Editorial

Liebe Leser:innen,

Bei einem Anschlag am 23. Dezember in Paris sind Evîn Goyî (Emine Kara), KCK-Exekutivratsmitglied, YPJ-Veteranin im Kampf gegen den IS und führende Vertreterin der kurdischen Frauenbewegung, der Musiker Mîr Perwer (Mehmet Şirin Aydın) und der langjährige Aktivist Abdurrahman Kızıl getötet worden. Chemiewaffeneinsatz und Guerillawiderstand in Südkurdistan, Gefahr einer türkischen Bodenoffensive in Rojava, fortdauernder Volksaufstand in Rojhilat und mit Spannung erwartete Wahlen in Nordkurdistan und der Türkei …

Eines ist gewiss, auch in diesem Jahr werden uns die Themen nicht ausgehen. Denn im Mittleren Osten jagt gefühlt eine Krise die nächste, ein Konflikt wird vom nächsten übertroffen. Und auch wenn wir uns das Gegenteilige wünschen würden, wird sich die Situation vermutlich im neuen Jahr ebenfalls nicht allzu schnell verändern.

Jetzt mag mensch behaupten, dass der Mittlere Osten ja eigentlich schon seit dem Ende des 1. Weltkrieges ein steter Unruheherd mit wiederkehrenden Krisen ist. Und auch wenn das nicht ganz von der Hand zu weisen ist, vollzieht sich doch in den letzten Jahren ein Wandel im Grundcharakter der Konflikte. Lange Jahrzehnte war der Mittlere Osten Austragungsort von Konflikten zwischen staatlichen Akteur:innen der kapitalistischen Moderne. Regionale und überregionale Nationalstaaten haben Kriege um Macht und Einfluss geführt. Aber diese Konflikte haben nie das System an sich in Frage gestellt. Es ging lediglich darum, wer welchen Teil vom Kuchen bekommt und wer sich wem unterzuordnen hat. Und klar, diese Kriege wurden auf dem Rücken der Gesellschaften des Mittleren Ostens ausgetragen.

Aber die Konflikte, die in den letzten Jahren den Mittleren Osten dominieren, sind diejenigen zwischen den Vertreter:innen der bestehenden Ordnung auf der einen und den gesellschaftlichen Kräften auf der anderen Seite. Und die Gesellschaften des Mittleren Ostens stellen klar die Systemfrage. Entweder werden sie wie in Rojava angegriffen, weil sie das Selbstbewusstsein haben, ihren eigenen Weg jenseits der bestehenden Ordnung zu gehen. Oder sie begehren wie in Rojhilat auf, weil sie nicht mehr Willens sind, ihre Unterjochung unter dem gegebenen System zu akzeptieren. Natürlich jagt die aktuelle Form der Konflikte den Vertreter:innen der kapitalistischen Moderne große Angst ein. Denn eine Niederlage in einem systemimmanenten Konflikt bedeutet für sie vielleicht einen temporären Rückschlag, aber eine Niederlage gegen die Gesellschaft, also gegen die Kräfte der demokratischen Moderne, kann ihr endgültiges Ende bedeuten. Das erklärt auch das brutale Vorgehen von regionalen Vertreter:innen der kapitalistischen Moderne wie der Türkei oder des Irans. Für uns bedeutet es allerdings, dass wir viel gewinnen können, und zwar sehr viel …

Dem Mittleren Osten und Kurdistan in seinem Zentrum steht also mit ­Sicherheit ein turbulentes Jahr bevor. Daran brauchen wir keinen Zweifel haben. Zeitepochen wie diese können manchmal sehr erdrückend und niederschmetternd sein, gerade weil die Feinde einer befreiten Gesellschaft mit äußerster Brutalität vorgehen. Sie wollen den Menschen ihren Mut und ihre Kraft zum Kämpfen nehmen. Doch die Bevölkerung in Rojava, die allen türkischen Raketenangriffen und Bombardierungen zum Trotz den Aufbau ihres demokratischen Gesellschaftsmodells fortsetzt, oder die Menschen in Rojhilat und in weiteren Teilen des Irans, die trotz der abscheulichsten Brutalität der Staatsgewalt – samt Hinrichtungen von Aktivist:innen – nicht von der Straße weichen, sollten uns in diesem Jahr ganz besonders als Vorbild dienen. Wenn wir ihre Kämpfe als unsere Kämpfe betrachten und uns so aus der eigenen Isolation gegenüber der Staatsgewalt befreien, können wir große Schritte und Hürden auf dem Weg zu einer befreiten Gesellschaft nehmen. Denn Zeit­epochen wie diese können auch einen großen Wandel mit sich bringen.

Eure Redaktion


 Kurdistan Report 225 | Januar/Februar 2023