Nach dem 5. April 2015: Krieg, mehrfache Krise und Zusammenbruch

Ohne Abdullah Öcalan kein Frieden

Fırat Can Arslan, Mezopotamya Ajansı


Das letzte Treffen zwischen dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und der İmralı-Delegation fand am 5. April 2015 statt, seitdem sind sieben Jahre vergangen. Trotz Öcalans Beharren auf Frieden und seinen Warnungen wurden die Völker mit den Zerstörungen des Krieges und diversen Krisen konfrontiert, als sich die Isolation auf İmralı verschärfte.

Ohne Abdullah Öcalan kein FriedenDie zahlreichen Krisen in der jahrhundertealten Geschichte der Türkei stehen in direktem Zusammenhang mit einer Sicherheitspolitik, die weit entfernt ist von einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage. Das Problem, mit dem sich der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan seit vierzig Jahren beschäftigt, blieb ungelöst, Zehntausende von Menschen kamen ums Leben, Tausende von Dörfern wurden niedergebrannt und zerstört, dazu kam es zu Übergriffen in den Gefängnissen und Milliarden Lira wurden verschwendet.

Außerdem zeigt die jüngere Geschichte, dass jedes Mal, wenn Öcalan in die Dialogprozesse einbezogen wird, eine Krisensituation überwunden wird. Öcalan, seit dem internationalen Komplott von 1999 in verschärfter Isolation auf İmralı, besteht seit 23 Jahren darauf, all seine Mittel einzusetzen, um die Grundlage für Frieden und Dialog zu schaffen. Während seines Strebens nach Frieden, das auch in der Isolation andauerte und von der Türkei größtenteils nicht beachtet wurde, gab es Situationen, in denen die Regierung in Zeiten krisenbedingter Stagnation im Lande eine Lösung in İmralı suchte.

Abschottung gegen die Friedensforderung

Einer der größten Schritte in Richtung Frieden war der 2013 begonnene Dialogprozess mit Öcalan. Das letzte der zur Beendigung des Krieges und für eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage etablierten İmralı-Gespräche fand am 5. April 2015 statt. Seitdem hat die AKP-Regierung die Dimensionen der Isolation über İmralı hinaus schrittweise auf alle Völker der Türkei ausgeweitet. Während derweil die Innen- und die Außenpolitik des Landes zusammenbrachen, verschärfte sich die politische, soziale, wirtschaftliche und soziale Krise.

Wahlentscheidung der HDP

Dem Treffen am 5. April 2015 und der Beendigung der Gespräche ging Folgendes voraus.

Die während des noch laufenden Beschlussverfahrens begonnenen, aber nach den durch Öcalans Botschaft gestoppten Kobanê-Protesten auf Eis gelegten Gespräche wurden mit der Bekanntgabe des Dolmabahçe-Konsenses am 28. Februar 2015 fortgesetzt. Die Übereinkunft wurde als größter und historischer Schritt hin zu einer demokratischen und friedlichen Lösung der kurdischen Frage gewertet. Im Gegensatz zu Öcalans wiederholten Friedensappellen war dieser Prozess aus der Sicht der AKP-Regierung und Erdoğans eine rein wahlorientierte strategische Phase. Als am 17. März 2015 die Entscheidung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) feststand, als Partei bei den anstehenden Parlamentswahlen am 7. Juni anzutreten, wurde auch Erdoğans Dementi des in Dolmabahçe dargebotenen Bildes und des vereinbarten Zehn-Punkte-Memorandums klar.

Öcalans Kongress-Einladung

Erdoğan beharrte weiterhin darauf, das Problem nicht lösen zu wollen, selbst nachdem Öcalan zu Newroz 2015 in Amed (Diyarbakır) auf eine Wahrheits- und Konfrontationskommission hingewiesen hatte. »Mit der Grundsatzvereinbarung gemäß der Deklaration sehe ich es als notwendig und historisch an, dass sie einen Kongress abhalten, um den seit fast vierzig Jahren geführten bewaffneten Kampf der PKK gegen die Republik Türkei zu beenden und die politischen und gesellschaftlichen Strategien und Taktiken im Einklang mit dem Geist der neuen Ära zu bestimmen. Ich hoffe, dass wir so schnell wie möglich einen prinzipiellen Konsens erzielen und eine Wahrheits- und Konfrontationskommission etablieren, die sich aus den Mitgliedern des Parlaments und des Begleitausschusses zusammensetzt, und die Situation erleben, diesen Kongress erfolgreich durchzuführen«, sagte Öcalan, obwohl er sich der schwankenden Politik der Regierung bewusst war, und wurde seiner ganzen Verantwortung im Namen des Friedens gerecht.

Letztes Gespräch am 5. April 2015

Öcalans Betonung des Begleitausschusses zu Newroz wurde von Erdoğan nur einen Tag später mit den Worten »Es gibt keinen Begleitausschuss, es gibt keinen Tisch« zurückgewiesen. Beim letzten Treffen auf İmralı am 5. April 2015, genau 14 Tage nach Erdoğans Ablehnung, erklärte Öcalan, das Erdoğan-Regime habe es nicht aufgegeben, das Problem nicht lösen zu wollen. Er sagte zur Delegation: »Wenn ihr oder die Landesdelegation ab jetzt nicht mehr mit dem Begleitausschuss zum Treffen kommt, hat das meiner Meinung nach keine Verbindlichkeit, keine offizielle Zustimmung, und wird auch keine haben. Wenn ihr nicht mit dem Begleitausschuss kommt, solltet ihr euch auch weigern zu kommen.«

Öcalan warnte die İmralı-Delegation, dem Staat ehle die Ernsthaftigkeit zum Dialog: »Dies könnte euer letzter Besuch sein. Es könnte sein, dass ihr nicht wieder herkommen dürft.« Nach diesem Treffen durfte die İmralı-Delegation nicht mehr auf die Insel.

Öcalan hatte gewarnt

Die Regierung ignorierte Öcalans warnenden Worte: »Wenn sich die Demokratisierung nicht entwickelt, wird der Putsch-Mechanismus ins Spiel kommen.« Stattdessen forcierte sie die Beendigung des Lösungsprozesses, da sie die nationalistischen Gruppen als ihre zweite Zielgruppe bestimmte, um allein regieren zu können.

Der Prozess führte zu mehreren Krisen

Während sich die AKP-Regierung nun völlig auf die Wahlen am 7. Juni 2015 konzentrierte, erschien die Möglichkeit, dass die HDP die Zehnprozenthürde überschreiten würde, in Regierungskreisen als nicht sehr wahrscheinlich. Allerdings verhinderte die HDP mit 13 Prozent der Stimmen, dass die AKP allein an die Macht kam, was Öcalans Vorhersagen bestätigte. Die Regierung, die bei den Wahlen nicht ihr erwartetes Ergebnis hatte erzielen können, fand die Lösung im Kriegsopportunismus. Die Isolation, die am 5. April wieder aufgenommen wurde, schuf zusammen mit den Massakern nach den Wahlen, den Mechanismen des Putsches, dem Ausnahmezustand und den Wirtschaftskrisen ein Umfeld der Isolation für die Gesellschaft. Die Atmosphäre des Vertrauens und des Friedens, die während der Prozesse entstanden war, in denen Öcalan seine Ideen und Gedanken vermitteln und sich in die Politik einbringen konnte, hat vielen Krisen Platz gemacht.

Krieg, Massaker und Operationen

Der Ausschluss Öcalans vom Geschehen führte dazu, dass sich die Völker der Türkei erneut im Krieg wiederfanden. Nach der offiziellen Beendigung des Lösungsprozesses durch die am 24. Juli 2015 eingeleiteten Militäroperationen gegen die PKK wurde im August die erste der Ausgangssperren verhängt, die die Zerstörung von Städten wie Sûr, Nisêbîn (Nusaybin), Cizîr (Cizre), Şirnex (Şırnak) und Gewer (Yüksekova) nach sich zogen. Während Hunderte von Menschen dabei ums Leben kamen, wurden Siedlungen bombardiert und zerstört. Die vom Islamischen Staat (IS) im Juni, Juli und Oktober verübten Massaker in Amed, Sûr und Ankara lösten eine chaotische Atmosphäre und mehrere Krisen im Land aus, dabei kamen 140 Zivilisten ums Leben und Tausende wurden verletzt.

Provokation in Giyadîn

Nach dem İmralı-Treffen vom 5. April 2015 gab es folgende Entwicklungen:

=> Die erste Provokation des Friedensprozesses fand am 11. April im Bezirk Giyadîn (Diyadin) von Agirî (Ağrı) statt. Es kam zu Zusammenstößen zwischen den Soldaten, die das Friedenszelt angriffen, und HPG-Mitgliedern. Die Zivilbevölkerung holte die Verwundeten aus der Konfliktzone. Im Bericht der Mitglieder der İmralı-Delegation, die in die Region gereist waren, um die Provokation vor Ort zu untersuchen, hieß es, dass der Gouverneur von Ağrı persönlich daran teilgenommen habe und die Soldaten mit den Vorbereitungen für diese Operation Tage vorher begonnen hätten. Und der Staat habe damit gegen den Waffenstillstand verstoßen.

In der Druckerei verschwunden!

=> Ahmet Davutoğlu [damals Ministerpräsident und AKP-Vorsitzender], der am 15. April das Wahlprogramm der AKP verkündete, bezichtigte den damaligen HDP-Co-Vorsitzenden Demirtaş des »Verrats« und behauptete, sie, die AKP, sei nationalistischer als die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) selbst, und fügte hinzu: »Die Leute wissen, wer die Nationalisten sind.« Die Erklärung enthielt keinen Abschnitt zum Lösungsverfahren, und Davutoğlu erklärte dies damit, der sei auf dem Weg zur Druckerei verschwunden.

=> Als die HDP-Zentrale am 18. April angegriffen wurde, sagte Sırrı Süreyya Önder, stellvertretende Kandidatin der HDP Ankara und Sprecherin der Imralı-Delegation: »Nichts wird passieren, solange der Staat nicht an dem Prozess beteiligt ist.«

=> Das Publikum kehrte Erdoğan, der am 4. Mai eine Kundgebung in Mêrdîn (Mardin) abhielt, den Rücken zu.

Erdoğans Pläne B und C

=> Präsident Erdoğan erklärte in einer Fernsehsendung am 21. Mai, dass bereits militärische Vorbereitungen in der Region getroffen worden seien, und im Hinblick auf den Friedensprozess sagte er, dass die Wahlen am 7. Juni einen Wendepunkt darstellten und die Pläne B und C entsprechend der Wahlergebnisse umgesetzt werden könnten. Er brachte seine Gleichgültigkeit gegenüber der AKP zum Ausdruck: »Meine Freunde sagen, es gibt Selbstzufriedenheit, wir können das nicht verhindern.«

Arınçs Drohung

=> Am 3. Juni erklärte der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arınç: »Diejenigen, die mit uns spielen und sagen, wenn die AKP nicht mehr an der Macht ist, dann ist es eben diese oder jene Partei, sollten wissen, dass es ohne AKP auch keinen Lösungsprozess gibt.«

=> Obwohl die AKP bei den Wahlen 40,87 Prozent der gültigen Stimmen erhielt, verlor sie ihre Macht, da die HDP 13,8 Prozent erzielte und 80 Abgeordnete stellte. Aus aller Welt trafen Glückwunschbotschaften an die HDP ein.

=> Vizepremierminister Yalçın Akdoğan, der die HDP für das Scheitern der AKP verantwortlich machte, sagte einen Tag nach der Wahl: »Von nun an werden sie höchstens noch einen Film über den Lösungsprozess drehen können.«

Hungerstreik

Die verstärkte Isolation brachte Jahre mit sich, in denen die gesellschaftliche Atmosphäre immer kriegerischer wurde und Lösungen blockiert wurden. Das erste Treffen mit Öcalan nach dem 5. April 2015 fand statt, als sich die am 8. November 2018 in den Gefängnissen begonnenen Hungerstreiks in kurzer Zeit ausbreiteten. Die kurdenfeindlichen Angriffe wurden währenddessen fortgesetzt. Am 20. Januar 2018 hatten die türkischen Streitkräfte (TSK) zusammen mit der Freien Syrischen Armee (FSA) einen Angriff auf Efrîn eröffnet, bei dem Hunderte von Zivilisten getötet und Hunderttausende vertrieben wurden. Am 180. Tag des Hungerstreiks fand ein Treffen mit Öcalan statt, bei dem sich das Bewusstsein offenbarte, dass die Befreiung von dem sich vertiefenden Chaos und der Zerstörung der Umwelt durch İmralı kam.

2019: Frieden geht weiter

Acht Jahre nach dem letzten Treffen mit seinen Anwälten fand am 2. Mai 2019 erneut eine Zusammenkunft statt. Dabei richtete sich Öcalan an den Staat und die Regierung: »Ich sage, dass ich in einer Woche die Möglichkeit eines Konflikts beseitigen werde. Ich löse ihn, ich bin zuversichtlich und bereit für eine Lösung. Der Staat und die staatliche Mentalität sollten jedoch das Notwendige tun«, hielt er an seiner friedfertigen Haltung fest. Der Verkehr mit seinen Anwälten wurde erneut unterbrochen, und deren Besuchsgesuche für İmralı wurden nicht einmal beantwortet.

Öcalan, von dem seit fast zwei Jahren nichts mehr zu hören war, führte am 25. März 2021 ein viereinhalbminütiges Telefongespräch mit seinem Bruder Mehmet, aufgrund der wachsenden Besorgnis und der heftigen Reaktionen auf ihn in den sozialen Medien. Er machte bei diesem unterbrochenen Kontakt auf die aktuellen Zustände im Land aufmerksam: »Der Staat spielt falsch und ihr auch. Das ist nicht rechtens und auch nicht richtig.« »Ich möchte, dass meine Anwälte herkommen und mit mir sprechen«, sagte er.

Wenn Öcalan teilnimmt …

Die sieben Jahre seit dem letzten Treffen auf İmralı am 5. April 2015, als Öcalan verschärfter Isolation unterworfen wurde, haben einmal mehr gezeigt, dass jedes Mal, wenn er nicht in die demokratische Lösung der kurdischen Frage eingegriffen hat, die Türkei mit Krieg und verschiedensten Krisen konfrontiert war oder ein Staatsstreich in Gang gesetzt wurde. Im politischen Prozess wurde den Völkern der Türkei zu jeder Zeit, in der ihre Ideen das Ausland erreichten, ein Umfeld des Vertrauens und des Friedens geboten.


 Kurdistan Report 221 | Mai/Jubi 2022