Über beschämende Lebensbedingungen, niedrige Löhne und Ausbeutung von Migrant:innen in Deutschland

»Wir schaffen das!« – Deutschlands Migrationspolitik

Gaia Tomasello, Berlin Migrant Strikers


In den letzten zehn Jahren ist eine noch nie dagewesene Anzahl von Migrant:innen nach Deutschland gekommen. Dies hatte verschiedene Ursachen, aber vor allem waren es die Wirtschaftskrise von 2008 und die Kriege im Nahen Osten, die diese massiven Fluchtbewegungen nach Europa ausgelöst haben. Obwohl der deutsche Staat immer als einer der europäischen Vorreiter in der Einwanderungspolitik mit einer angeblich »fortschrittlichen« Integrationspolitik galt, haben sich die im Zusammenhang mit Einwanderung der letzten Jahre (bzw. auch bereits in den Jahrzehnten zuvor) aufgetretenen und entstandenen Spannungen verschärft. Dabei war unter anderem auch die Covid-19 Pandemie, die ein anderes gesellschaftliches Klima und eine neue politische Landschaft schuf, ein Katalysator dieses Prozesses. Es folgte das allmähliche Abbröckeln des Mythos, Deutschland sei führend in einem System der Integration und Beschäftigungspolitik für Migrant:innen.

Die sog. »Flüchtlingskrise« in Deutschland in den letzten Jahrzehnten

Zur Zeit der so genannten Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016 kamen insgesamt mehr als 1,2 Millionen Geflüchtete nach Deutschland. Die große Mehrheit von ihnen war vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen. Doch war dies nicht das erste Mal, dass Deutschland mit so vielen Geflüchteten in einem relativ kurzen Zeitraum konfrontiert war. In den späten 70er Jahren beschloss die deutsche Regierung, Geflüchtete aus Vietnam aufzunehmen, und in den frühen 80er Jahren kamen Asylsuchende, die vor Militärputschen in Polen und der Türkei sowie vor der islamischen Revolution im Iran und dem Krieg der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung geflohen waren. Kurz darauf, in den frühen 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, führte eine Reihe von Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien zur Vertreibung von Millionen von Menschen aus dem Balkan nach Europa. 80 % von ihnen kamen damals in Deutschland an, was letztlich auf eine Anzahl von ca. 400.000 Geflüchteten hinauslief.

Die Anerkennungsquote war damals sehr niedrig, und die meisten Schutzsuchenden erhielten lediglich einen so genannten »Duldungsstatus« und somit keinen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Die wirtschaftlichen Bedingungen waren in jenen Jahren ungünstig, da Deutschland mit den Herausforderungen nach der Wiedervereinigung und einem unbestreitbar schlecht entwickelten Integrationsprogramm zu kämpfen hatte. In den letzten 10 Jahren spitzte sich die Situation zu, auch weil im Vergleich zu vorherigen Erfahrungen nur eine sehr begrenzte Anzahl von Migrant:innen in ihre Heimat zurückkehren konnte. Dies führte zu erheblichen Herausforderungen aufgrund der grundlegend unterschiedlichen Lebensbedingungen der Menschen aus europäischen und aus nicht-europäischen Ländern. Die Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt verlangt sehr viel Zeit und Mühe. Aus den Erfahrungen der letzten Jahre lässt sich hierbei ein Trend »der ersten fünf Jahre« ableiten: Die Beschäftigungsquoten steigen von einem sehr niedrigen Niveau aus überraschend schnell an, verlangsamen sich dann erheblich und erreichen schließlich ein Niveau, das meist unter dem der restlichen Bevölkerung liegt.

Als Reaktion auf die Bilder von Menschen, die vor Krieg und Terrorismus im Nahen Osten fliehen, nahm öffentliche die Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen zu. Dennoch wurde die Entscheidung der Regierung, eine unbestimmte Anzahl von Migrant:innen aufzunehmen, als unüberlegte Maßnahme angesehen und sogar kritisiert: Sie wurde als schwierige, aber zu bewältigende Herausforderung verkauft, als ethische Entscheidung und nicht als politische. Eine genauere Betrachtung wird jedoch den wahren Grund für diesen politischen Schritt offenbaren.

Interessanterweise schätzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dass in Deutschland bis 2035 fünf Millionen Fachkräfte fehlen werden, und die Regierung hat nun realisiert, dass auch Migrant:innen eine wichtige Rolle bei der Deckung des Fachkräftebedarfs spielen könnten. Unternehmer schätzen, dass 1,2 bis 1,6 Millionen neue qualifizierte Arbeitskräfte benötigt werden, um mit dem Wirtschaftswachstum der europäischen Lokomotive Schritt halten zu können. Was liegt also näher, als diese aus dem Ausland zu importieren? Angesichts der befürchteten Wohlstandsreduzierung im Land und des zunehmenden Durchschnittsalters der Bevölkerung wurde die Aufnahme einer größeren Zahl von Migrant:innen als eines der Gegenmittel angesehen. In diesem Zusammenhang hatte die Bundesregierung bereits 2016 damit begonnen, politische Maßnahmen und verschiedene spezifische Programme aufzulegen, um das benötigte Personal im Ausland anzuwerben. Und als Berlin mit der im Vorjahr eingereisten Million Migrant:innen umgehen musste, begann die Regierung, deutsche Unternehmen zur Einstellung von Geflüchteten zu ermuntern und zog sogar die Möglichkeit staatlicher Anreize in Betracht. Das neue im August 2016 in Kraft getretene Integrationsgesetz verbesserte den Zugang zu Integrationskursen, einschließlich intensiver Sprach- und Bürgerorientierungskurse unter der Hauptrichtlinie zur Erleichterung der Integration. Gleichzeitig beschreibt das Gesetz die Pflichten von Asylbewerber:innen und Geflüchteten. Sie wurden zur ­Integration verpflichtet und konnten ihre Sozialleistungen verlieren, wenn sie die Integrationsmaßnahmen oder die Mitwirkungspflichten nicht erfüllten.

Darüber hinaus hat die Regierung mehrere verwaltungsrechtliche Erleichterungen vorgenommen: So wurden die Integrationskurse für Asylbewerber mit hohen Bleibeperspektiven niedrigschwelliger zugänglich gemacht. Der Sprachunterricht war der Eckpfeiler der Integrationspolitik in Deutschland, und die Zahl der verfügbaren Plätze wurde erheblich aufgestockt, um der großen Nachfrage gerecht zu werden (wobei es immer noch einen erheblichen Rückstau gibt). Kurzum: Diese Krise hat die Schwächen des bisherigen Systems zur Integration von Flüchtlingen offenbart.

Die Versuche gesellschaftlicher und staatlicher Antworten: Soziales Engagement und gesetzliche Regelungen für den Arbeitsmarkt

In den ersten Monaten des Jahres 2016 wurden als Reaktion auf den massiven Zustrom von Asylbewerber:innen zahlreiche Initiativen der Zivilgesellschaft initiiert. Ein großer Teil dieser ersten Maßnahmen zielte darauf ab, die Grundbedürfnisse der Neuankömmlinge zu erfüllen. Mit starker Unterstützung der Zivilgesellschaft hat Deutschland relativ schnell reagiert und seinen Integrationsrahmen angepasst, um die Integration von Asylbewerber:innen und Geflüchteten zu erleichtern. Das soziale Engagement in Verbindung mit den als »positiv« und »inklusiv« bezeichneten Arbeitsmarktbedingungen sollte einen günstigen Rahmen für die Förderung einer sicheren Integration in den Arbeits­markt schaffen.

So wurde im Oktober 2018 eine Einigung innerhalb der GroKo erzielt, um den Zugang zum Arbeitsmarkt für Nicht-EU-Arbeitnehmer:innen zu erleichtern. Im Jahresgutachten des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR) wurde die Forderung nach einem neuen Gesetz formuliert, das unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des Arbeitsmarktes die Zuwanderung nicht nur von Akademiker:innen, sondern auch von beruflich Qualifizierten ermöglichen bzw. erleichtern soll. So beschloss die Regierung, denjenigen, die auf der Suche nach Arbeit nach Deutschland kommen, eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen; wenn sie innerhalb von sechs Monaten einen Arbeitsvertrag erhalten, würde diese Erlaubnis verlängert werden. Eines der Ziele eines solchen Gesetzes sei es, so der Bericht, die verschiedenen Regelungen und Programme in einer einzigen Ordnung zusammenzufassen und den deutschen Arbeitsmarkt attraktiver zu machen. Durch die Einführung eines einheitlichen Fachkräftebegriffs, der Hochschulabsolvent:innen und Personen mit Berufsausbildung einschließt, führte das Gesetz bestimmte Erleichterungen für Zuwander:innen aus Nicht-EU-Staaten ein. Jedoch nur für diejenigen mit einem Arbeitsvertrag und einem in Deutschland anerkannten Abschluss. Diese Regelung wirkte zwar deutlich, war jedoch befristet und galt nur bis zu fünf Jahren, wobei die Voraussetzungen Sprachkenntnisse (mindestens das Niveau des GER B1) und die Möglichkeit, den eigenen finanziellen Lebensunterhalt zu sichern, waren. Darüber hinaus kann eine ausländische Fachkraft eingestellt werden, ohne dass zuvor geprüft wurde, ob die Stelle mit einem/einer deutschen Bewerber:in oder einem/einer Bewerber:in aus einem EU-Land besetzt werden kann. Um Komplikationen zu überwinden und Verzögerungen zu vermeiden, hatte die Regierung versprochen, die Ausstellung von Visa zu beschleunigen und die Anerkennung ausländischer Qualifikationen zu erleichtern, während Vertreter:innen der Wirtschaftsverbände zusagten, Neuzuwander:innen beim Spracherwerb, bei der Wohnungssuche und beim Umgang mit deutschen Behörden zu unterstützen.

Widersprüche der deutschen Integrationspolitik: erste Kritikpunkte und Bedenken

Trotz der guten Absichten werden einige Elemente des Gesetzes aus dem Jahr 2018 kritisiert: so zum Beispiel die Tatsache, dass der Aufenthalt eines/einer Arbeitnehmer:in in Deutschland vom Wohlwollen der Einwanderungsbehörden abhängt, wenn er/sie aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen gekündigt oder entlassen wird. Mitglieder der deutschen Gewerkschaften befürchteten daher, dass eine solche Politik zu illegalen Praktiken wie Sozial- und Lohndumping führen könnte, da die Arbeitnehmer:innen ihren Arbeitsplatz nicht verlassen wollen und riskieren, ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlieren. Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) erhebt den Vorwurf, wonach Ausländer beispielsweise in Berlin und Umgebung Opfer »schwerer Ausbeutung« am Arbeitsplatz seien. Die Arbeitgeber:innen hätten nicht gezögert, Löhne zu zahlen, die unter dem gesetzlichen Minimum liegen. Laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) gingen 2018 von den 700 000 neu geschaffenen Arbeitsplätzen nur 330 000 an deutsche Arbeitnehmer:innen. Der Rest wurde von Zuwander:innen besetzt. Aber unter welchen Bedingungen? Offenbar nicht den besten. Die Branchen mit den kritischsten Problemen, so geht aus den Interviews des Instituts hervor, waren das Baugewerbe, die Fleischverarbeitung, das Gesundheitswesen, die Reinigung und die Gastronomie. Häufig wurden die Arbeitnehmer:innen ohne einen regulären Arbeitsvertrag oder eine Lohnabrechnung eingestellt. Aus diesen Gründen war es den Migrant:innen nicht möglich, ihre Rechte gerichtlich geltend zu machen.

»Diese Menschen haben praktisch keine Chance, ihre Lohnansprüche vor Gericht durchzusetzen«, beklagte die Direktorin des Instituts, Beate Rudolf, bei der Vorstellung des Berichts. Darüber hinaus stand der Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit in den letzten Jahren im Mittelpunkt der aktiven Arbeitsmarktprogramme, wobei dieselben Programme erfolgreich auf Geflüchtete und Asylbewerber:innen im Land abzielten, wo es eine regelrechte Jagd auf ausländische Arbeitskräfte gab. Infolgedessen ist die geringfügige Beschäftigung (sog. »Minijob«) zu einem wichtigen Merkmal des deutschen Arbeitsmarktes geworden: Ein Fünftel der abhängig Beschäftigten hat einen Minijob, bei dem sie bis zu 450 Euro im Monat verdienen dürfen und Arbeitgeber:innen nur eine Pauschale für die Sozialversicherung zahlen müssen, die niedriger ist als bei regulären, sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen. Noch wichtiger ist, dass die Arbeitnehmer:innen die Möglichkeit haben, sich von der Zahlung ihrer Beiträge zur Rentenversicherung zu befreien, und dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung Solidaritätszahlungen sind, so dass der/die angestellte Minijobber:in keinen Zugang zu Gesundheitsleistungen hat. Es werden keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung oder zur gesetzlichen Pflegeversicherung gezahlt. Nach den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) stieg allein in Berlin der Anteil der Migrant:innen, die in Teilzeit beschäftigt sind, von 16% im Jahr 2019 auf fast 20% im Jahr 2021.

Eine der größten Herausforderungen bei der Integration besteht darin, Fähigkeiten optimal zu nutzen, um den Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Es zeigte sich nämlich, dass es deutliche Ungleichheiten zwischen deutschen Staatsangehörigen und nicht-deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund, einschließlich Zuwander:innen der zweiten Generation, gab. Zuwander:innen der ersten Generation arbeiteten tendenziell unter ihrem Qualifikationsniveau – die Überqualifizierungsquote lag 2017 bei 31,4% für im Ausland geborene Personen und 16,2% für deutsche Staatsangehörige. Eine besondere Herausforderung bestand darin, den Kindern von Zuwander:innen einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu ermöglichen, insbesondere wenn sie aus bildungsfernen Familien stammen. Eine weitere Herausforderung war die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung. Dies ist insbesondere in einigen Regionen, die generell mit Problemen des sozialen Zusammenhalts konfrontiert sind, wie bspw. in großen Teilen Ostdeutschlands, der Fall. Das Phänomen des »Brain Drain« (die ständige Abwanderung hochqualifizierter Menschen aus ihrem Herkunftsland) war in mehreren Ländern wie Bulgarien, Rumänien und südosteuropäischen Nicht-EU-Ländern, Schwellen- und Entwicklungsländern ein Thema in öffentlichen Debatten und akademischer Forschung. Ein spezielles Gesetz, das im März 2020 in Kraft trat, sah die Anerkennung der Diplome ausländischer Arbeitnehmer:innen vor. Dies führte zur offiziellen Anerkennung von etwa 45.000 im Ausland erworbenen Diplomen, rund zwei Drittel davon im Gesundheitssektor. Dies hat sich jedoch als völlig unzureichend erwiesen: Die Umfrageergebnisse deuten auch darauf hin, dass Maßnahmen zur Höherqualifizierung für die künftige Politik entscheidend sein werden. Von den an den Umfragen teilnehmenden Arbeitgeber:innen, die Geflüchtete eingestellt hatten, gaben die meisten an, dass es sich um gering qualifizierte Stellen handelte (zwei von drei Stellen und eine von zwei Praktikumsstellen). Für die folgenden Jahre prognostizierten die Arbeitgeber:innen jedoch Beschäftigungsmöglichkeiten vor allem in mittelqualifizierten (50 % der Arbeitgeber) und hochqualifizierten (15 %) Positionen. Darüber hinaus schien die Rechtsunsicherheit ein wichtiges Thema zu sein.

Die Situation hat sich in den letzten Jahren durch die ­COVID-19-Pandemie offensichtlich noch weiter verschlechtert. Um die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt zu bewältigen, beschloss die Regierung eine Aufweichung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Kurzarbeit. Auch wenn in den letzten Jahren anscheinend mehr Migrant:innen eingestellt wurden – was zu der zweifelhaften Schlussfolgerung führt, die Hälfte der Asylbewerber:innen habe innerhalb von 5 Jahren eine Arbeit gefunden – ist es wichtig herauszuarbeiten, in welchen Sektoren und unter welchen vertraglichen und zeitlichen Bedingungen sie sich dann wiederfanden.

Gegen die Gig-Economy und die Ausbeutung: der Alltag bei Lieferdiensten

Unter den Mini-Jobs und der prekären Welt der Gig-Economy (Teil des informellen Arbeitsmarktes, bei dem zeitlich befristete Aufträge flexibel und kurzfristig an Arbeitssuchende, Freelancer oder geringfügig Beschäftigte vergeben werden) wurde der Versand- und Liefer-Bereich in den letzten Jahren aufgrund der massiven Pandemie-Maßnahmen erheblich ausgeweitet. Der starke Wunsch, sich während des Lockdowns Mahlzeiten nach Hause liefern zu lassen, hat diesen Teil des Arbeitsmarktes extrem angekurbelt, der auch für Migrant:innen besonders geeignet ist, da keine spezifischen Sprach- und Berufskenntnisse erforderlich sind. Dieses Phänomen konzentrierte sich besonders in den Ballungsgebieten, in Städten wie Köln, Hamburg und Berlin. In der letztgenannten waren beispielsweise im Jahr 2021 40% der in der Zustell- und Expressdienstbranche eingestellten Mitarbeiter:innen Migrant:innen. Auf der anderen Seite ist die Strategie, mit der diese Unternehmen für ihre beruflichen Angebote werben, darauf ausgerichtet, Arbeitssuchende in prekären Verhältnissen anzuziehen und deren Schwäche für den eigenen Profit und Vorteil auszunutzen. Auf dem Arbeitsmarkt haben sich diese Nachfrageplattformen offensichtlich für die Schaffung innovativer Geschäftsmodelle qualifiziert, die den Arbeitnehmer:innen Wahlmöglichkeiten und Flexibilität bieten, sowie für Plattformen wie die Unternehmen »Lieferando« oder »Gorillas«, die den Arbeitnehmer:innen ausdrücklich die Möglichkeit bieten, freiberuflich tätig zu sein und somit ihr »eigener Chef« zu werden. Mit der Illusion, viel Geld zu verdienen, was einzig und allein von der Fähigkeit abhängt, eine bestimmte Anzahl von Aufgaben zu erfüllen, locken diese Unternehmen verschiedene Kategorien von Arbeitssuchenden an, von Student:innen und jungen Menschen bis hin zu Migrant:innen und generell Menschen, die in prekären Verhältnissen leben.

Mit der Ausweitung der Gig-Economy und der zunehmenden Verbreitung von auf digitale Plattformen beschränkten Aufgaben wird die unglaubliche Kluft zwischen den regulären vertraglichen Verpflichtungen und der tatsächlichen Arbeit, die Arbeitnehmer:innen leisten müssen, immer deutlicher. Was die Regelungen in diesem Bereich wirklich kompliziert macht, ist die Uneinheitlichkeit der von den Plattformen angebotenen Aufgaben in Bezug auf die geforderten Qualifikationen, den Zeitaufwand für die Ausführung und natürlich das Geld, das für die erledigten Aufgaben gezahlt wird. Die Arbeitnehmer:innen einiger Plattformen kämpfen intensiv darum, als Arbeitnehmer:innen anerkannt zu werden, um grundlegende Rechte wie Kündigungsschutz, Mindestlohn, bezahlten Elternurlaub, Krankschreibungsmöglichkeiten und Gesundheitsschutz zu erhalten. Dies ist vor allem auf die Unklarheit ihres Arbeitsstatus zurückzuführen, da sie als »Freiberufler:innen« definiert werden und daher nicht alle vertraglichen Regelungen in Anspruch nehmen können, die einem/einer typischen Arbeitnehmer:in normalerweise zustehen. Unter dem Vorwand der »Flexibilität« wird sogar suggeriert, die Arbeiter:innen würden unternehmerische Erfahrung machen, aber tatsächlich sind die technologischen Arrangements der Gig-Economy entstanden, um die Mehrdeutigkeit des Arbeitsprozesses aus einer Managementperspektive zu definieren, zu kontrollieren und zu begrenzen. Auf diese Weise haben sie eine Reihe neuer Formen von Risiken und Unsicherheiten für die Arbeitnehmer:innen geschaffen, die so nicht einmal krankenversichert sind, und behalten gleichzeitig die Kontrolle über die Zeitpläne der Arbeitnehmer:innen, darüber, wann und warum eine Person entlassen werden kann, sowie über ihr Einkommen. Solche Arbeitsverhältnisse führen zu chronischer Ungewissheit in Bezug auf Zeitpläne und erwartete Löhne und führen zu Angst und Überarbeitung, verstärkt durch permanente Kündigungsmöglichkeit und finanzielle Zukunftsängste. Außerdem haben Forscher:innen herausgefunden, dass Gig-Work mit erhöhten Sicherheitsrisiken verbunden ist. Lebensmittelkurier:innen auf Abruf stehen unter ähnlichem Lieferdruck, und sind ständiger Überwachung, Übermüdung, Gewalt und Belästigung ausgesetzt. Umfragen ergaben, dass die Mehrheit der Fahrer:innen und Mitfahrer:innen (63%) nicht im Umgang mit den Risiken im Straßenverkehr geschult oder mit Sicherheitsausrüstung ausgestattet wurde (65%). Der Wettbewerb auf dem On-Demand-Markt bedeutet, dass die Unternehmen ständig versuchen, die Lieferzeiten zu verkürzen, was wiederum Druck auf die Mitarbeiter:innen auf der Straße ausübt. Vertragsarbeitskräfte, die Lebensmittel ausliefern, wurden ausdrücklich zu zügiger Fahrweise aufgefordert, und die Amazon-Prime-Lieferant:innen haben berichtet, keine Zeit für Pausen zu haben. Diese harten Arbeitsbedingungen haben zu Ermüdung, Krankheit und lebensbedrohlichen Unfällen geführt. Da es sich bei der Mehrheit der Beschäftigten um Migrant:innen handelt, nutzen diese Unternehmen deren mangelnde Sprachkenntnisse nicht nur für die tägliche Ausbeutung aus, sondern vor allem auch für die ständige Verweigerung grundlegender Arbeitsrechte, da sie nicht über die lokalen Gesetze informiert sind. Der deutsche Arbeitsmarkt wird sich langsam der Komplikationen und Widersprüche solcher Arbeitsbedingungen bewusst, und unter dem Druck bestimmter Gewerkschaften werden neue Herausforderungen analysiert und zukünftige Strategien geplant. Aber vielleicht nicht mit dem richtigen Tempo.

»Gorillas«-Streiks: die Gründung eines Kollektivs und der Kampf um Gleichheit

»Gorillas« wurde im März 2020 in Berlin gegründet, ist heute in 18 deutschen Städten sowie sechs Ländern aktiv und hat schätzungsweise 11.000 Mitarbeiter:innen. Es ist ein unbestreitbares Beispiel für das atemberaubende Wachstum eines Unternehmens, bei dem die schlechten Arbeitsbedingungen der Fahrer:innen – deren Aufgabe es ist, in kürzester Zeit Lebensmittel mit dem Fahrrad von dezentralen Lagern zu den Kund:innen zu transportieren – die Mitarbeiter:innen selbst dazu veranlassten, in die Außendarstellung des Unternehmens einzugreifen und ihre eigene Sicht hinzuzufügen. Die Fahrer:innen – die gezwungen sind, Waren auf Fahrrädern ohne angemessene Sicherheitsausrüstung auszuliefern, ohne Krankenversicherungsschutz und ohne Rentenbeiträge – haben wegen der Arbeitsbedingungen sowie wegen mehrerer Arbeitsunfälle und der äußerst gewaltsamen Reaktion des Unternehmens und die konsequente Entlassung von Mitarbeiter:innen bei Krankheit oder Verletzungen begonnen, sich zusammenzuschließen und die ersten Streiks und Proteste gegen diese inakzeptablen Bedingungen zu organisieren – sowohl wegen der Löhne als auch wegen der Sicherheitsbedingungen. Die Streiks begannen im Februar 2021, hauptsächlich wegen der schwierigen Wetterbedingungen und der Untauglichkeit der Fahrräder, die für den hohen Schneefall in diesen Wochen nicht geeignet waren. Die erste Reaktion des Unternehmens war die Verkürzung der Lieferzeiten, ohne jedoch die tatsächliche Nachfrage der Mitarbeiter:innen nach geeigneter Ausrüstung, Helmen, Winterkleidung usw. ernsthaft zu berücksichtigen. Im Februar 2021 wurde außerdem das »Gorillas Workers Collective« gegründet, um Menschen mit der Idee zusammenzubringen, sich gewerkschaftlich zu organisieren und sich über ihre Rechte zu informieren. Diese gestärkten Wanderarbeiter:innen begannen damit, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, sich rechtlich weiterzubilden, ihre Kontakte auszubauen, Teil von verschiedenen Organisierungen zu werden und lokale und soziale Beratung in Anspruch zu nehmen. Sie begannen mit der Veröffentlichung ihrer Erklärungen in mehreren Sprachen. Es wurden kontinuierlich Streiks, Proteste und andere Veranstaltungen organisiert, die die Stimmen anderer zivilgesellschaftlicher Strukturen, die für grundlegende Bürgerrechte wie das Recht auf Wohnung, Zugang zu Bildung und Gesundheitsdiensten kämpfen, weiter verbreiteten. Die Dinge sind so weit eskaliert, dass einer der Treffpunkte des Gorillas Working Collectives wegen der Teilnahme an den Streiks in Brand gesetzt wurde.

Den Arbeitnehmer:innen sind die Vorteile und der mögliche Kampf, den der Betriebsrat führen und gewinnen kann, noch unklar. Das Wichtige an diesen Streiks und den Aktionen dieses Kollektivs ist nicht nur, dem Unternehmen zu zeigen, dass bestimmte Arbeitsbedingungen nicht akzeptiert werden, sondern auch die Möglichkeit zu zeigen, wie Migrant:innen in einem fremden Land ihre Würde zurückerhalten können, indem sie sich weiterbilden, soziales Engagement suchen, sich zusammenschließen, um das Ergebnis bestimmter Initiativen zu maximieren, um verschiedene Herausforderungen in parallelen Strukturen zu bewältigen und schließlich einen gewissen Einfluss zu erreichen. Sie sind nicht nur auf die Rolle von »Fremden« in einem fremden Land beschränkt.

Schlussfolgerung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es – abgesehen von den allgemeinen Maßnahmen – nur wenige Präventionsmaßnahmen zur Bekämpfung der Ausbeutung von Arbeitskräften gibt und bisher keine angemessene politische Strategie entwickelt wurde. Es gibt Anzeichen dafür, dass eine gleichgültige Haltung gegenüber der Ausbeutung von Arbeitnehmer:innen, die innerhalb Deutschlands oder ins Ausland verlsetzt wurden, weit verbreitet ist. Die Ausbeutung ausländischer Hausangestellter stellt eine Grauzone dar, in der die moralischen Standards schwach oder unklar sind, weshalb ein umfassender Präventionsplan bei der Ablehnung und Verweigerung der Akzeptanz schwerer Arbeitsausbeutung durch die Gesellschaft ansetzen sollte. Eine Strategie zur Verhinderung schwerer Arbeitsausbeutung besteht darin, die Arbeitnehmer:innen über ihre Rechte aufzuklären und darüber, wo sie im Bedarfsfall Hilfe erhalten können. Wenn die Arbeitnehmer:innen keinen formellen Vertrag in einer Sprache erhalten, die sie verstehen, und nicht über ihre Rechte informiert werden, haben sie eine schwache Position. Darüber hinaus sollten sich die deutschen Institutionen und die europäischen Mitgliedstaaten ihrer besonderen Pflichten bei der Verhinderung von Arbeitsausbeutung in öffentlich finanzierten oder beauftragten Projekten sowie in öffentlichen Unternehmen bewusst sein und mit gutem Beispiel vorangehen.


 Kurdistan Report 221 | Mai/Jubi 2022