Gedanken zum Krieg in der Ukraine und den Hintergründen
Krieg in der Ukraine – Ein Weckruf
Franz Jacob
Die Eskalation des Kriegs in der Ukraine durch den Einmarsch russischer Truppen stieß weltweit zu Recht auf Empörung. Doch schnell wurden in den Medien die politischen und historischen Hintergründe weggelassen, die Kriegsgründe auf einen machtgierigen oder durchgeknallten Putin reduziert und ein Großteil der Proteste wurde von den Regierenden in der BRD zur Unterstützung von Aufrüstung und Waffenlieferungen benutzt. Dass es sich hierbei aber nicht um den »Kampf zwischen Gut und Böse« handelt: davon handelt der hier abgedruckte Weckruf, den wir – etwas gekürzt – von anfdeutsch übernommen haben.
Seit dem 24. Februar greifen die Truppen der russischen Föderation von verschiedenen Seiten das Territorium der Ukraine an. Was von der Propaganda des russischen Regimes als Operation zur »Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine« verkauft wird, ist ein Angriffskrieg, der auf die Zerschlagung der Souveränität des ukrainischen Staates und die Einverleibung seines Territoriums in den großrussischen Machtbereich abzielt. Der Angriffskrieg des russischen Imperialismus gegen die Ukraine kam weder unerwartet noch überraschend, sondern stellt lediglich die jüngste Eskalation im Kräftemessen zwischen dem westlichen Machtblock unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Russischen Föderation dar. Anders als derzeit von vielen angenommen, ist er weder Produkt des Zufalls noch das subjektive Machwerk eines »bösen diktatorischen Regimes«, sondern so wie jeder imperialistische Krieg die Fortsetzung der erbitterten Konkurrenz der herrschenden Klassen untereinander; also ein Kampf um die Aufteilung von Märkten, natürlichen Ressourcen, Einflusssphären und Arbeitskräften. Der Krieg ist die logische Konsequenz eines Systems, das in seinem unersättlichen Streben nach Maximalprofit weder Gesetz noch Moral kennt und für den Profit nicht zögert, Mensch und Natur zugrunde zu richten.
Russische Invasion: Weiterführung eines Krieges seit 1991
Der Angriff des russischen Regimes markiert den Eintritt in eine neue Phase der innerimperialistischen Konkurrenz, welche sich nunmehr auch auf dem europäischen Kontinent nicht mehr nur in Form ökonomischer und politischer Manöver äußert, sondern sich wieder in Form von verheerenden Kriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen Bahn bricht. Dennoch ist der Krieg in der Ukraine kein alleinstehendes und geschichtsloses Ereignis, sondern die Fortsetzung dessen, was Abdullah Öcalan schon in den 1990er Jahren sehr richtig als Dritten Weltkrieg analysiert hat. Er ist die Weiterführung eines Krieges, der seit 1991 an allen Enden und Ecken des Erdballs ausgetragen wird, und die nächste Runde im globalen Ringen um Hegemonie. Die vergangenen Wochen und die ausbleibenden oder völlig verfehlten Reaktionen von Seiten vermeintlich linker, fortschrittlicher und demokratischer Kräfte zeigen sehr deutlich, wie wichtig es ist, einen politischen Blick auf den Krieg und eine fundierte Analyse der Zusammenhänge zu entwickeln. Erst wenn wir nach dem »Warum?« des Krieges fragen und uns jenseits einfacher emotionaler Erklärungsmuster oder amateurpsychologischer Bewertungen über die Persönlichkeitsstruktur und seelische Verfasstheit des russischen Diktators begeben, werden wir eine Analyse der politisch-militärischen Situation entwickeln können, aus welcher sich der kategorische Imperativ für eine revolutionäre Praxis in Zeiten des imperialistischen Krieges ableiten lässt.
Interventionen des westlichen und transatlantischen Blocks
Wenn heute in der NATO von der Souveränität der ukrainischen Nation, dem Völkerrecht und der Unverletzlichkeit der nationalstaatlichen Grenzen geschwafelt wird, dann sollte nicht vergessen werden, dass diesem jüngsten Konflikt eine ganze Reihe von Interventionen des westlichen und transatlantischen Blocks vorausgegangen sind. Der (ebenfalls) völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999, mit welchem der Balkan unter aktiver Beteiligung des nach der Einverleibung der DDR wieder erstarkten deutschen Imperialismus in die »Europäische Friedensordnung« gebombt wurde, der Krieg in Afghanistan 2001 und die Zerschlagung des irakischen Regimes sowie die darauf folgende Besatzung des Irak 2003, die NATO-Intervention in Libyen 2011 und die massive Einmischung im syrischen Bürgerkrieg inklusive der türkischen Bodenoperation 2016, die türkischen Vernichtungskriege gegen die befreiten Gebiete Nordsyriens und den Nordirak seit 2018, die türkische Großoffensive im syrischen Idlib im Frühling 2020 sowie der von der Türkei und der NATO gestützte Überfall Aserbaidschans auf die Republik Arzach (Berg-Karabach) im Herbst 2020 waren alles erste Vorgefechte ein und derselben Auseinandersetzung. Die Liste ließe sich beliebig lang um die unzähligen Spezialoperationen, nachrichtendienstlichen Verwicklungen und natürlich den permanent und global geführten Drohnenkrieg erweitern.
Im geopolitischen Getümmel gilt das Recht des Stärkeren
Bei dieser Aufzählung geht es nicht, wie eine in diesen Tagen schnell geäußerte Entgegnung lautet, um die Relativierung des russischen Angriffskrieges oder das Geschwafel um die angeblich »legitimen Sicherheitsinteressen der Russischen Föderation«, welche auch von linker Seite leider allzu oft ins Feld geführt werden. Es geht schlicht und ergreifend darum, einen rationalen Blick auf den Konflikt zu entwickeln und auf offensichtliche Zusammenhänge hinzuweisen. Es geht darum aufzuzeigen, dass nationalstaatliche Souveränität und das Völkerrecht noch nie unantastbare, über allem schwebende Wahrheiten waren, sondern nur für diejenigen gelten, die in Ermangelung eigener Kräfte gezwungen sind, sich daran zu halten, nicht aber für diejenigen, die die Macht besitzen, sich darüber hinwegzusetzen. Innerhalb und außerhalb eines Staates bedeutet Souveränität die Fähigkeit zur Durchsetzung der eigenen Interessen mit Gewalt. Recht und Gesetz bekommen erst durch eine Gewalt, die sie durchsetzt, eine praktische Gültigkeit und werden erst so von der bloßen Idee zu einer materiellen Realität. Was nach innen das Gewaltmonopol ist, ist nach außen das »legitime Recht zur Verteidigung der eigenen Interessen« und damit auch der selbst beanspruchten Einflussgebiete. Während innerhalb des Staates die bewaffneten Organe im Dienst der herrschenden Klassen über »Recht und Ordnung« wachen, existiert ein solches Machtorgan, das einem »Völkerrecht« zu realer Gültigkeit verhelfen könnte, nicht. Ergo gilt im geopolitischen Getümmel das Recht des Stärkeren. Das »Völkerrecht« und auch die zum fast heiligen Prinzip erhobene »Unantastbarkeit der nationalstaatlichen Grenzen und territorialen Integrität der Staaten« bleibt nichts weiter als eine Idee, welche jedoch sehr wirkmächtig für die eigenen Interessen in Szene gesetzt werden kann. Sie dient dann allemal der Mobilisierung der Gesellschaft an der Heimatfront und der ideellen Überhöhung der eigenen Kriegspolitik als Feldzug im Dienst eines höheren Zweckes. Kurzum, ebenso wie im Inneren eines Staates so auch nach außen: Wer die Macht hat, hat die Freiheit, das Recht zu achten, aber auch jede Möglichkeit, sich nach Belieben darüber hinwegzusetzen. Es würde helfen in diesen Tagen, sich die zweite Strophe der schon fast in Vergessenheit geratenen »Internationalen« ins Gedächtnis zu rufen: »Leeres Wort: des Armen Rechte, leeres Wort: des Reichen Pflicht.«
Krieg als Unternehmen, aus dem sich jede Menge Profit abschöpfen lässt
Es ist ein Wesensmerkmal des Kapitalismus im imperialistischen Stadium, dass er wie schon nach der globalen Krise der 20er und 30er Jahre versucht, seine immanenten Krisen durch aggressive Expansion nach außen zu überwinden. Die Expansion kann durch die Eroberung neuer Märkte durch ökonomische Kriegsführung und »Exportoffensiven« erfolgen – ist jedoch der Zugang verwehrt, weil die Welt bereits in dutzende Einflusssphären geteilt ist, so bleibt nichts anderes übrig, als die Schranken zu durchbrechen und sich mit Gewalt den Eintritt in den neuen Raum zu erschließen. Gleichzeitig eröffnet der Krieg durch die Zerstörung von geschaffenen Werten, Gebäuden, Produktionsmitteln, durch die durch Produktionsausfälle geschaffenen Engpässe und Not und selbstverständlich durch die Vernichtung und Abnutzung der im Vorfeld angehäuften Waffenarsenale neue Akkumulationssphären aus sich heraus. Nicht nur, dass der Krieg die notwendige Konsequenz und das letzte Mittel der von Zeit zu Zeit stattfindenden Neuverteilung der Welt ist, er ist auch an sich ein Unternehmen, aus dem sich jede Menge Profit abschöpfen lässt. Dass der imperialistische Krieg die logische Konsequenz der verschärften innerkapitalistischen Konkurrenz und kein Kampf der Weltanschauungen und Ideen ist, gilt es in diesen Tagen mehr als je zuvor zu betonen.
Vormarsch neuer Mächte brachte US-amerikanisches Imperium ins Wanken
Die verschärfte Konfrontation in Osteuropa liegt auch darin begründet, dass die Russische Föderation in den vergangenen Jahren damit begonnen hat, über ihre »traditionellen Einflusssphären« hinaus neue Gebiete zu beanspruchen und zu erschließen. Nicht nur in Syrien oder Libyen, insbesondere auch im westafrikanischen Dreiländereck Mali-Niger-Burkina Faso gelang es der Russischen Föderation, in den vergangenen Jahren ausreichend politischen, ökonomischen und militärischen Einfluss zu gewinnen, um die westlichen Mächte, allen voran Frankreich, ins Abseits zu drängen. Dass heute von einem Rückzug der französischen Truppen und der sie stützenden Koalitionstruppen, von denen auch die Bundeswehr ein Teil ist, aus Mali gesprochen wird, ist das Ergebnis der verheerenden Niederlage, welche die alten Mächte in der Region erlitten haben. Mit den jüngsten Militärputschen in Mali und Burkina Faso konnte Russland auch politisch seine Vormachtstellung ausbauen und ist auf dem besten Weg, eine entscheidende Macht auf dem afrikanischen Kontinent zu werden. Dabei ist es nicht nur Russland, das sich mit neuem Mut auf das geopolitische Parkett wagt. Russland folgt dabei nur dem globalen Trend der letzten Jahre. Der Vormarsch neuer Mächte auf der ganzen Welt brachte in den vergangenen Jahrzehnten das US-amerikanische Imperium ins Wanken, und die veränderten Kräfteverhältnisse eröffneten den Raum für neue aufstrebende Kontrahenten. Anders als oft angenommen, verhalf der Fall der bipolaren Weltordnung, der Sturz des Staatssozialismus in Osteuropa, dem US-Imperium nicht zu neuer Stärke, sondern stellte die US-amerikanische Führung vor neue ungeahnte Herausforderungen. Der nordamerikanische Imperialismus, der nach dem Zerfall des Realsozialismus verzweifelt versuchte, als einzig verbliebene Hegemonialmacht sich zum Weltherrscher aufzuschwingen, geriet mit dem Beginn des neuen Jahrtausends zunehmend in die Bedrängnis einer multipolaren Weltordnung, in der neue Spieler den US-amerikanischen Führungsanspruch anzufechten begannen.
Der russische Imperialismus erkannte die Gunst der Stunde
Auf der einen Seite das Erstarken des chinesischen Staatskapitalismus und auf der anderen Seite die zunehmenden Verwerfungen im westlichen Machtblock, hervorgerufen durch das Streben einzelner ehemaliger Vasallenstaaten wie der BRD, Frankreichs, Englands oder auch der Türkei, einen eigenen imperialistischen Machtanspruch geltend zu machen, schwächten das transatlantische Bündnis in den vergangenen Jahren erheblich. Auch im Mittleren Osten gelang es den USA nicht, ihre Vision vom sogenannten »Greater Middle East Project« umzusetzen. Nach über 30 Jahren Intervention in der Region mussten die US-Strateg:innen ihr eigenes Scheitern schweren Herzens akzeptieren. Derzeit befindet sich der US-amerikanische Imperialismus auf einer taumelnden Suche nach einer neuen Strategie. Mit dem Misserfolg des Bestrebens, als einzige Ordnungsmacht die Welt zu beherrschen, droht der Zerfall des Imperiums. Gelingt es nicht, neue Allianzen zu schmieden und alte Bündnisse wie die NATO wiederzubeleben, dann drohen die innerwestlichen Widersprüche den noch von den USA dominierten westlichen Machtblock auseinanderzureißen. Der russische Imperialismus erkannte die Gunst der Stunde und begann diese Widersprüche gezielt zur Stärkung der eigenen Position zu nutzen. Dabei war die deutsche Bourgeoisie in ihrem Streben, dem deutschen Imperialismus unter neuer Flagge einmal mehr zu alter Größer zu verhelfen, auf enge ökonomische und politische Beziehungen zur Russischen Föderation angewiesen. Ähnlich wie die Türkei versucht auch der deutsche Imperialismus, durch ein doppeltes Spiel mit beiden Seiten die eigene Position zu stärken, um dem strategischen Ziel, als »Dritte Macht« zwischen USA und Russland wieder eine größere Rolle auf der Bühne der Weltgeschichte zu spielen, etwas näher zu kommen.
Interessen der verschiedenen Fraktionen des deutschen Kapitals
Schon seit langem zeichnete sich in der deutschen Politik und Wirtschaft und sogar im Militär ein zunehmender Widerspruch ab zwischen denjenigen, welche für Deutschlands Größe weiterhin auf das transatlantische Bündnis setzen, während andere bereits in Russland einen neuen strategischen Partner im Osten sehen. Politisch äußerte sich dieser Konflikt zwischen »Transatlantikern« und »Eurasiern« in der Auseinandersetzung zwischen den beiden Koalitionsparteien SPD und Grüne schon im Vorfeld des jüngsten Krieges. Während bei den Grünen die transatlantische Fraktion dominiert, wird der SPD nicht zu Unrecht eine Nähe zum russischen Lager nachgesagt. Wer glaubt, dass diese Nähe in warmen Privatbeziehungen des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und Wladimir Putin begründet ist, liegt abermals falsch. Auch hier zeichnen sich die Interessen der verschiedenen Fraktionen des deutschen Kapitals ab. Während der eine Block mehr nach Ost und der andere mehr nach West tendieren mag, lässt sich im Ganzen eben jenes »Manövrieren zwischen den Fronten« als bezeichnendes Merkmal deutscher Außen- und Wirtschaftspolitik diagnostizieren. Noch zu schwach, um sich vollständig vom US-amerikanischen »Partner« loszusagen, wird dennoch jede Gelegenheit genutzt, das eigene Gewicht zu vergrößern und mehr Unabhängigkeit zu erreichen. Die Position des mittlerweile zurückgetretenen Marineinspekteurs Schönbach, welcher im Januar mit seiner Aussage, er wünsche sich »Russland als Partner gegen China« für Furore gesorgt hatte, wird vor diesem Hintergrund mehr als nur eine individuelle Meinung.
Der Überfall auf die Ukraine ist gleichzeitig eine Botschaft an alle Länder
Klar ist, beim Krieg in der Ukraine geht es um mehr als um die Kontrolle eines Landes. Jede Macht verfolgt ihre eigene Agenda und versucht, die neuentstandene dynamische Situation für sich zu nutzen. Anders als manchmal behauptet – dass es einen neuen Kalten Krieg, also eine neue Blockbildung gebe –, markiert der Krieg in der Ukraine nicht das Ende der multipolaren Weltordnung, aber eine neue Etappe und Qualität dessen, was Abdullah Öcalan als den Dritten Weltkrieg definiert. Jede beteiligte Macht hat dabei ein eigenes Interesse am Krieg und braucht ihn, um die eigene politisch-militärische Agenda durchzusetzen. Der russische Imperialismus schafft Fakten und beweist gegenüber den westlichen Konkurrenten, dass man bereit ist, den eigenen Machtanspruch auch mit Waffengewalt durchzusetzen, und nicht mehr länger zusehen wird, wie der eigene Machtbereich weiter eingeengt und vom westlichen Kapital durchdrungen wird. Der Überfall auf die Ukraine ist dabei gleichzeitig eine Botschaft an alle Länder im von Russland beanspruchten Einflussbereich, dass vorschnelle Schritte oder gar eine Annäherung an andere Machtblöcke ernsthafte politische und militärische Konsequenzen nach sich ziehen werden. Russland beweist mit dem Krieg in der Ukraine den eigenen Anspruch, Weltmacht zu sein. Damit geht die »Souveränität« einher, zu definieren, was Recht und Unrecht ist und wo die »Souveränität« der anderen endet.
Langzeitplan
Auch die Debatte um ein eigenständiges europäisches System »kollektiver Sicherheit« bzw. einer europäischen Armee wird vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzung einen erneuten Aufschwung erleben. Der deutsche Imperialismus nutzt die Gunst der Stunde, um im Fahrwasser der globalen Mobilisierung gegen die russische Aggression seine eigene Position zu festigen und das eigene geopolitische Schwergewicht mit militärischen Machtmitteln abzusichern. Schon im aktuellen Koalitionsvertrag, der den zynischen Titel »Mehr Fortschritt wagen« trägt, haben die Regierungsparteien die weitere Aufrüstung der deutschen Armee festgeschrieben. So sei es nötig, im »systemischen Konflikt mit Russland und China« eine entschlossene Position einzunehmen und dafür auch die Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen und autonomen Kampfsystemen sowie Kampfjets einer neuen Generation auszustatten. Diese müssten dabei auch im Hinblick auf die »nukleare Teilhabe« der Bundesrepublik Atomwaffen transportieren können. Die Eskalation in der Ukraine ist nun die gewünschte Gelegenheit, all die Pläne und Vorhaben, die schon seit Jahren in den verschiedenen Think-Tanks und diversen Stiftungen zur Genüge diskutiert und ausgearbeitet wurden, in die Praxis umzusetzen. Ein Blick in die Strategiepapiere zur deutschen und europäischen Sicherheitspolitik, die in den letzten Jahren von diesen Institutionen herausgegeben wurden, genügt, um zu erkennen, dass die aktuellen Entscheidungen nicht bloße Reaktionen auf die jüngste Eskalation sind, sondern dass hier ein Langzeitplan umgesetzt wird, der zwar fähig ist, sich flexibel an die aktuellen Geschehnisse anzupassen, jedoch im Vorhinein schon beschlossene Sache war. Ein Blick in das Strategiepapier »Neue Macht – Neue Verantwortung« ist mehr als aufschlussreich, nicht nur um die Politik der aktuellen Bundesregierung zu verstehen, sondern für das Verständnis der Gesamtstrategie deutscher Außen- und Sicherheitspolitik der letzten Jahre. Es bestehe ein »Interesse am Fortbestand einer starken und effektiven NATO, weil das Bündnis ein erprobter Rahmen für politische Konsultationen und militärische Operationen mit den USA ist«. Jedoch müssten Deutschland und die EU für die Zukunft »Formate für NATO-Operationen entwickeln, bei denen sie weniger auf US-Hilfe angewiesen sind«. Das verlange »mehr militärischen Einsatz und mehr politische Führung«, dazu müsse Deutschland einen »seinem Gewicht angemessenen Beitrag« leisten. Schlüssel dazu, endlich als Führungsmacht gestalten zu können, ist eine schlagkräftige Armee. Und so formulierte Bundesfinanzminister Christian Lindner von der FDP den Verwendungszweck der 100 Milliarden ganz offen: die Bundeswehr zur »wirksamsten Armee Europas machen«.
Ein Teil der liberalen Linken lässt sich vor den Karren der NATO spannen
Anstatt gegen den deutschen Imperialismus – den Feind im eigenen Land – Stellung zu beziehen, beginnt sich ein großer Teil der gesellschaftlichen Linken in der militaristischen Stimmungsmache zu verlieren. Ähnlich wie damals zu Beginn des ersten großen imperialistischen Weltaufteilungskriegs 1914 die übergroße Mehrheit der Sozialdemokratie Deutschlands den konsequenten Einsatz für Abrüstung, Frieden und Internationalismus beiseitelegte und in das nationalistische Kriegsgeheul des Kaiserreichs einstimmte, so wiederholen sich auch heute altbekannte Erklärungsmuster. Auch wenn man damals eingestand, dass der Krieg nicht den Interessen der arbeitenden und ausgebeuteten Massen diene und grundsätzlich abzulehnen sei, so sprach man doch von der Rückständigkeit des russischen Absolutismus und dass die Arbeiterklasse unter dem Zarismus noch viel mehr leiden müsse als unter der Herrschaft des heimischen Kapitals. So wurde der Einsatz für die angebliche »Vaterlandsverteidigung« gerechtfertigt. Das Morden in den Schützengräben im Auftrag der deutschen Bourgeoisie wurde damit zu einer fortschrittlichen Tat, fast schon einer heiligen Mission im welthistorischen Auftrag, verklärt. Auch heute steht eine sich vermeintlich fortschrittlich, demokratisch und divers gebende westliche Gemeinschaft gegen einen erbarmungslosen russischen Autoritarismus, und der Kampf um die Ukraine wird zur Verteidigung freiheitlicher und demokratischer Ideale an sich erhoben. Folgen wir der herrschenden Berichterstattung, so stellt sich der Krieg in der Ukraine als ein Kampf zwischen »Gut und Böse« im Weltmaßstab dar. Ein großer Teil der liberalen Linken folgt dieser Argumentation und lässt sich damit vor den Karren der NATO spannen. Sie vermögen es nicht, der militaristischen Mobilmachung das Geringste entgegenzusetzen. Für uns gilt es, in dieser Auseinandersetzung einen klaren Kopf zu bewahren. Der Krieg in der Ukraine ist kein Kampf der Ideale, keine Auseinandersetzung verschiedener Ideologien oder Systeme, er ist und bleibt, was er schon immer war: ein innerkapitalistischer, mit Waffen ausgetragener Verteilungskampf zwischen den Kapitalfraktionen. Der Imperialismus kennt weder Ideale, noch kennt er Freunde oder Verbündete. Der Imperialismus kennt nur Interessen.
Wichtig ist, wie wir in den Lauf der Geschichte eingreifen
Wohin dieser Krieg führen wird, ist zur Stunde nicht absehbar. Vielleicht sind viele der Analysen, die wir heute machen können, nur eine Momentaufnahme und schon morgen überholt. Wichtig ist für uns nicht, wie sich der Lauf der Dinge ohnehin entwickeln wird, sondern wie wir in den Lauf der Geschichte eingreifen und die Entwicklungen bestimmen können. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat der Dritte Weltkrieg das Stadium, in dem Stellvertreterkriege und ökonomische Kriegsführung den Charakter der Auseinandersetzung bestimmten, verlassen und ist in eine neue Phase der direkten zwischenstaatlichen Auseinandersetzung eingetreten. Mit jedem Tag, der vergeht, spitzt sich die Lage weiter zu, und sollte der Fall der Ukraine drohende Realität werden, dann ist nicht absehbar, wie die NATO-Staaten und die Nachbarländer reagieren werden. Das enorme Maß an Waffenlieferungen, finanzieller Unterstützung, aber auch die Härte der ökonomischen Sanktionen zeigen sehr deutlich, dass die NATO bereit ist, wenn nötig auch das Äußerste zu riskieren. Die Russische Föderation zeigt sich entschlossen, nicht klein beizugeben, und so versetzte das russische Regime sein Arsenal an »Abschreckungswaffen«, darunter auch nukleare Waffensysteme, am 27. Februar in erhöhte Alarmbereitschaft. Trotz der Drohungen des russischen Generalstabs, dass auch Konvois der NATO-Staaten beim Liefern von Waffen in die Ukraine legitime Ziele der russischen Streitkräfte darstellen, zeigt man sich im Westen weiter entschlossen, das Risiko einer weiteren Eskalation in Kauf zu nehmen. Sollte auf der anderen Seite der russische Imperialismus eine Niederlage in der Ukraine erleiden und das Regime geschwächt aus dem Krieg hervorgehen, dann würde auch dies globale Verwerfungen ungeahnten Ausmaßes nach sich ziehen. Von Syrien, Libyen, dem Kaukasus, Mittelasien bis hin in den südamerikanischen Kontinent würden sich die Kräfteverhältnisse radikal verändern, und ein Wettrennen darum, wer das hinterlassene Machtvakuum zu füllen vermag, würde beginnen. Dass der türkische Faschismus, der sich im Konflikt bisher klar auf die Seite der NATO und der Ukraine geschlagen hat, auf derartige Gelegenheiten wartet, ist zumindest anzunehmen. Eine globale Schwächung Russlands würde neue Handlungsspielräume eröffnen und eine weitere Expansion, auch in die befreiten Gebiete Kurdistans und Nordsyriens, potentiell ermöglichen.
Die alte Ordnung befindet sich im Zusammenbruch
Statt uns allerdings in Spekulationen zu verlieren, sollten wir den Moment als einen Weckruf verstehen, uns zusammenzuraffen, aufzurappeln, und uns auf die kommenden Auseinandersetzungen im 21. Jahrhundert vorbereiten. Was Abdullah Öcalan für den Mittleren Osten als Chaosintervall analysiert hat, gilt heute für den gesamten Globus. Die alte Ordnung befindet sich im Zusammenbruch, und die neue Ordnung ist noch nicht geschaffen. Der Ausgang der Krise und des Chaos steht noch nicht geschrieben, sondern wird von den Kräften bestimmt werden, die sich am besten organisieren, am diszipliniertesten arbeiten, über die richtige Analyse verfügen und im entscheidenden Moment den nötigen Mut und die Entschlossenheit besitzen, die Initiative zu ergreifen. Das Chaos bietet Chancen, aber auch große Gefahren. Wo immer sich die Widersprüche zwischen den Herrschenden entladen, gibt es auch das Potential, dass sich revolutionär-demokratische Kräfte in den aufgerissenen Klüften organisieren und stärken können. Doch klar ist auch: wer die Phase nicht richtig bewertet, den Charakter der Phase als Dritten Weltkrieg nicht richtig erkennt, wird von der Dynamik der Konfrontation hinweggefegt und aus der Geschichte getilgt werden. Egal von welcher Seite wir die Situation betrachten, ob wir nun den Krieg oder die ökologische Katastrophe analysieren, es gilt zu erkennen, dass die Lage, in der sich die Menschheit heute befindet, wohl kaum ernster sein könnte. Entweder gelingt es uns, im Weltmaßstab eine Alternative zur herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu entwickeln, oder das System wird die Menschheit in Abgründe stürzen, die nicht auszudenken sind. Es gilt, unsere Arbeiten an das Niveau der globalen Auseinandersetzung anzupassen und mit der Ernsthaftigkeit und Opferbereitschaft, die diese Lage von uns verlangt, den Kampf um eine andere Welt zu organisieren. Ebenso wie aus den Wirren des Ersten Weltkriegs der historische Prozess der Oktoberrevolution geboren wurde und mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Epoche der nationalen Befreiungskämpfe eingeläutet wurde, so gibt es auch heute inmitten des Dritten Weltkriegs das Potential und die objektiven Bedingungen für einen neuen revolutionären Aufbruch im Weltmaßstab. Woran es mangelt, sind nicht die Widersprüche, nicht das Elend und nicht die Wut auf ein System, das tagtäglich weitere Teile der Welt in Brand steckt, jedoch der subjektive Faktor, die Organisation und der Wille, die Entscheidung zum Kampf und dem Aufbau des Neuen. Es liegt in unseren Händen, ob wir weiter nur als Zuschauer:innen auf der Bühne der Geschichte stehen oder unsere Zukunft erkämpfen werden.
Kurdistan Report 221 | Mai/Jubi 2022