Deutschland nach der »Zeitenwende«
Die zwei Gesichter des Krieges in der Ukraine
Elmar Millich
Offenkundig scheint es militärisch aktuell für die Ukraine gut zu laufen. Dank moderner westlicher Waffen und offensichtlicher strategischer Fehler sowie mangelnder Motivation der russischen Truppen konnte die ukrainische Armee in den letzten Wochen erhebliche Geländegewinne sowohl im Raum Charkiw als auch in den südlichen Frontabschnitten erzielen. Die Annexion der teilweise von russischen Truppen besetzten Gebiete als nunmehr Teil der russischen Föderation, die damit verbundene Drohung des Einsatzes taktischer Atomwaffen seitens Putins und die militärische Teilmobilisierung wirken eher hilflos. Entsprechend euphorisch ist die Stimmung vor allem in Teilen der Ampelkoalition und den maßgeblichen deutschen Medien. Um den »Endsieg« über Russland zu beschleunigen, machen Politiker:innen der GRÜNEN und der FDP öffentlich Druck auf den nach wie vor als »Zauderer« geltenden Bundeskanzler Scholz, die wenigen noch bestehenden Restriktionen für Waffenlieferungen aufzuweichen und auch schwere Kampfpanzer wie den »Leopard« an die Ukraine zu liefern. Als Begründung dient vor allem, dass die Ukraine als angegriffener Staat nach internationalem Völkerrecht das Recht auf Selbstverteidigung habe und dabei Anspruch auf die Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft.
Nun sind der unbestritten völkerrechtswidrige Angriff Russlands im Februar dieses Jahres und die berechtigte Gegenwehr der ukrainischen Bevölkerung nur ein Aspekt dieses Krieges. Trotz gegenteiliger Beteuerung der deutschen Regierung, keine Kriegspartei zu sein, findet der eigentliche Krieg längst zwischen NATO und Russland statt, mit teils identischen, teils unterschiedlichen Kriegszielen. Nicht nur, dass die Ukraine innerhalb kürzester Zeit mit zweistelligen Milliardenbeträgen hochgerüstet wurde – federführend waren dabei die NATO-Länder USA und Großbritannien –, und ebenfalls Milliardenbeträge der EU die Ukraine vor dem Staatsbankrott bewahrt haben: Die mit großer Reichweite versehenen vom Westen gelieferten Artilleriesysteme wären weitgehend wirkungslos ohne von der NATO-Aufklärung gelieferte Koordinaten russischer Verteidigungsstellungen und Nachschublinien. Laut unbestätigten russischen Informationen werden diese Koordinaten auch direkt von westlichen Militärberater:innen etwa in die von den USA gelieferten HIMARS-Mehrfachraketenwerfer-Systeme einprogrammiert. Keinen Hehl daraus machen westliche Militärexpert:innen und Medien, dass die jüngsten erfolgreichen Vorstöße der Ukraine minutiös von westlichen Militärberater:innen geplant wurden.
Insofern ist es Heuchelei, wenn westliche Politiker:innen behaupten, die Festlegung der Kriegsziele und die Frage von Verhandlungen mit Russland wären alleine Angelegenheit der Ukraine. Diese Kriegsziele können nach wie vor – wenn überhaupt – nur durch massive westliche militärische und finanzielle Hilfen erreicht werden. Und die offiziellen Kriegsziele der Ukraine haben es in sich. Präsident Selenskyj gibt nicht weniger als die komplette Rückeroberung der ukrainischen Gebiete auf dem Status vor 2014 als Ziel an, also inklusive der ehemaligen Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie der 2014 von Russland annektierten Krim.
Um die Bedeutung dieses Vorhabens zu erschließen, bedarf es eines Rückblicks auf den Konflikt. Nach der Machtergreifung prowestlicher Kräfte im Rahmen des Maidan-Aufstandes übernahmen chauvinistisch-antirussische Kräfte das Ruder. Innerhalb von Tagen wurde der Status der russischen Sprache in der Ukraine herabgestuft, und sowjetische Kriegsdenkmäler überall im Land wurden geschliffen. Die mehrheitlich prorussische Bevölkerung in Teilen der Ostukraine und der Krim sahen das zu Recht als chauvinistischen Angriff bezüglich ihres zukünftigen Status’ innerhalb der Ukraine und leisteten Widerstand gegen die völlig undurchsichtige Machtergreifung der neuen Herrscher in Kiew. Diese waren auch gar nicht an einem Dialog interessiert und schickten zu einem großen Teil aus faschistischen Söldnertruppen bestehende Milizen in die aufständigen Gebiete. An diesem Punkt griff Russland ins Geschehen ein, indem es die prorussischen Kräfte mit hybrider Kriegsführung unterstützte. Die Annexion der Krim erfolgte hauptsächlich aus geostrategischen Gründen, da mit dem Militärstützpunkt Sewastopol nicht mehr und nicht weniger als die Aktionsfähigkeit der gesamten russischen Schwarzmeerflotte auf dem Spiel stand.
Der Minsker Friedensplan sollte diesen Konflikt lösen, indem er den Volksrepubliken gewisse Autonomierechte innerhalb der Ukraine einräumen sollte, wurde aber von Kiew nie ernsthaft vorangetrieben.
Das Minsker Abkommen ist tot
Laut der Kiewer Regierung ist das Minsker Abkommen tot. Nach Aussage hochrangiger Regierungsberater:innen haben sich nach der geplanten Rückeroberung der Gesamtukraine die prorussischen Kräfte entweder zu unterwerfen oder die Freiheit, »in ihr geliebtes Russland« auszureisen. Auf einem am 22. August angesetzten Sondergipfel der Ukraine hat der per Video zugeschaltete Bundeskanzler Scholz diesen Kriegszielen indirekt zugestimmt, indem er betonte, Deutschland hätte die Annexion der Krim nie akzeptiert. Nach der durch den russischen Angriff verursachten immensen Flüchtlingswelle von Ukrainer:innen Richtung Westen wird nun anscheinend eine nicht minder große Flüchtlingswelle Richtung Osten billigend in Kauf genommen, wenn der ukrainische Präsident seine erklärten Kriegsziele umsetzt. Alternativen – etwa Verhandlungen mit Russland – hat Präsident Selenskyj gerade per Dekret verboten und wird dabei vom Westen gestärkt.
Aus Sicht der NATO ist die Ukraine nicht der Mittelpunkt, sondern nur der aktuelle Schauplatz ihrer Auseinandersetzung mit Russland. Maßgeblichen Kräften geht es darum, dass Russland in diesem Krieg nachhaltig geschwächt wird und als geostrategischer Rivale möglichst über Jahrzehnte ausscheidet. Die Gelegenheit, als angebliche Nichtkriegspartei einen effektiven Krieg gegen Russland zu führen, ohne bislang die eigene Bevölkerung durch direkte militärische Handlungen in Mitleidenschaft zu ziehen, ist eine Gelegenheit, die sich in Jahrzehnten nur einmal bietet. War bislang die Planung eher dahingehend, Russland in der Ukraine in einem langwierigen Abnutzungskrieg zu binden, hält man nun einen vollständigen Rückzug Russlands aus dem Gebiet der Ukraine – die Krim ist dabei noch außen vorgelassen – militärisch für möglich und arbeitet darauf hin.
Aus den Plänen nach einer Kapitulation Russlands macht der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bei einem Treffen der sogenannten Ukraine-Kontaktgruppe auf dem deutschen US-Stützpunkt Ramstein am 8. September keinen Hehl: Die westlichen Staaten müssten ihre Rüstungsindustrie ausbauen, um die »Nachkriegsaufrüstung« der Ukraine mit modernen westlichen Waffensystemen vorantreiben zu können. Eine Aufnahme der durch Flucht und Vertreibung dann rein prowestlichen Ukraine in die NATO wäre dann gegenüber einem militärisch und politisch geschwächten Russland nur eine Frage der Zeit. Den Plänen entgegenstehende Sorgen der Bevölkerung, dass ein in die Defensive gedrängtes Russland den Krieg gegen die NATO ausweiten und atomar eskalieren könnte, werden von Politik und Medien systematisch kleingeredet.
Ist die Eindämmung Russlands innerhalb der EU Konsens, wie es Bundeskanzler Scholz mit seinem Mantra »Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen« ausdrückt, breitet sich zunehmend in Polen und den baltischen Staaten ein extrem antirussischer Chauvinismus aus. Gerade in den baltischen Staaten sehen sich bis zu 30 % der Bevölkerung ethnisch als russisch und haben die entsprechende Muttersprache. Dagegen soll jetzt vorgegangen werden. Die lettische Regierung will ein Gesetz einbringen, in dem Lettisch für das gesamte öffentliche Leben vorgeschrieben ist. Justizminister Janis Bordans sagte im Juli, der Gebrauch von Nicht-EU-Sprachen müsse im Wirtschaftsleben verboten werden. Bereits im Juni hatte das lettische Parlament beschlossen, alle nicht lettischsprachigen Schulen im Laufe der nächsten drei Jahre zu schließen. Ähnliches plant die Regierung von Estland. Sie will außerdem das Unterrichten des Russischen als Fremdsprache verbieten. In Kiew lässt der von deutschen Politiker:innen und Medien gehätschelte Bürgermeister Vitali Klitschko konsequent alle nach Russ:innen benannten Straßennahmen ersetzen. Wir kennen die Folgen sprachlicher und ethnischer Unterdrückung aus Kurdistan. Hier werden neue Konfliktpunkte für die nächsten dreißig Jahre gesetzt, ohne dass sich die EU, die sich sonst besorgt über den Umgang mit ethnischen Minderheiten zeigt, dazu kritisch äußert.
Ebenfalls waren die baltischen Staaten vorgeprescht, generell keine Visa mehr für russische Staatsbürger:innen auszustellen. Man müsse auch die »schweigende Mehrheit« für Putins Krieg bestrafen. Mit den anderen EU-Staaten einigte man sich dann auf den Kompromiss, das 2007 mit Russland geschlossene Abkommen zur Visa-Erleichterung auszusetzen. In geistiger Annäherung an die Ukraine beschloss Lettland auch, das 79 Meter hohe Denkmal für den sowjetischen Sieg über den deutschen Faschismus in der Hauptstadt Riga abzureißen, während Traditionsverbände von Verbündeten der deutschen Waffen-SS ungestört ihre Aufmärsche abhalten können. Bereits im Juni trieb es Litauen auf die Spitze, es doch noch auf eine direkte militärische Konfrontation zwischen Russland und der NATO ankommen zu lassen. Angeblich um die EU-Sanktionen umzusetzen, behinderte Litauen den freien Warenverkehr zwischen der russischen Enklave Kaliningrad und dem Mutterland. Erst auf Drängen der EU-Kommission, der das Vorgehen zu heiß wurde, konnte eine weitere Eskalation abgewendet werden. Auch angesichts der jüngsten Vormärsche der ukrainischen Armee gibt sich Litauen als Vorreiter. Außenminister Gabrielius Landsbergis schrieb, Europa müsse die Ukraine für ihren »Mut« belohnen, indem sie ihr alle Mittel zur Verfügung stellt, um den Krieg rasch siegreich zu beenden. Das Ziel müsse die bedingungslose Kapitulation Putins sein. Von westlicher Seite hat niemand widersprochen.
Deutsche Medien verherrlichen Militarismus
Auch wenn die Bundesregierung immer wieder betont, dass sich Deutschland nicht im Krieg befinde, werden alle Aspekte der Politik – vor allem Ökonomie und Ökologie – dem Krieg in der Ukraine untergeordnet. Die bundesdeutsche Gesellschaft wird medial und politisch auf den Krieg gegen Russland eingeschworen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, die erklärtermaßen »Russlands Wirtschaft ruinieren« will, warnt vor der »Kriegsmüdigkeit der deutschen Gesellschaft«. Während in der sonst auf die Medienfreiheit stolzen Republik »Feindsender« wie »Russia Today« mal eben verboten werden, dürfen öffentlich-rechtlicher Rundfunk und andere führende Medien Kriegsverherrlichung ohne Ende betreiben. Stimmen aus Kultur und Politik, die sich für Verhandlungen und ein Ende des Krieges einsetzen, werden nicht nur kritisiert, sondern als angebliche Putin-Vasall:innen verächtlich gemacht. Kriegstreiber:innen wie die aktuelle Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Führungsriege der GRÜNEN und der faschistennahe ehemalige ukrainische Botschafter Andrij Melnik bekommen die besten Sendezeiten, um noch mehr Waffen zu fordern und die deutsche Bevölkerung für die Fortsetzung des Krieges um jeden Preis zum »Verzicht« aufzufordern.
Bundeskanzler Scholz wurde kontinuierlich mit der Behauptung, Deutschland erfülle die Erwartungen seiner Verbündeten nicht, medial unter Druck gesetzt, endlich mehr Waffen an die Ukraine zu liefern. Als wäre es die Aufgabe der Bundesregierung, die Erwartungen ihrer »Verbündeten« zu erfüllen. Seit Beginn des Krieges werden die nächtlichen Ansprachen Selenskyjs, die natürlich auch zu einem großen Teil als Propaganda zu verstehen sind, unkommentiert quasi als Tagesbefehl an die deutsche Bevölkerung weitergegeben. Rechercheaufgaben, die eigentliche Rolle des Journalismus, sind im Ukraine-Krieg längst kein Thema mehr: Warum sollte die russische Armee das AKW Saporischschja bombardieren, das sie selbst unter Kontrolle hat und in dessen Umfeld sich eigene Truppen befinden? Warum soll Russland die eigenen Erdgaspipelines in der Ostsee zerstören, die es nach Belieben auf- und zudrehen und damit gerade Deutschland unter Druck setzen könnte, aus Teilen des Wirtschaftsembargos auszuscheiden? Anstatt hier nachzuhaken, betreibt der Großteil des deutschen Journalismus das Spiel, von vornherein davon auszugehen, dass es Russland war, und sich dann dafür halbwegs plausibel klingende Gründe auszudenken.
Die eigentliche Steuerung der gesellschaftlichen Einordnung des Ukraine-Krieges leisten aber vor allem die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten nicht über Informationsvermittlung, sondern permanente Emotionalisierung. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Natürlich ist das Leid der ukrainischen Bevölkerung durch Krieg und Vertreibung real, und Russland trägt dafür durch seinen völkerrechtswidrigen Krieg einen großen Teil der Verantwortung. Und natürlich ist es auch Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, durch entsprechende Berichterstattung die Spenden- und Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen zu erhöhen. Aber es kehrt sich dann um, wenn der Sinn dieser emotionalen Berichterstattung darauf abzielt, eine Kriegspartei – hier die russische – auf der Grundlage teilweise ungeprüfter Quellen zu dämonisieren und somit einer Verlängerung des Krieges als geradezu unausweichlich das Wort zu reden.
Erinnern wir uns daran, dass noch im Februar Flüchtlinge, die vor allem aus dem Nordirak über Belarus in die EU einreisen wollten, von denselben Medien, die jetzt zur Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge aufrufen, als Lukaschenkos Vasall:innen einer hybriden Kriegsführung entmenschlicht wurden, die sich die EU um jeden Preis vom Hals halten müsse. Erinnern wir uns daran, dass Julian Assange, der US-amerikanische Kriegsverbrechen im Irak aufdeckte, unter folterähnlichen Bedingungen in britischer Auslieferungshaft sitzt und der deutsche Oberst Klein, der im afghanischen Kundus über 100 Zivilist:innen bei einem befohlenen Bombenangriff ums Leben brachte, von allen Vorwürfen freigesprochen und befördert wurde.
Während die Situation in der Ukraine auf allen Kanälen Dauerthema ist, werden andere Kriegsschauplätze und das Elend der Bevölkerung konsequent ausgeblendet. Sei es der Krieg im Jemen, sei es der Terror türkischer Drohnenangriffe auf die Zivilbevölkerung in Nordsyrien und im Nordirak. Wenn es den außenpolitischen Interessen der Bundesregierung etwa im Verhältnis zu Saudi-Arabien oder der Türkei entgegensteht, schauen die Medien weg, während jede Meldung mit umfangreichem emotionalisierendem Bildmaterial aufgepeppt und ungeprüft wiedergegeben wird, wenn deren Präsentation die geostrategischen Interessen Deutschlands voranbringt. Die Bundesregierung wird nicht müde zu beteuern, der russische Angriffskrieg dürfe nicht durch Erfolg belohnt werden, weil sich sonst dauerhaft völkerrechtliche Maßstäbe verschieben würden. Als 2020 Aserbaidschan einen Angriffskrieg gegen die von Armenien kontrollierten Gebiete in Berg-Karabach startete und mit massiver militärischer Unterstützung des NATO-Mitglieds Türkei einen Diktatfrieden gegenüber Armenien durchsetzen konnte, war die Reaktion der deutschen Bundesregierung verhalten, obwohl Eriwan geographisch auch nicht viel weiter von Berlin entfernt ist als Kiew.
Einen sehr viel differenzierteren Blick auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine haben die Länder des globalen Südens, die der Westen bislang trotz intensiver Bemühungen nicht einbinden konnte in die politische und wirtschaftliche Isolierung Russlands. Vor der UNO-Vollversammlung stellte am 24. September der mexikanische Außenminister Marcelo Ebrard einen Friedensplan seines Präsidenten López Obrador vor. Der Vorschlag war: Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine unter internationaler Vermittlung mit dem Ziel eines Waffenstillstandes für fünf Jahre. Ebrard begründete die Notwendigkeit eines solchen Waffenstillstandes mit den enormen Folgekosten für die Weltgemeinschaft infolge der ständig steigenden Energie-, Treibstoff- und Lebensmittelpreise. Aus der Ukraine erntete Mexiko für seinen Vorschlag nur Häme, während die westlichen Staaten darauf beharren, dass für die Situation allein Russland verantwortlich sei.
Krieg hat Priorität gegenüber Ökonomie und Ökologie
Welche Priorität der Krieg gegen Russland für das deutsche Establishment hat, zeigt sich auch in der Ökonomie. Durch den Stopp der russischen Erdgaslieferungen als Folge der von Deutschland mitgetragenen EU-Sanktionen steht die deutsche Wirtschaft vor der Rezession und die Verbraucher:innen leiden unter der hohen Inflation. Auch wenn es sich niemand eingestehen will, haben sich die ökonomischen Sanktionen gegen Russland als Fehlschlag erwiesen. Die Hoffnung der westlichen Staaten setzte vor allem darauf, durch finanzielle Sanktionen, also vor allem durch das Einfrieren der ausländischen Devisenreserven der russischen Zentralbank und den Ausschluss eines großen Anteils der russischen Banken aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT, einen rapiden Verfall des Rubelwechselkurses und damit in Russland eine Hyperinflation anzustoßen. Des Weiteren sollte durch ein Importembargo für russische – hauptsächliche fossile – Rohstoffe die Devisenzufuhr zusätzlich beschnitten werden.
Davon hat sich nichts realisiert. Die Inflationsrate beträgt in Russland ca. 13% und liegt damit nur um einen Faktor unwesentlich über dem EU-Durchschnitt. Aufgrund der explodierenden Preise für fossile Brennstoffe erwirtschaftet Russland bei stark gesunkenen Exporten deutlich mehr Gewinn als vor den Embargos. Statt zumindest das Scheitern einzugestehen (was ja noch nicht zwingend die Aufhebung der Embargos nach sich ziehen müsste), versuchen Politiker:innen aller Parteien aus der Not eine Tugend der miteinander frierenden und sparenden Volksgemeinschaft zu etablieren. Während Bundeskanzler Scholz die Bevölkerung auffordert, sich »unterzuhaken«, verteilt der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann ungefragt Tipps zur energiesparenden Körperpflege an die erstaunte Bevölkerung.
Die GRÜNEN haben dem Sieg über Russland nahezu alle Prinzipien geopfert. Während im Bundestagswahlkampf 2021 die Bekämpfung der Klimakatastrophe als größte Aufgabe der Menschheit und Herzensanliegen grüner Regierungspolitik beschrieben wurde, sieht die aktuelle Politik des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck konträr aus. Die Importstruktur für umweltschädliches Fracking-Gas aus den USA wird in Rekordzeit ausgebaut, abgeschaltete Kohlekraft wieder ans Netz genommen und die Laufzeit von Atomkraftwerken verlängert. Der grünen Basis wird vorgetäuscht, es handele sich dabei um eine temporäre Phase bis zum Ausbau der erneuerbaren Energien. Die jetzigen Erhöhungen der CO2-Emissionen würden dann bis 2030 wieder eingespart werden. Das ist natürlich völlig unrealistisch. Die angestrebten langfristigen Lieferverträge für Flüssiggas mit den USA, aber auch mit Golf-Emiraten wie Katar und die immensen Infrastrukturkosten zementieren deren Einsatz über viele Jahre. Die GRÜNEN sind endgültig von der Friedens- und Umweltpartei zur Partei der Kriegstreiber und Waffenhersteller geworden.
Gegen Krieg und Verarmung größerer Bevölkerungsteile den Protest anzuführen wäre originäre Aufgabe der Partei DIE LINKE, aber die bietet ein Bild interner Zerrissenheit. Der rechte Flügel um den neuen Parteivorstand hat jeden Bezug zu einer linken Imperialismusanalyse verloren und wetteifert mit den Grünen, wer in der Öffentlichkeit am häufigsten den russischen Angriffskrieg verurteilt, anstatt sich konsequent für einen Waffenstillstand und Verhandlungen einzusetzen im Sinne Lenins bei der Zimmerwalder Konferenz1 1915 während des 1. Weltkrieges. Man versucht bei Maßnahmen zur Sozialverträglichkeit der Kriegsfolgen die SPD leicht links zu überholen, anstatt konsequent den Krieg zu bekämpfen. Ansonsten liefert man sich zerstörerische Kämpfe mit Teilen der Bundestagsfraktion, namentlich Sahra Wagenknecht.
Zaghafte Versuche, das Thema Inflation und Verarmung vor allem im Osten Deutschlands nicht der AfD zu überlassen, werden zudem aus den eigenen Reihen vom thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow torpediert. Die Partei DIE LINKE hätte die Möglichkeit gehabt, sich im Mai in Schwedt an die Spitze der Proteste zu setzen, als die Bundesregierung über das EU-Embargo hinaus den Ausstieg aus den Lieferungen russischen Erdöls beschlossen hatte, von dem die dortige PCK-Raffinerie abhängig ist. Aktuell wird dieses Thema schwerlich der AFD noch zu entreißen sein zum Gefallen der Kreise, die ihre Kriegspolitik ungestört weiterbetreiben wollen.
Wer nach einer möglichen Lösung für den Krieg sucht, muss den Doppelcharakter seiner Ursachen im Blick haben. Bezüglich des innerukrainischen Aspekts zeigt sich wieder mal Abdullah Öcalans Analyse des modernen Nationalstaatskonzepts als Ursache vieler Konflikte als zutreffend. Ohne ethnischen Chauvinismus könnten die Bevölkerungsgruppen in der Ukraine ein friedliches Zusammenleben führen, wenn nicht die jeweiligen Parteien entweder ihren Gesamtstaat Ukraine oder ihre »Teilrepubliken« als möglichst homogene Entitäten in Bevölkerungsstruktur und Staatsideologie betrachten würden. Der Minsker Friedensplan hätte dafür eine Grundlage bieten können, aber ob es nach den kriegsbedingten Grausamkeiten ein weiteres Zusammenleben geben kann, bleibt fraglich. Wahrscheinlicher sind ein jahrelang anhaltender Hass und Revanchismus in der Region – unabhängig davon, welche Grenzen sich letztendlich militärisch etablieren.
Der zweite Aspekt betrifft den grundsätzlichen Konflikt zwischen Russland und der NATO bei der Neuaufteilung von Einflussgebieten im Bereich der ehemaligen Sowjetunion. Hier ist von Seiten der NATO kein Entgegenkommen zu erwarten, je stärker aktuell die Schwächen der konventionellen Kriegsführung der russischen Armee zutage treten. Die Aufnahme von Finnland und Schweden in das Bündnis geben die Richtung der weiteren militärischen Einkreisung Russlands und dessen ökonomischer Verdrängung aus dem umliegenden Wirtschaftsraum vor. Wer glaubt, mit einem militärischen Sieg der Ukraine würde sich die Weltlage politisch und wirtschaftlich beruhigen, wird sich schnell getäuscht sehen.
Während das Sterben und die Zerstörungen in der Ukraine fortgesetzt werden, befeuern die USA bereits ein ähnliches Szenario im Konflikt mit China um Taiwan. Mit dem Besuch von Nancy Pelosi Anfang August in Taiwan und neuen versprochenen Waffenlieferungen der US-Regierung von 1,1 Milliarden US-Dollar an Taipeh testen die USA gerade systematisch aus, wie hoch sie die Provokationsschwelle heben müssen, um China zu einem bewaffneten Angriff auf die Insel zu veranlassen. Der deutsche Wirtschaftsminister stellt sich bereits auf das neue Szenario ein und will gegen die Interessen der deutschen Wirtschaft per Gesetz eine Entkopplung der deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen erzwingen. Bezahlt wird das kriegstreibende Verhalten wie bei den Russland-Embargos von der einfachen Bevölkerung.
Was kann die Linke tun? Es gilt der Bevölkerung klarzumachen, dass die aktuellen Auseinandersetzungen nichts mit dem Kampf zwischen Demokratien und Despotien zu tun haben, sondern innerimperialistische Auseinandersetzungen darstellen, die am ehesten mit der Situation im 1. Weltkrieg vergleichbar sind. Entsprechend gilt es, der aktuellen Logik von Aufrüstung, Waffenlieferungen und allgemeiner Militarisierung des Denkens konsequent entgegenzutreten und überall die sofortige Einstellung der Kriegshandlungen und anschließende Verhandlungen zu fordern. Das ist umso dringender, als Militärstrateg:innen sowohl Russlands als auch der NATO aktuell dabei sind, eine begrenzte atomare Auseinandersetzung in ihre Kosten-Nutzen-Analysen einzupreisen.
1- Die Konferenz von Zimmerwald fand während des 1. Weltkrieges vom 5. bis 8. September 1915 im schweizerischen Ort Zimmerwald in der Nähe von Bern statt. Sozialistische und pazifistische Parteien aus mehreren europäischen Ländern diskutierten über Wege, das Gemetzel des 1. Weltkrieges zu beenden.
Kurdistan Report 224 | November/Dezember 2022