Schwer, in solchen Zeiten die richtigen Worte zu finden

Ein Brief aus Rojava über Krieg und Widerstand


Dies ist der Brief einer Freundin aus Rojava/Nordsyrien, geschrieben kurz nach den Luftangriffen in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 2022 auf das Flüchtlingscamp Mexmûr, das êzîdische Siedlungsgebiet Şengal im Nordirak und die Region Dêrik sowie den Artillerieangriffen auf den Kanton Şehba in Nordsyrien. Wir haben den Inhalt anonymisiert und alle persönlichen Informationen gestrichen, aber den persönlichen Schreibstil beibehalten.

Es ist schwer, in solchen Zeiten die richtigen Worte zu finden! Es sind Zeiten, in denen es eigentlich nur des Handelns bedarf, um diesen faschistischen türkischen Staat zu stoppen, der mit aller Kraft und allen Möglichkeiten versucht, Daesh zum Erstarken zu bringen und ihn als Mittel sieht, hier alles in Unruhe und Aufruhr zu versetzen, um dann, wie in der letzten Nacht geschehen, die Angriffe auf alle wichtigen Gebiete wie Mexmûr, Şengal, Şehba und Dêrik (nahe der Grenze bei Semalka) mit Kampfjets und Killerdrohnen anzugreifen.

Es ist zum Wütendwerden und deshalb ist es auch schwer, die Menschen hier darum zu bitten, jetzt Nachrichten zu verfassen, Menschen, die selbst in anderen Arbeiten stecken.

Wir haben die Nachrichten von lokalen Nachrichtenagenturen wie ANHA und Ronahî TV und sie versuchen, die Hintergründe aufzudecken und zwar, dass dieser Gefängnisausbruch über Monate (mindestens seit 6–8 Monaten) geplant war. Eigentlich sollte der Angriff schon früher stattfinden, im November 20211, aber er konnte von den Demokratischen Kräften Syriens QSD direkt vereitelt werden, weil sie eine Schläferzelle ausfindig gemacht haben, die bereits hunderte Waffen angesammelt hatte. Dann am 25. Dezember 2021 wurde einer der Anführer (Mohammed Abid al-Awad)2 von den QSD aufgespürt und verhaftet. Er führte die ganzen letzten Jahre in Raqqa ein Scheinleben als Taxifahrer. Er sollte für den geplanten Gefängnisausbruch der ranghohen Daesh-Gefangenen die Leitung übernehmen. Diese Festnahmen haben wohl einen Teil der Pläne verändert. Auf jeden Fall haben sich viele Daesh-Anhänger aus den besetzten Gebieten von Serêkaniyê und Girê Spî in den letzten Monaten rund um das Sina-Gefängnis in Hesekê angesiedelt. Ihre Häuser sollten nach einem geglückten Ausbruch ersten Unterschlupf bieten, um danach in Richtung türkische und irakische Grenze abhauen zu können.

Am frühen Abend des 20. Januars (der 4. Jahrestag der Angriffe auf Efrîn) wurde ein großer Öllaster vor dem Gefängnis abgestellt und zur Explosion gebracht. Für eine lange Zeit blockierten der Laster und die daneben in Flammen aufgegangenen Fahrzeuge die komplette Zufahrt zum Gefängnis. Zusätzlich wurden nacheinander vor den Zufahrtsstraßen mehrere Mopeds mit Sprengstoff rund um das Gefängnis gezündet.

Zu dieser Zeit wurden unsere Freunde, die die Aufsicht über die Gefangenen hatten, im Knast als Geiseln genommen, und es war nie klar, wo genau sie waren, denn sie wurden von den Daesh-Kämpfern als Schutzschild benutzt, damit nicht bombardiert werden konnte.

In den angrenzenden zwei Nachbarschaften, Gwheran und al-Zhour, wurden in den letzten Monaten in Häusern Tunnel gegraben, um die erste Attacke auf das Gefängnis zu unterstützen. Alles deutet darauf hin, dass die Türkei und der MIT und auch das syrische Regime hauptsächlich ihre Finger mit im Spiel hatten, denn die Gefangenen kamen nach den ersten Explosionen auch direkt an Waffen, mit denen sie viele Freunde, die im Gefängnis arbeiteten, und Menschen aus den Nachbarschaften als Geiseln nehmen konnten. Zusätzlich wurde zeitgleich bei Minbic, Ain Issa und aus Serekaniyê wieder angegriffen. Das zeigt, dass der Angriff gemeinschaftlich organisiert war, um einen Fluchtkorridor in Richtung Türkei freizuschlagen. Als Erstes sollten die Daesh-Gefangenen ausbrechen, um danach eine große Operation auf ganz Nord- und Ostsyrien zu starten. Dies sind alles Ergebnisse der Analysen der letzten Tage vor Ort.

„Nur einige wenige konnten von unseren Kräften wirklich bildlich heldenhaft gerettet werden – sie waren schwarz vom verbrannten Öl und den Explosionen und hielten sich vier Tage ohne Wasser und Essen verschanzt im Gefängnis auf, bis sie von unseren Freunden erkannt und befreit werden konnten.“Am Ende waren nach sieben Tagen 77 Freunde im Knast von Daesh-Kämpfern auf grausamste Weise ermordet worden. Nur einige wenige konnten von unseren Kräften wirklich bildlich heldenhaft gerettet werden – sie waren schwarz vom verbrannten Öl und den Explosionen und hielten sich vier Tage ohne Wasser und Essen verschanzt im Gefängnis auf, bis sie von unseren Freunden erkannt und befreit werden konnten. Die anderen über 40 Şehîds kamen in den folgenden Tagen bei der Suche nach ausgebrochenen Häftlingen rund um das Sina-Gefängnis ums Leben oder wurden bei den immer wieder aufflammenden Kämpfen getötet. Viele der Angreifer gehörten zu der Daesh-Jugendorganisation. Sie waren in einem Jugendtrakt auf dem Gelände untergebracht und von den Daesh-Anführern darauf trainiert worden, diesen Ausbruch zu starten.

Insgesamt sind 121 Hevals von QSD, Asayîş, YPG/YPJ und »Erka xwe Parastin« gefallen. In den letzten Tagen finden und fanden die Beerdigungen der bis jetzt identifizierten Leichen statt. Es sind auch ganz viele arabische Familien betroffen. Wir waren heute bei der Beerdigung und dem Gedenken für die fünf Şehîds aus Amûdê. Unter anderem Mihemed Elî Hecr, ein Familienvater, der sich seit 2012 für die Revolution eingesetzt hat, Farûq Ismaîl, ein 55-jähriger Familienvater, der als Koch im Sina-Gefängnis gearbeitet und in den letzten Jahren für die Daesh-Gefangenen das Essen zubereitet hat. Oder der noch sehr junge Hisên Hesen, 20 Jahre alt aus Amûdê3. Der Tag heute war wirklich schwer für alle Familien und Angehörigen.

Gleichzeitig wurden in Qamişlo 12 Şehîds aus den Kämpfen in Hesekê beerdigt und gestern die meisten in Kobanê auf dem Şehîd-Dîcle-Friedhof beigesetzt.

Vorgestern und gestern waren wir das erste Mal wieder in Hesekê. Vorgestern war die Ausgangssperre gerade zu Ende gegangen, es war sehr wenig los in der Stadt, nur die HPC, HPC-Jin und die Asayîş hatten überall in der Stadt Wachen aufgestellt und kontrollierten die Straßen – alle machen in diesen Tagen viel Wachdienst, um die letzten Schergen der ausgebrochenen Daesh-Gefangenen zu finden – es sind noch lange nicht alle wieder in den Händen der QSD, aber die Lage hat sich sehr beruhigt. Einige interviewte HPC-Frauen, die in diesen Tagen ihre Nachbarschaft schützen, sagten: »Es ist in unserer Verantwortung, die Waffen in die Hand zu nehmen, um Daesh endlich zu besiegen und den Islamischen Staat nicht mehr erstarken zu lassen und um gegen die Türkei, die versuchen wird, uns und unsere Existenz zu vernichten, anzukämpfen.«

Die gesamte Bevölkerung befindet sich in diesen Tagen in ständiger Bereitschaft, weil allen klar ist, dass die noch flüchtigen Daesh-Anhänger versuchen, die größeren Checkpoints der Asayîş zu umgehen und Feldwege zu nutzen. Sie versuchen mit verschiedenen Methoden, den scharfen Kontrollen zu entgehen. Einige Daesh-Typen hatten sich geschminkt und trugen einen Hijab, um die Absperrungen der anliegenden Viertel zu durchbrechen. Einige von ihnen konnten in dieser Verkleidung auch in öffentlichen Bussen wieder eingefangen werden.

Gestern, an einem Feiertag der Êzîden, startete die Türkei die ganzen Bombardierungen auf Dêrik, Mexmûr, Şengal und Şehba, es war nachts. Es handelte sich um mehrfache Bombardierungen und es war nicht klar, was daraus werden würde. Aber es war klar, dass dies nun der Versuch ist, diesen Plan von Seiten der Türkei doch noch irgendwie zu vervollständigen. Alleine in Şengal wurde über 20 Mal bombardiert – mit Kampfflugzeugen und Drohnen. Auch viele Stellungen der Selbstverteidigungskräfte Asayîş und der zivilen Sicherheit wurden angegriffen. Zum Beispiel traf es im Flüchtlingscamp Mexmûr die zivilen HPC-Verteidigungskräfte, die auf dem Berg zum Schutz vor Daesh stationiert sind, weil dieser, nur sechs Kilometer außerhalb des Camps, wieder erstarkt. Bei diesem Angriff fielen zwei Freunde und einige sind verwundet. Sie konnten wegen des nun seit zweieinhalb Jahren anhaltenden Embargos gegen die Bevölkerung des Flüchtlingscamps nicht in Krankenhäuser außerhalb des Camps gebracht werden ... es ist zum Schreien und zum Wütendwerden, aber eins dürfen wir in dieser Zeit nicht – den Kopf und die klaren Gedanken verlieren. Deswegen ist es umso wichtiger, die Weltöffentlichkeit auf all das hier aufmerksam zu machen.

An allen Orten wurden von der Türkei gezielt die Flüchtlingscamps angegriffen – was ist das für ein Verhalten und es zeigt klar, worum es dem türkischen Staat wirklich geht. Wir wissen zumindest, dass wir uns nur auf unsere eigene Kraft und die Zusammenarbeit mit der arabischen Bevölkerung in dem Zusammenschluss der QSD verlassen werden, denn sie sind es, die ihr ganzes Leben einsetzen, um dem Wiedererstarken des Daesh mit klarer Haltung und einem starken Willen entgegenzutreten.

Noch immer konnten nicht alle 77 Şehîds, die im Sina-Gefängnis gearbeitet hatten, identifiziert werden, da sie geköpft und ihre Leichen in Teile geschnitten wurden. Aus Respekt für die insgesamt 121 Şehîds – dieser gemeinsamen Verteidigung der Gesellschaft – wurde heute am Freitag in Hesekê ein allgemeiner Trauertag ausgerufen, um den bis jetzt identifizierten 23 Gefallenen eine letzte Ehre zu erweisen. Dafür wurden alle Läden und Geschäfte in der Stadt geschlossen und keine Autos fuhren mehr durch die Straßen.4

Fußnoten:

1 - https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/asayis-vereitelt-befreiungsaktion-fur-is-dschihadisten-29222

2 - https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/fuhrendes-is-mitglied-von-qsd-verhaftet-29981

3 - https://www.hawarnews.com/kr/haber/qsd-navn-sehdn-pngava-gurz-gelan-eskere-kirin-h56755.html

4 - https://www.youtube.com/watch?v=kPc7spOVvBY&t=43s


 Kurdistan Report 220| März/April 2022