Der eelam-tamilische Widerstand ist eine Geschichte des Protests

Ein solidarischer und vereinter Freiheitskampf ist für alle Völker möglich!

Vibi R., Mitglied des Volksrats der Eelamtamilen Deutschland


Der eelam-tamilische Widerstand ist eine Geschichte des ProtestsDie Geschichte der Eelam Tamil:innen1 ist durchzogen von Protesten. Eine Freiheitsbewegung ist nicht entweder gewaltvoll oder gewaltlos, vielmehr ist sie ein Zusammenspiel beider Ermächtigungen.

In den Jahren 2008 und 2009 demonstrierte die Eelam Tamilische Diaspora weltweit für die sofortige Beendigung des Völkermordes durch den sri-lankischen Staat. Die Mobilisierung der Eelam Tamil:innen in dieser Zeit war ein bedeutender Teil der Geschichte.

Im Jahre 2008 intensivierte das sri-lankische Militär seine Kampfhandlungen und ging brutal gegen das eelam-tamilische Volk und die Freiheitsbewegung LTTE2 vor. Krankenhäuser wurden gezielt bombardiert. Es kam zum Einsatz von Streu- und Phosphorbomben. Sogenannte No-Fire-Zones, die angeblich dem Schutz der Zivilisten dienen sollten, wurden bombardiert. Der Verbleib von 169 796 Personen3 ist bis heute nicht geklärt.

In dieser Zeit protestierten beispielsweise 200 000 Menschen vor dem britischen Parlament in London. Die Proteste fanden von Toronto bis Chennai4 regelmäßig mit mehreren tausend Menschen statt. Dabei kam es unter anderem zu verschiedenen Aktionen. Die Menschen blockierten Autobahnen, Bahngleise und gingen in den Hungerstreik. Sowohl in Tamil Nadu als auch in Genf verbrannten sich mehrere Tamil:innen selbst, um auf den Völkermord aufmerksam zu machen.

Seit der Unabhängigkeit Ceylons5 von der britischen Kolonialherrschaft begann die Unterdrückung durch den rassistischen singhalesischen Staat. Es kam zu mehreren Massakern am tamilischen Volk. In dieser Zeit formierte sich in Tamil Eelam auch die sogenannte Satyagraha-Bewegung6, um Widerstand zu leisten und das tamilische Selbstbestimmungsrecht auf gewaltlose Weise einzufordern. Die Protestcamps waren jahrelang Teil des eelam-tamilischen Lebens. Die anhaltende Unterdrückung führte zu den Studentenbewegungen, die sich vor allem aufgrund der rassistischen Benachteiligung von Tamil:innen im Bildungssystem entwickelte. Die jungen Student:innen machten mit mehreren Aktionen weltweit auf sich aufmerksam.

Bis heute zieht sich die Geschichte des Protests in der eelam-tamilischen Freiheitsbewegung durch. Die sogenannten »Families of the Disappeared7« – vorwiegend organisiert von Müttern – befinden sich im fünften Jahr ihres durchgehenden Protests in Tamil Eelam. Sie kämpfen für die Aufklärung des Verbleibs ihrer Angehörigen. Ihr Protestcamp ist seit nunmehr über 2000 Tagen täglich besetzt8 (12. August 2022). Viele der teils älteren Angehörigen sind seit Beginn des Protests ohne Aufklärung über den Verbleib ihrer Liebsten verstorben. Anfang diesen Jahres protestierten tausende Eelam Tamil:innen in ihrer Heimat anlässlich des Unabhängigkeitstages von Sri Lanka und betonten ihr Recht auf Selbstbestimmung. Im vergangenen Jahr vereinten sich mehrere Zivilorganisationen und führten einen Protestmarsch vom Osten bis hin zum Norden des besetzten Heimatgebiets durch (P2P-Protest9). All diese Proteste werden von Jahr zu Jahr seit dem Ende des Krieges 2009 größer und bestimmter. Obwohl die sogenannte sechste Verfassungsänderung das Sprechen über einen selbstbestimmten Staat kriminalisiert, finden die Menschen eigene Wege, ihre Freiheitsvorstellungen zum Ausdruck zu bringen. Die Gemeinsamkeit dieser Bewegungen ist das Selbstbestimmungsrecht der Eelam Tamil:innen in ihrer historischen Heimat.

Dieser jahrzehntelange ständige Protest der Eelam Tamil:innen in der Heimat und der Diaspora wurde sowohl vom singhalesischen Volk als auch vom »Westen« zwar wahrgenommen, jedoch nicht als »relevant« angesehen. Warum werden jedoch die Proteste im Süden diesen Jahres (sog. »GotaGoHome« Proteste10) als revolutionär, »turning point11«, demokratisch und sogar als einzigartig dargestellt? Wer entscheidet darüber, dass dies die entscheidende Protestbewegung oder eine »Volksbewegung« ist? Welches Volk oder genauer gesagt welche »Nation« muss protestieren, um als Volksbewegung gesehen zu werden? Wem steht also die Deutungshoheit über solche historischen Ereignisse zu?

Bei der Beantwortung dieser Frage hilft ein genauer Blick auf die Proteste im Süden. Der Auslöser der Proteste war die anhaltende Wirtschaftskrise. Singhalesische und westliche Medien sprachen von einem pandemiebedingten Einbruch der Wirtschaft und fanden auch einen Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg und der Weltmarktentwicklung. Diese Faktoren spielen eine relevante Rolle, jedoch wurden die Hauptursachen in den verkürzten Analysen nicht miteinbezogen. Diese sind vor allem die neoliberale Wirtschaftsbetätigung und die vom Rassismus getriebene Völkermordpolitik des sri-lankischen Staates. Letztere war vor allem in der Vergangenheit durch die Militarisierung des Nordens und Ostens der Insel zu spüren. Die Unsummen an Geldern, die durch den Tourismus von ausländischen Investoren erwirtschaftet wurden, steckte der sri-lankische Staat – trotz Abwesenheit des Krieges – in die Militarisierung. Dies dient der Einschüchterung, der Kontrolle und vor allem der Unterdrückung der Eelam Tamil:innen.

Auch der Blick auf die Teilnehmer:innen der Proteste zeigt, dass nicht per se alle auf die Straßen gingen, sondern hauptsächlich das singhalesische Volk im Süden der Insel sich an den Protesten beteiligte und das eelam-tamilische Volk im Norden und Osten eben nicht. Dies lag unter anderem daran, dass ethno-nationalistische buddhistische Mönche, Kriegsverbrecher und elitäre Politiker:innen an den Protesten teilnahmen bzw. sich mit diesen solidarisierten. Eben diese waren jedoch in der Vergangenheit die Befürworter:innen der Rajapaksa-Familie12 und der ethnokratischen Politik.

Des Weiteren waren die Forderungen der »GotaGoHome« Proteste zunächst auf den Rücktritt des Präsidenten Gotabaya begrenzt. Die Aufarbeitung des Völkermordes an den Eelam-Tamil:innen, die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrecher:innen, die Entmilitarisierung und die Rückgabe von enteigneten tamilischen Gebieten – nur einige der zentralen Forderungen der Eelam Tamil:innen – waren nicht Teil des Protests. Auf Anfrage einiger tamilischer zivilgesellschaftlicher Organisationen an die Protestierenden im Süden wurden die tamilischen Forderungen diskreditiert und abgelehnt.

Die Protestierenden verwendeten auch das Narrativ, das jahrzehntelang Teil der Völkermord-Politik des sri-lankischen Staates ist. Diese Narrative geht von einer sogenannten sri- lankischen Identität aus, um gezielt andere Identitäten auszulöschen. Ein freiheitliches Leben kann jedoch ohne die Anerkennung historischer Vielfalt nicht gelingen.

Wie kann also eine angebliche Revolution des Volkes diese zentralen Aspekte außen vor lassen?

Im Ergebnis war für die Deutung der Proteste – sowohl für den Westen, als auch für das singhalesische Volk – maßgeblich, dass systemkritische Stimmen nicht inkludiert wurden. Das Problem mit dem postkolonialen Staat Sri Lanka ist jedoch, dass er darauf ausgelegt ist, andere Völker als das singhalesische zu unterdrücken. Es ist also ein systematisches, institutionelles Problem, das mit einem Wechsel der Regierung nicht behoben werden kann.

»Das singhalesische Volk wird den revolutionären Charakter des Unabhängigkeitskampfes der Tamilen erst dann verstehen, wenn es sich von der rassistischen Ideologie der Mehrheit befreit hat und erwacht ist. Wir reichen der singhalesischen Arbeiterklasse unsere Hand der Freundschaft. Wir betrachten die singhalesischen Arbeiter, die von der herrschenden Klasse Singhals unterdrückt, zerschlagen und ausgebeutet werden, als Bündnispartner.« Ein Zitat von V. Prabhakaran (Anführer der LTTE)

Die Bedeutung für Eelam-Tamil:innen in den Protesten des Südens liegt darin, dass einige wenige des singhalesischen Volkes die Möglichkeit der kritischen Auseinandersetzung mit dem Staat Sri Lanka erhalten haben könnten. Ein solidarischer und vereinter Freiheitskampf ist unter der Anerkennung des selbstbestimmten Lebens für alle Völker möglich.

Fußnoten:

1- Tamil Eelam ist die Bezeichnung für den Nord- und Ostteil Sri Lankas, in dem mehrheitlich Tamil:innen leben. Das tamilische Gebiet in Indien heißt Tamil Nadu und ist ein indischer Bundesstaat. Die Menschen bezeichnen sich als Eelam Tamil:innen. 

2 - Die Liberation Tigers of Tamil Eelam (kurz LTTE, auch Tamil Tigers; Befreiungstiger von Tamil Eelam) waren eine auch bewaffnet kämpfende Befreiungsbewegung, die von 1983 bis 2009 im Bürgerkrieg in Sri Lanka für die Unabhängigkeit des von Tamilen dominierten Nordens und Ostens Sri Lankas kämpften. 

3 - International Truth and Justice Project: https://ia802304.us.archive.org/25/items/itjp-death-toll-in-sri-lanka/ITJP-Death-Toll-in-Sri-Lanka.pdf

4 - Chennai liegt am Golf von Bengalen in Ostindien und ist die Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu.

5 - Am 22. Mai 1972 wurde Ceylon eine Republik mit dem Namen »Sri Lanka«. 

6 - Satyagraha ist eine von Mahatma Gandhi ab seinem Lebensabschnitt in Südafrika entwickelte Grundhaltung, die (als politische Strategie) im Kern darauf beruht, die Vernunft und das Gewissen des Gegners anzusprechen durch die eigene Gewaltlosigkeit und die Bereitschaft, Schmerz und Leiden auf sich zu nehmen.

7 - dt. Familien der Verschwundenen 

8 - https://www.tamilguardian.com/content/tamil-families-disappeared-mark-2000-days-protest-vavuniya 

9 - Der Protestmarsch von Pottuvil nach Polikandy 2021 (kurz: P2P-Protest) war eine Demonstration, welche vom 3. Februar 2021 bis zum 7. Februar 2021 stattfand.

10 - Proteste vor allem im Süden Sri Lankas, die einerseits der etablierten Politik das Misstrauen aussprachen, andererseits aber mit dem Rücktritt mehrerer Politiker, unter anderem des Ministerpräsidenten, abflaute.

11 - dt. Wendepunkt 

12 - Percy Mahinda Rajapaksa ist ein sri-lankischer Politiker. Von 2005 bis Januar 2015 war er der sechste Präsident Sri Lankas. Vom 21. November 2019 bis zu seinem Rücktritt am 9. Mai 2022 amtierte er als Premierminister des Landes. Nach dem Wahlsieg seines Bruders Gotabaya Rajapaksa bei der Präsidentschaftswahl am 16. November 2019 wurde Mahinda Rajapaksa ab dem 21. November 2019 erneut Premierminister Sri Lankas.


 Kurdistan Report 224 | November/Dezember 2022