Verantwortung und Hoffnung aus der Revolution der Jugend in Rojava ziehen

Ich bin jung und deshalb träume ich

Tim Strobel


»Şehid Hêlîn Qereçox«-Akademie in RojavaDie Jugend hat nichts zu verlieren, aber eine Welt zu gewinnen. Wenn man die revolutionäre Jugend in Nord- und Ostsyrien und ihre Arbeits- und Herangehensweise in einem Satz beschreiben möchte, dann ist es vielleicht dieser. Seit nunmehr genau zehn Jahren ist die Revolution in Nord- und Ostsyrien in vollem Gange und zuvor schon deutlich länger war sie im Untergrund im Aufbau. Nach ihrem offenen Ausbruch im Juli 2012 wurde von den revolutionären Kräften die historische Chance genutzt, um die Besatzung von Kobanê, Efrîn, Serê Kaniyê, Qamişlo und vielen weiteren Städten durch das Assad-Regime zu beenden. Die Geschichte der Revolution in Nord- und Ostsyrien, aber auch Kurdistan im Ganzen, ist die Geschichte einer gesellschaftlichen Revolution, in der alle Teile der Gesellschaft sich gegen die besetzenden Staaten auflehnen und ihre Unterdrückung nicht länger akzeptieren. Es ist auch die Geschichte einer Gesellschaft, die sich ökonomischer und politischer Unterdrückung entledigt und, seit dem Paradigmenwechsel, gesellschaftliche Organisierung an die Stelle staatlicher Verwaltung und Unterdrückung setzt. Der Kampf der kurdischen Befreiungsbewegung war und ist bis heute ein Kampf der Gesellschaften in Mesopotamien um ihre selbstbestimmte Zukunft. Dieser Kampf war und ist bis heute ein Kampf, der vor allem von zwei gesellschaftlichen Gruppen vorangetrieben wird. Gerade die Frauen, sowie die Jugend, haben in den letzten Jahrzehnten gegen die Nationalstaaten und ihre Unterdrückung gekämpft und die dabei entstandenen Errungenschaften verteidigt.

Von Anfang an war die kurdische Befreiungsbewegung eine Bewegung der Jugend

Waren in den Gründungsjahren Frauen noch immer eher schwach vertreten, so waren es aber durchweg Jugendliche, die sich mit dem Zustand und der Situation ihrer Gesellschaften auseinandersetzten und die Notwendigkeit erkannten, dem genozidalen System des türkischen Nationalismus eine revolutionäre Organisierung entgegenzusetzen. Sie besaßen auch den Mut und die Entschlossenheit, es nicht bei einer Analyse zu belassen, sondern in der Praxis den revolutionären Kampf voranzutreiben.

Dies ist bei weitem kein Alleinstellungsmerkmal des revolutionären Prozesses in Kurdistan. Überall auf der Welt sind Frauen und Jugendliche immer an vorderster Front in revolutionären Prozessen aktiv gewesen und haben diese entscheidend beeinflusst, sei es in Russland 1917, in der 68er-Bewegung, rund um den Globus, seit 1994 in Chiapas oder heute bei den Aufständen in Lateinamerika und an anderen Orten auf der Welt. Aber dennoch ist die Jugend ein Faktor, der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Revolution in Mesopotamien zieht und der leider von vielen immer wieder übersehen wird.

Die revolutionäre Jugend und ihre Rolle in der Revolution verstehen

Als internationalistische Jugendliche aus Europa hatten wir im Frühjahr dieses Jahres die Möglichkeit, die befreiten Gebiete in Nord- und Ostsyrien zu besuchen und die Revolution direkt zu erleben, die uns allen, und Millionen Menschen im Nahen Osten und rund um den Globus, neue Hoffnung auf Freiheit gegeben hat. Für uns alle war es das erste Mal, vor Ort mit eigenen Augen die Errungenschaften der Revolution zu sehen, zu der wir teilweise seit Jahren hier in Europa arbeiten. Das Ziel unserer Reise war es nicht, nur die Revolution besser kennenzulernen, sondern insbesondere auch, die revolutionäre Jugend und ihre Rolle in der Revolution besser zu verstehen. Diese Revolution, die sich in ihrem elften Jahr befindet, hat neue Hoffnung gegeben in einer Welt, in der die Mächtigen vom »Ende der Geschichte« erzählen und in der seit dem Anfang der Neunzigerjahre viele revolutionäre Bewegungen nach dem Ende des Realsozialismus ihren Kampf aufgegeben haben und verschwunden sind. Und weil sie uns so eine Hoffnung gibt, müssen wir uns als Jugend im Herzen des Kapitalismus fragen: Was macht diese Bewegung anders? Warum ist sie zu Dingen in der Lage, von denen die progressiven Bewegungen in unseren Heimatländern nicht zu träumen wagen? Was können wir lernen? Was müssen wir lernen? Welche Dinge können und müssen gerade wir als Jugend von der Jugend vor Ort lernen? Um diese Fragen zu beantworten, oder zumindest Ansätze von Antworten zu finden, haben wir in unserer Zeit in Nordostsyrien sowohl eine Tour durch verschiedene Städte gemacht und dabei die Jugendlichen der verschiedenen Regionen kennengelernt und interviewt als auch Zeit in der Internationalistischen Jugendkommune verbracht und an einer Bildung im Rahmen der »Şehid Hêlîn Qereçox«-Akademie teilgenommen.

In eine neue Welt einzutauchen

In den Gebieten der Revolution und der Internationalistischen Kommune anzukommen, war für viele von uns, wie in eine neue Welt einzutauchen. Zwar waren wir auch davor in Europa im Umfeld der kurdischen Freiheitsbewegung aktiv gewesen und hatten diese und ihre Arbeitsweise und Ideologie in verschiedenem Maße kennengelernt, doch war es nochmal etwas ganz anderes, die Revolution selbst und die befreiten Gebiete, von denen man in Europa immer nur hört oder mal ein Video sieht, zu sehen und den Alltag dort zu erleben.

Im Vorfeld unserer Reise war die Sicherheitslage immer wieder angespannt. Sowohl der Angriff des Islamischen Staates (IS) auf das Gefängnis in Hesekê als auch das Bombardement Mexmûrs, Şengals und Dêriks Anfang Februar waren für uns und unser Umfeld im Vorhinein wichtige Themen und Grund zur Sorge gewesen. Umso eindrucksvoller und bewundernswerter war es für uns, nach der Ankunft zu merken, dass zwar die Sicherheitslage vor Ort merklich angespannt war und gewisse Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden waren, dass allerdings auch im Lichte dieser Angriffe die Menschen ihrem Alltag nachgingen oder oft gerade wegen dieser Angriffe aktiv geworden waren und sich beispielsweise an der Bekämpfung des IS-Aufstands in Hesekê beteiligt hatten. Gerade die Jugend hatte, wie uns gesagt wurde, sich daran beteiligt und, zum Schutz der Bevölkerung der Stadt, Checkpoints und Kontrollstellen errichtet. Und das nicht nur in Hesekê, wo der Großteil der Kämpfe stattfand, sondern auch in anderen kleineren Orten, in denen die Jugend so ihre eigenen Städte und Gemeinschaften vor möglichen Angriffen der geflohenen IS-Kämpfer beschützten. Und auch der Fakt, dass unsere Reise vor Ort weiter geplant wurde, als sie in unseren Augen angesichts der Angriffe auf der Kippe stand, ist rückblickend vielleicht ein gutes Beispiel für eine der wichtigsten Eigenschaften dieser Revolution, die uns noch viele Male auf unserer Reise in verschiedenen Formen begegnet ist: weiter zu planen, weiter zu blicken, weiter zu machen und weiter zu kämpfen – auch wenn es danach aussieht, als stehe der Plan auf der Kippe. Denn hätten die Menschen dieser Region in den vergangenen Jahrzehnten immer dann aufgehört weiterzukämpfen, wenn die Situation nicht hundertprozentig positiv für sie aussah, dann wäre die Region heute nicht dort, wo sie heute ist. Dann hätte die gesellschaftliche Entwicklung nie den Stand erreichen können, den sie heute erreicht hat, und vermutlich wäre die Revolution in Rojava nie zustande gekommen.

Aber nicht nur die Sicherheitslage war für uns eine neue Situation. Neu war für uns auch die andere Kultur und das Realisieren, endlich an dem Ort zu sein, von dem wir schon so viel gehört hatten und der uns so viel Hoffnung gibt.

Ein Raum, um den eigenen Horizont zu erweitern

Bereits in den ersten Tagen unseres Aufenthaltes wurde uns deutlich, wie sehr sich dieser Ort von Europa unterscheidet und wie sehr der Ort, an dem wir uns aufhalten, auch Einfluss auf unsere Gedanken und Diskussionen hat. Es war gut, außerhalb von Europa zu sein und mit den Genoss:innen dort über die Situation in Europa zu sprechen. Darüber, welche Schritte notwendig sind und was aktuell gut beziehungsweise eher schlecht läuft, welchen Einfluss der zu diesem Zeitpunkt frisch ausgebrochene Ukraine-Krieg auf den Rest Europas, aber auch auf den Nahen Osten haben würde. Dies hat uns klargemacht, wie eingeschränkt unsere Analysefähigkeit oft an einem Ort ist, an dem wir 24/7 von Nachrichten, Internet und Social Media umgeben sind und an dem wir keine Zeiten haben, in denen wir nicht mit Information bombardiert werden. Nur ein- oder zweimal die Woche Internet zu haben, trotzdem mitzubekommen, was in der Welt passiert, aber unsere eigenen Gedanken dazu formen zu können und ausgehend davon miteinander zu diskutieren, war eine unerwartete und wertvolle Erfahrung. Auch die Perspektiven aus der Region selbst, aber auch die Perspektiven der Genoss:innen aus verschiedenen anderen Ländern in den Diskussionen präsent zu haben, hat unseren Horizont erweitert, der in Europa oft sehr begrenzt bleibt.

Newroz in Dêrik

Bevor wir zu der bereits erwähnten Tour durch Nord- und Ostsyrien aufbrachen, hatten wir die Gelegenheit, die Newroz-Feierlichkeiten in Dêrik zu begleiten, sowohl das Feuer am Vorabend als auch die zentrale Feier am 21. März selbst.

Die Feier am Vorabend war vor allem durch ihren sehr jugendlichen Charakter geprägt, da die Revolutionäre Jugendbewegung (Tevgera Ciwanên Şoreşger) sehr stark präsent war und auch gemeinsam das traditionelle Newrozfeuer entzündete.    Auch waren es vorwiegend Jugendliche, die den Abend über ums Feuer tanzten und feierten.

Die Feier am 21. war dann deutlicher von allen gesellschaftlichen Gruppen besucht. Mehrere tausend Menschen kamen aus der Stadt nach außerhalb, um gemeinsam das traditionelle Neujahr zu begehen. Viele Familien kamen mit eigenen Grills und Zelten zu der Feier, sodass während der Pause des Programms auf der Bühne der Rauch von hunderten Grills und der Geruch des darauf zubereiteten Essens die Szenerie bestimmten. Neben Musik wurden auch Reden gehalten und kleinere Theaterstücke aufgeführt. Vor der Bühne wurde durchgehend getanzt, wobei sich neben der Jugend gerade auch ältere Personen hervortaten, die bis vor zehn Jahren ihr gesamtes Leben lang das Neujahrsfest ihrer Kultur nicht oder nur versteckt hatten feiern können und für die es deshalb immer etwas Besonderes bedeutet, offen Newroz zu feiern und damit auch die eigene Kultur und Existenz als Volk zu feiern. Den Aspekt des Newroz-Festes als kulturelles Fest des Widerstandes spiegelte auch eine Tanzgruppe wider, die aus Vertriebenen aus Efrîn bestand. Sie mussten 2018 infolge der türkischen Invasion und Besatzung ihre Heimat verlassen und ließen sich im Kanton Cizîrê nieder. Dort fanden sie sich nicht nur als Gemeinschaft wieder, sondern hielten auch durch das Tanzen ihre eigene Efrîn-spezifische Kultur am Leben, die, genauso wie die Menschen, durch die türkische Armee angegriffen und seit 2018 systematisch vernichtet wurde.

Bildungsarbeit für Jugendliche

Während der Tour besuchten wir Qamişlo, Hesekê, Raqqa, Tabqa, Kobanê, Minbic und das Frauendorf Jinwar. In den verschiedenen Städten stand neben ihrer Besichtigung vor allem das Treffen mit der Jugend im Vordergrund. Die Jugendlichen in den verschiedenen Regionen mit ihren verschiedenen Geschichten und Erfahrungen kennenzulernen, war in jeder der Städte etwas sehr Besonderes und hat uns allen klargemacht, mit welchen Herausforderungen und Schwierigkeiten sie in der Vergangenheit konfrontiert gewesen waren. Aber es zeigte auch, mit welcher Haltung sie es geschafft haben, diese Situationen zu überwinden, und welche Opfer sie bringen mussten, um sich selbst daraus zu befreien. In Tabqa zum Beispiel konnten wir mit Jugendlichen reden, die selbst an der Befreiung ihrer Stadt beteiligt waren und die bis heute an den Jugendarbeiten teilnehmen und dafür sorgen, dass sich Drogen, aber zum Beispiel auch die Ideologie des sogenannten Islamischen Staat (IS) nicht wieder in der Stadt verbreiten. Um dies zu erreichen, ist hier auch die Arbeit der jungen Frauen elementar. Wir hatten die Gelegenheit, eines ihrer Zentren in Tabqa zu besuchen, in dem zur gleichen Zeit ein Ausbildungskurs für junge Frauen zur Krankenpflegerin stattfand. Ziel dieser Kurse ist es, Frauen von ihrer Familie finanziell unabhängig zu machen, um sie so vor Zwangsheirat und anderen patriarchalen Praktiken innerhalb der Familien zu schützen. Schon der Prozess, die jungen Frauen in diese Ausbildungsprogramme zu bekommen, ist oft eine Herausforderung für sich, wie uns eine Mitarbeiterin des Zentrums erzählte. Oft brauche es mehrere Besuche bei der Familie und viel Geduld und Überzeugungsarbeit, bis Familien ihre Töchter an diesen Programmen teilnehmen lassen. Allerdings wird dies auch als ein integraler Teil der Arbeit betrachtet. Nicht nur die Frauen sollen unabhängiger und selbstständiger werden, es sei auch wichtig, dies dem Rest der Gesellschaft, der teilweise von sehr konservativen Weltbildern geprägt ist, zu vermitteln und ihn auf den Weg der Veränderung mitzunehmen.

Dass diese Veränderungen stattfinden und auch von weiten Teilen der Gesellschaft angenommen werden, lässt sich sehr gut in Minbic beobachten, das vermutlich auch genau deswegen von Erdoğan als Ziel für eine neue Invasion benannt wurde. Minbic liegt wie Tabqa westlich des Euphrats (kurd Firat) und etwa 50 Kilometer südwestlich von Kobanê. Die Stadt ist seit jeher die Heimat vieler verschiedener Ethnien. Heute leben hier Kurd:innen, Araber:innen, Tscherkess:innen, Turkmen:innen, Armenier:innen und Assyrer:innen zusammen, was sich auch auf den Schildern der autonomen Administration in der Stadt widerspiegelt, die allesamt in vier bis fünf Sprachen gehalten sind. In unseren Gesprächen mit den Jugendlichen vor Ort wurde klar, wie sehr das Ausleben der eigenen Kultur ein elementarer Teil der Jugendarbeiten ist. Obwohl alle Völker der Stadt ihre eigene Kultur haben und diese auch offen leben und zeigen und als wichtigen Teil ihrer Identität beschreiben, unterstützen sich die verschiedenen Ethnien im Ausleben ihrer jeweils eigenen Kultur, anstatt sie zu ignorieren oder gegeneinander auszuspielen. Vor der Revolution sei es oft so gewesen, dass bei Problemen das syrische Regime einfach eine der Ethnien der Region für das Problem verantwortlich gemacht habe, um sich selbst zu schützen. Auch sollten so die verschiedenen Ethnien in der Stadt dauernd im Streit gehalten werden, damit sich kein Widerstand gegen das Regime formieren konnte. Heute hielten die Ethnien viel eher zusammen und die Diversität der Stadt sei ein Faktor der Stärke und die Kooperation der Völker der einzige Weg in eine Zukunft in Frieden. Am 24. Mai kündigte Erdoğan an, neben Til Rifat auch Minbic in einer neuen Invasion angreifen und besetzen zu wollen, obwohl beide Regionen keine Grenze mit der Türkei haben und außerhalb der »30-Kilometer-Sicherheitszone« liegen, die Erdoğan sonst immer als Argument für seine Angriffe heranzieht. Dass diese beiden Regionen nun im Visier der Türkei stehen, liegt vor allem an ihrer wichtigen Leuchtkraft für die gesamte Region. Minbic ist die Stadt, die im Kleinen beweist, was Nord- und Ostsyrien seit zehn Jahren der Welt zeigen: Ein demokratisches Zusammenleben der Völker im Nahen Osten ist möglich und die Völker sind bereit dafür. Minbic beweist auch, dass es sich bei der Revolution nicht um ein kurdisch-nationalistisches Projekt handelt mit dem Ziel, andere Ethnien der Region zu vertreiben oder zu unterjochen, wie es oft von türkischer Seite propagiert wird. Und weil Minbic diese Strahlkraft hat, ist es dem türkischen Staat und allen anderen Kräften, die eine demokratische Zukunft im Nahen Osten verhindern wollen, ein Dorn im Auge.

Kobanê, der erste Ort, an dem die Selbstverwaltung aufgebaut wurde

Dass die bevorstehenden Angriffe aber auch von der Jugend der Region nicht akzeptiert werden, hat sich uns bei unserem Besuch von Kobanê gezeigt. Die Stadt, die 2014 und 2015 weltweiten Ruhm durch den Widerstand gegen den IS erlangte, weist eine lange Geschichte der Widerständigkeit auf und war auch im Juli 2012 der Ort, an dem die Revolution begann, und der erste Ort, an dem die Selbstverwaltung aufgebaut wurde. Aufgrund dieser Geschichte ist auch Kobanê für den türkischen Staat ein Objekt des Hasses geworden und ist immer wieder Ziel von Drohungen und Drohnenangriffen. Für die Bevölkerung ist dies Teil des Alltags geworden, aber sie ist sich auch bewusst, welche Symbolkraft Kobanê hat und wie wichtig die Stadt nicht nur für sie selbst ist, sondern für das gesamte demokratische Projekt. In unseren Gesprächen mit den Jugendlichen wurde immer wieder klar, dass sie bereit sind, die Stadt zu verteidigen, sollte die Türkei angreifen. Sie werden sich nicht von Drohungen gegen die Stadt vertreiben lassen, frei nach dem Motto: »Wir haben alles gegen den IS gegeben, wir werden auch alles gegen die türkische Armee geben, wenn sie sich traut, hierher zu kommen.« Dass sie es damit sehr ernst meinten, wurde uns klar, als wir nach unserer Rückkehr nach Deutschland ein Video aus Kobanê sahen. Dort standen die jungen Frauen, mit denen wir in Kobanê geredet hatten, den lokalen Sicherheitskräften an einem Checkpoint zur Seite, um sich auf eine mögliche Invasion der Türkei vorzubereiten.

In Kobanê hatten wir auch die Gelegenheit, den Ort eines Drohnenschlages zu besuchen, dem im Dezember letzten Jahres sechs Mitglieder der Revolutionären Jugend zum Opfer gefallen waren. In beinahe jedem Gespräch, das wir führten, wurde ihrer gedacht und auch ihre Bilder waren im Stadtbild und in den Zentren, die wir besuchten, allgegenwärtig. Den Ort selbst zu sehen, war für uns sehr bewegend. Und gleichzeitig war es beeindruckend zu sehen, welche Kraft die Jugendlichen aus der Erinnerung an ihre getöteten Genoss:innen zogen und weiterhin ziehen.

Das System verstehen, in dem wir aufgewachsen sind

Auch die Bildung, an der wir im Anschluss an die Tour teilnahmen, war diesen sechs Gefallenen gewidmet und fand in ihrem Gedenken statt.

Die Bildung, die für uns, sowie auch für die anderen Teilnehmenden, eine sehr neue Erfahrung war, gab uns die Gelegenheit, nicht nur die Geschichte der Revolution näher und detaillierter kennenzulernen, sondern dabei auch die verschiedenen Aspekte der Ideologie der Revolution näher zu beleuchten. Für uns war die Bildung auch eine Gelegenheit, das System in dem wir alle aufgewachsen sind, besser zu verstehen und uns damit auseinanderzusetzen, wie es sich in uns selbst und in unserem Charakter manifestiert: Wo wir selbst das System reproduzieren, seien es Patriarchat, staatliches Denken, Kapitalismus oder Liberalismus, der, gerade bei uns in Europa aufgewachsenen Menschen, sehr großen Einfluss auf die Charakterbildung hatte. Es war wertvoll, diese Dinge im eigenen Charakter zu entdecken und die Ehrlichkeit zu entwickeln, nicht aus Höflichkeit zu schweigen, sondern offen anzusprechen, wenn wir bei anderen sehen, wo und wie sie das System reproduzieren, das sie eigentlich bekämpfen wollen.

Dieser Prozess war für alle, die an der Bildung teilnahmen, extrem schwierig und stellenweise auch sehr schmerzhaft. Zu erkennen, wo man selbst nicht den eigenen Ansprüchen entspricht, wo man hinter dem herhinkt, was man eigentlich sein möchte, wo Liberalismus doch noch einen so großen Teil des Charakters ausmacht, ist eine Erfahrung, die neu war und in Europa oft unmöglich ist. Denn dort haben die Verbindungen zu den Menschen, mit denen man politisch arbeitet, meist nicht die Intensität oder Tiefe, um sich gewisse Dinge offen sagen zu können, ohne einen Streit vom Zaun zu brechen und die gemeinsame Organisierung zu gefährden. Wir lernten in der Bildung auch, welche Tradition gesellschaftliche Widerstände gegen Staat, Zentralisierung und Kapitalismus haben, und erkannten, dass wir in unseren Kämpfen auf den Schultern von Riesen stehen und eine große Verantwortung damit einhergeht, diese Widerstände zu verstehen, weiterzuführen und auszuweiten.

Fazit

Die Delegationsreise war für uns alle von extremer Bedeutung: die Revolution und ihre Jugend im direkten Austausch kennenzulernen, den Freiraum und die Gelegenheit zu haben, die eigene Position und Situation sowie die eigene Herangehensweise an politische Arbeit zu analysieren, zu hinterfragen und Schlüsse daraus zu ziehen. Zu sehen, welchen historischen Kampf wir mit der Revolution in Kurdistan vor uns haben, welche Opfer nötig waren, dass sie diesen Punkt erreichen konnte, welche Verantwortung daraus erwächst, sie zu verteidigen, welche Schritte noch vor uns liegen und welche Hoffnung wir aus dem Kampf ziehen können und müssen, hat uns alle in unserer Arbeit bestärkt und uns Energie gegeben, unsere Arbeiten hier intensiviert fortzusetzen.

Tim Strobel ist in der internationalistischen Jugendbewegung aktiv und war im Frühjahr diesen Jahres mit einer Delegation in Nord- und Ostsyrien.


 Kurdistan Report 223 | September/Oktober 2022