung für Probleme u.a. für die Rückführung der großen Zahl syrischer Flüchtlinge. Das Hauptziel dieser Annäherung sieht Othman allerdings in der Zerstörung des Projekts ›Autonomieverwaltung‹. Die Menschen in Nord- und Ostsyrien sollen belagert und angegriffen werden. Eine Zerschlagung der AANES (Autonome Verwaltung in Nord- und Ostsyrien) könnte auch im Interesse Assads liegen. Das Land könnte neu aufgeteilt werden, was zu einer Stärkung Russlands und der Schwächung Amerikas führen könnte.
Der Wandel in der Haltung Ankaras gegenüber Damaskus begann, als die Türkei erkannte, dass ihre Projekte in Syrien kaum noch zu verwirklichen waren. Die Besetzung bzw. Annexion Nord-Ostsyriens und der Sturz Assads scheinen nicht mehr erreichbar zu sein. Erdoğan hatte es sich leichter vorgestellt. Außerdem hat sich die Türkei dafür entschieden, ihre Beziehungen zu Russland zu stärken. Auch das ist ein Grund, mit dem syrischen Regime einen Kompromiss zu suchen und damit Russlands Interesse entgegenzukommen.
Auch die innenpolitischen Probleme in der Türkei bestärken die Regierung Erdoğan in ihrem Bestreben, einen außenpolitischen Erfolg zu erzielen. Die Politik der regierenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) hat katastrophale Auswirkungen. Die daraus folgende Verschlechterung der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lage hat dramatische Folgen für die Menschen in der Türkei.
Wir sind der Meinung, dass es besser wäre, wenn Russland auf die verschiedenen Stimmen des syrischen Volkes hören würde
Zur Rolle Russlands äußert sich Amjad Othman wie folgt: »Wir betrachten die Russische Föderation als einflussreiches und wichtiges Land unter den Ländern, die sich mit der syrischen Frage befassen. Die Rolle Russlands beschränkt sich bisher auf die politische und militärische Unterstützung der Regierung in Damaskus. Wir sind der Meinung, dass es wäre besser, wenn Russland auf die verschiedenen Stimmen des syrischen Volkes hören würde, insbesondere auf die Syrer:innen in Nord- und Ostsyrien, da sie eine kulturelle, politische und nationale Vielfalt darstellen. Dieses Gebiet könnte ein wichtiger Ausgangspunkt für die Formulierung einer radikalen Lösung für die Probleme der syrischen Gesellschaft sein. Doch bis jetzt hört Russland auf bestimmte Parteien und nicht auf alle Syrer:innen. Die Russische Föderation muss in der Syrien-Frage eine eigene und unabhängige Haltung einnehmen. Um eine politische Lösung in Syrien zu finden, sollte Russland mehr Abstand zu den Interessen der Türkei und den Interessen von Assad nehmen und stattdessen allen Beteiligten zuhören. Wir stellen fest, dass die russische Position durch türkische Narrative und Propaganda in Bezug auf das Projekt der Autonomen Verwaltung in Nord- und Ostsyrien beeinflusst wird.«
Russland scheint bei der Annäherung zwischen Damaskus und Ankara eine vermittelnde Rolle einzunehmen. An diesem Punkt muss sich Russland fragen lassen, welchen Nutzen diese Annäherung für das syrische Volk hat. Wird sie dem syrischen Volk nutzen? Wird sie der demokratischen Entwicklung in Syrien nutzen?
»Es gibt viele Fragen, die unserer Meinung nach dringend beantwortet werden müssen, denn wir sehen, dass ohne die Lösung der Probleme der Syrer:innen und ohne eine politische Lösung jede Annäherung nur einen bestimmten Staat oder ein bestimmtes Regime unterstützt. Dies stellt eine Gefahr für die Zukunft Syriens und des syrischen Volkes dar. Eine drängende Frage ist das Flüchtlingsproblem, aber die Rückführung von Flüchtlingen ohne die Schaffung eines stabilen gesellschaftlichen Umfelds und ohne eine wirkliche Lösung der Krise in Syrien wird die Situation für die Menschen nur noch verschlimmern. Diese Maßnahmen werden dazu führen, dass Tausende von Syrer:innen zwangsweise nach Syrien zurückkehren, ohne erkennbare Perspektive. Gibt es eine nationale soziale Kraft, die in der Lage ist, diese Syrer:innen in eine zerrissene und zerstörte Gesellschaft mit zerstörter Infrastruktur aufzunehmen? Wenn die Normalisierung sich auf diese Weise weiterentwickelt, wird sie die Risiken erhöhen und die Krise der syrischen Gesellschaft verschlimmern.«
Die Syrien-Frage ist ein wichtiges Thema für die Region und für die internationale Gemeinschaft, aber in den offiziellen Gesprächen wird das syrische Volk außen vor gelassen
Eine Lösung und eine Perspektive dafür sind für Ahmat Othmann erkennbar:
»Obwohl all diese oben aufgeführten Entwicklungen einen großen Einfluss auf die Komplexität der syrischen Krise haben und haben werden, glauben wir, dass den Syrer:innen noch viele Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um einen demokratischen Übergang zu erreichen und ein demokratisches Syrien aufzubauen. Ein Syrien, das die Bestrebungen aller Syrer:innen repräsentiert. Die Türkei spielt eine negative Rolle für die demokratischen Entwicklungen in der Region und versucht, diese zu absorbieren.
Die Syrien-Frage ist ein wichtiges Thema für die Region und für die internationale Gemeinschaft, aber in den offiziellen Gesprächen wird das syrische Volk außen vor gelassen. Das eigentliche und grundlegende Problem in dieser Angelegenheit ist, dass die Syrer:innen keinen gemeinsamen syrischen Diskurs und keine gemeinsame Erzählung haben. Die meisten Parteien verfolgen kein syrisch-nationales Projekt, und das ist gleichbedeutend mit der Tötung Syriens. Die Syrer:innen müssen ihr eigenes Projekt formulieren, und zwar auf einer soliden Grundlage. Die Schaffung einer syrisch-nationalen Identität ist eine Schlüsselfrage für die Lösung in Syrien. Sie ist der Schlüssel für die Stabilität des Landes und kann es vor der Spaltung bewahren. Die Syrer:innen sollten keine Zeit mehr verlieren, ihre Differenzen beiseite legen und ein Projekt entwickeln, das in erster Linie dem syrischen Volk dient. Deshalb unterstützen wir jeden nationalen Weg und jede demokratische Partei, die die syrischen Demokrat:innen vereint und ihre Kräfte bündelt, um die Grundlagen für ein Projekt, das alle Syrer:innen einschließt, zu formulieren. Nur so können wir uns den Herausforderungen der syrischen Frage stellen, und dazu braucht es starke Aktivist:innen und syrische Demokrat:innen, die diese Fahne tragen.«
Erdoğans Politik in Syrien zielt darauf ab, den Kurd:innen ihre Rechte wieder zu nehmen und die Autonomieverwaltung, die mit dem Blut von Tausenden von Märtyrern aufgebaut wurde, zu zerstören
Im folgenden geben wir die Position Adalat Omars, der Ko-Vorsitzenden der Frauenkommission in Nord- und Ostsyrien wieder.
»Seit Beginn der Syrienkrise hat Erdoğan die politische und militärische Situation ausgenutzt, um in Syrien einzumarschieren und weitere Gebiete zu besetzen. Als die Autonome Verwaltung in Nord- und Ostsyrien aufgebaut wurde, sah der türkische Staat darin eine Bedrohung für sich. Die Türkei nutzte die politische Instabilität aus und besetzte Regionen in Nord- und Ostsyrien. 2018 marschierte sie in die Region Efrîn und 2019 in Tell Abyad und Ras al-Ain (Serêkanîye) ein. Erdoğans Politik in Syrien zielt darauf ab, den Kurd:innen ihre Rechte wieder zu nehmen und die Autonomieverwaltung, die mit dem Blut von Tausenden von Märtyrer:innen aufgebaut wurde, zu zerstören. Dieser Autonomieverwaltung ist es gelungen, eine Einheit zu schaffen, die die Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen einschließt. Sie hat einen Ort geschaffen, an dem Pluralität, echter Demokratie und Frauenrechten eine grundlegende Bedeutung beigemessen wird. Die Türkei übt großen Druck auf Amerika und Russland aus, um grünes Licht für eine weitere Militäroperation zu bekommen und damit weitere Gebiete zu besetzen. Bis jetzt haben weder Russland noch Amerika dem türkischen Drängen nachgegeben. Um die Kurd:innen und die Autonomieverwaltung zu bekämpfen, wählt Erdoğan jetzt einen anderen Weg, die Annäherung an das syrische Regime. Seit Beginn der Syrien-Krise bis kurz vor Beginn des Annäherungsprozesses war Bashar AL Assad für Erdoğan ein Diktator, den man isolieren müsse. Um die Autonomiebehörde zu bekämpfen, ist er bereit, sich Baschar AL Assad anzunähern.
Der türkische Staat hat zur Durchsetzung seiner Interessen viel in die Opposition investiert, ist aber bereit sie zu opfern, wenn sie seinen politischen Interessen im Weg steht
»Meiner Meinung nach haben die Türkei und Syrien nicht nur die Kurd:innen und die Autonomiebehörde im Visier, sondern auch die Opposition. Der türkische Staat hat zur Durchsetzung seiner Interessen viel in die Opposition investiert, ist aber bereit sie zu opfern, wenn sie seinen politischen Interessen im Weg steht. Die Ereignisse in Efrîn sind dafür ein gutes Beispiel: Innerhalb von 24 Stunden hat Hayat Tahrir al-Sham (ehemals Al-Nusra Front) die von der Türkei unterstützten Oppositionskräfte (Syrische Nationale Armee) übernommen«.
Diese Strategie könnte nach Meinung von Adalat Omer auch im Fall einer im Rahmen der Annäherung von Syrien gestellten Forderung greifen: Die Türkei soll sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen. Eine Lösung für die Türkei wäre dann der oben geschilderte Austausch der militärischen Kräfte durch von Syrien und Russland akzeptierte andere türkeinahe Gruppen. Im Fall von Efrîn ist das Hayat Tahrir Al Sham. Dies ist eine mögliche Lösung, die von den USA, Syrien, Russland und der Türkei akzeptiert werden könnte. Das wäre aber eine Katastrophe für die Menschen in Efrîn, vor allem für die 300.000 Flüchtlinge aus Efrîn.
Viele komplizierte Fragen erschweren eine schnelle Annäherung. Dazu zählen die Rückführung der Flüchtlinge und die Überstellung von Söldnern an das syrische Regime. Die Türkei möchte die syrischen Flüchtlinge zurückbringen und Syrien möchte vor allem die führenden Köpfe der Söldner in Händen haben. Die Lösung dieser Fragen liegt nicht nur in den Händen der Türkei und Syriens.
Einige syrische Flüchtlinge haben sich bis jetzt geweigert, unter Druck in die besetzten Gebiete zurückzukehren und die Söldner haben begonnen, sich zu organisieren und zu protestieren. Erst im Laufe der Verhandlungen werden sich die Lösungen abzeichnen. Adalat Omar: »Wenn die Türkei die Oppositionsführer an das syrische Regime ausliefert, wird dies zu einem Chaos führen. Erinnern wir uns an den Anschlag in Istanbul Ende 2022. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Täter aus den SNA-Fraktionen der besetzten Gebiete stammen«.
Die Abschaffung der Autonomieverwaltung ist eine offiziell formulierte Bedingung, auf die sich beide Seiten einigen können. Und diese Bedingung könnte die hilfreiche Grundlage sein für weitere nötige Kompromisse.
Amerika unterstützt die türkisch-syrische Annäherung nicht und ist sich darüber im Klaren, dass im Falle einer Annäherung Russland, Syrien und die Türkei an Stärke gewinnen würden und Amerika in diesem Prozess der große Verlierer wäre. Deshalb haben die USA in letzter Zeit Schritte unternommen, um ihren Einfluss geltend zu machen. Ein hochrangiger Beamter hat sich mehrfach zu Gesprächen mit kurdischen Parteien getroffen und das Genfer-Format unter dem Dach der UNO1 soll anstelle des Astana-Formats (Russland, Iran, Türkei) reaktiviert werden.
»Jeder handelt entsprechend seiner eigenen Interessen. Wer in Syrien gewinnt, gewinnt im Nahen Osten, und wer im Nahen Osten gewinnt, übernimmt die zentrale Macht. Alle diese Kriege zur Neuaufteilung und für die Interessen der Staaten gehen auf Kosten der Gesellschaft. Ziel der mächtigen Staaten ist es nicht, die internen Konflikte zu beenden, sondern sie zu nutzen, um ihre Interessen durchzusetzen.«
Der Krieg in der Ukraine vertieft die Widersprüche zwischen Amerika und Russland und der Druck steigt, auf Kosten der Gegenseite auf eine Lösung in Syrien zu drängen
Ahmed Al-Labban, Mitglied des Büros für Beziehungen des Syrischen Demokratischen Rates in Aleppo nimmt wie folgt Stellung:
»In der Frage der Annäherung treffen die Interessen regionaler und internationaler Mächte hier in der Region aufeinander. Seit 11 Jahren kommt Syrien nicht zur Ruhe, die Krise dauert an und hat sich vor allem durch den ukrainisch-russischen Krieg und den Einmarsch türkischer Truppen in syrisches Gebiet weiter verschärft. Der Krieg in der Ukraine vertieft die Widersprüche zwischen Amerika und Russland und der Druck steigt auf Kosten der Gegenseite auf eine Lösung in Syrien zu drängen.
Sollte sich dieser Annäherungsprozess verfestigen, wird dies einer Verschwörung gegen das syrische Volk gleichkommen. Wir im Syrischen Demokratischen Rat betrachten den angestrebten Konsens aus dem Blickwinkel der verschiedenen innersyrischen Interessen und Bedingungen. Der Kompromiss muss eine demokratische Lösung sein und die Resolution 22542, die eine radikale Lösung, basierend auf den Visionen des syrischen Volkes darstellt, einbeziehen.
Für Russland spielen die eigenen Machtinteressen, die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine und die Stärkung der Rolle des Verbündeten Türkei eine wichtige Rolle. Der Türkei müssen in Bezug auf ihre Besatzungspolitik Zugeständnisse gemacht werden, um mit ihrer Hilfe russische Ziele im russisch-ukrainischen Krieg zu verwirklichen. Die Unterstützung und Motivation Russlands für diese Annäherung liegen im Interesse seines Verbündeten Türkei, der syrischen Regierung und im eigenen Interesse. Die Beziehungen zur Türkei sollen gestärkt und konsolidiert werden, auch mit Blick auf den Krieg in der Ukraine.
Diese Annäherung ist zwangsläufig eine illegitime Annäherung, denn sie berücksichtigt nicht die nationalen Interessen des syrischen Staates und die nationalen Interessen des syrischen Volkes. Das ist inakzeptabel. Es wird eine große Kluft innerhalb des syrischen Staates entstehen. Aus der Geschichte lernen wir, dass jede Annäherung zwischen der syrischen Regierung und dem türkischen Regime auf Kosten des Volkes geht. Die Legitimation der Annäherung muss auf der Grundlage der syrischen Souveränität, der Menschenrechte in der Region und auf der Nicht-Legitimation der Besatzung in der Region beruhen.
Wir lehnen eine Annäherung an die Nachbarländer nicht ab, aber angesichts der Besatzung, der Menschenrechtsverletzungen und des Krieges gegen dieses Volk ist das keine Entwicklung zugunsten der Menschen.
Die syrische Regierung hat nur eingeschränkte Entscheidungsbefugnis. Sie steht vor allem unter russischem Druck. Die einzige wirkliche Lösung liegt im innersyrischen Dialog, dem Dialog zwischen und mit unseren verschiedenen Religionen, Glaubensrichtungen, Ethnien, Parteien und politischen Gruppen. Jede Abhängigkeit von außen wird die Krise noch verschärfen und Syrien spalten.
Die USA werden der größte Verlierer sein, denn dieser politische Prozess wird von Russland unterstützt und folgt nicht den Interessen der USA. Die Kluft zum Verbündeten Türkei wird größer und die Türkei und Russland rücken enger zusammen
Am 22. November erklärte der Berater des Vorsitzenden der türkischen Partei MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), dass es keinen Vermittler bzw. Moderator für ein Treffen zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dem syrischen Präsidenten Bashar AL-Assad brauche. Im selben Kontext sprach sich der Vorsitzende der MHP, Devlet Bahceli, für ein Treffen beider Präsidenten aus, um den gemeinsamen Kampf gegen terroristische Organisationen zu koordinieren. In diesem Zusammenhang ist die Erklärung des Oberbefehlshabers der Syrischen Demokratischen Kräfte (QSD), Mazloum Abdi, zum Bombenanschlag in Istanbul interessant. Die Familie der Beschuldigten Ahlam AL-Bashir stehe einer IS-Söldnergruppe in Efrîn nahe. Ein Familienmitglied habe eine führende Position in einer von der Türkei unterstützten Söldnergruppe in Efrîn. Abdi ordnet den Bombenanschlag in Istanbul als eine Provokation des türkischen Besatzungsstaates ein, um den Weg für einen Krieg gegen Nord- und Ostsyrien zu ebnen. Nach dem Bombenanschlag in Istanbul hat die Türkei erwartungsgemäß mit Kampfflugzeugen, Drohnen und schwerer Artillerie die Infrastruktur, Zivilist:innen und Kämpfer:innen in Nord-Ostsyrien angegriffen.
Russland wird der Gewinner dieser Annäherung sein, denn die Kluft zwischen der Türkei und den USA, die die Normalisierung der Beziehungen zum Assad-Regime ablehnen, vertieft sich.
Die Lösung der syrischen Krise wird sich in diesem Fall auf die drei Staaten Russland, Iran und Türkei beschränken.
Das türkische Regime wird der zweite Gewinner sein, denn die Annäherung wird schon in diesem Stadium als Wahlkampfhilfe für Erdoğan genutzt. Und die türkische Regierung bekommt die Chance mit dem Assad-Regime, dem Iran und Russland zusammenzuarbeiten, um die AANES (Autonome Selbstverwaltung in Nord-Ostsyrien) zu bekämpfen und seine kolonialen Ziele zu erreichen.
Das Assad-Regime sieht diese Annäherung als eine Gelegenheit, die Säulen seiner Herrschaft zu bewahren, die Folgen des Caesar-Gesetzes3 zu mildern und eine Normalisierung einzuleiten.
Die USA werden der größte Verlierer sein, denn dieser politische Prozess wird von Russland unterstützt und folgt nicht den Interessen der USA. Die Kluft zum Verbündeten Türkei wird größer und die Türkei und Russland rücken enger zusammen.
Auch die bewaffneten Gruppierungen, die jede Annäherung an das syrische Regime ablehnen, werden die Verlierer sein. Auf die Erklärungen der türkischen Beamten können sie sich nicht verlassen. Diese Worte dienen nur dafür, für den Annäherungsprozess Zeit zu gewinnen. Die syrische Opposition muss ihre Erwartungen an Erdoğans Politik zurückschrauben.
Die AANES und die QSD werden weiterhin Widerstand leisten und ihr demokratisches Projekt gegen die türkischen Ambitionen verteidigen. Beide stellen ein Hindernis für die Absichten Russlands, der Türkei und des Assad-Regimes dar. Die Bedrohung durch den Prozess der Annäherung läutet eine neue, noch komplexere Phase in der Syrien-Krise ein. Es wird eine Phase voller Unruhen und Kämpfe sein. Der innersyrische Dialog, vor allem unter den widerständigen Kräften, bietet die Lösung, um sich dieser Verschwörung gegen Syrien und das syrische Volk zu widersetzen. Aus diesem Grund hat der Demokratische Rat Syriens4 eine Initiative gestartet, um die Lösungsvorschläge der syrischen Opposition und ihre Einschätzung der aktuellen politischen Entwicklung der Beziehung zwischen dem Assad-Regime und der Türkei zusammenzuführen.
»Jeder handelt entsprechend seiner eigenen Interessen. Wer in Syrien gewinnt, gewinnt im Nahen Osten, und wer im Nahen Osten gewinnt, übernimmt die zentrale Macht. Alle diese Kriege zur Neuaufteilung und für die Interessen der Staaten, gehen auf Kosten der Gesellschaft. Ziel der mächtigen Staaten ist es nicht, die internen Konflikte zu beenden, sondern sie zu nutzen, um ihre Interessen durchzusetzen.«
1 - Gespräche der Konfliktparteien in Syrien, unter Ausschluss der AANES
2 - Die Resolution 2254 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen wurde am 18. Dezember 2015 einstimmig verabschiedet. Gefordert wird ein Waffenstillstand und eine politische Lösung in Syrien. Die Resolution beschreibt den Fahrplan für den politischen Übergang in Syrien.
3 - 2019 vom früheren US-Präsidenten Donald Trump eingeführtes US-Sanktionsgesetz gegen Syrien
4 - Politische Dachorganisation der demokratischen Kräfte Syriens
Kurdistan Report 226 | März/April 2023