Die Türkei nach der AKP:
Die Mentalität des Sechs-Parteien-Bündnisses verstehen
Ali Devrim, Journalist aus Nordkurdistan/Osttürkei
Vor Kurzem jährte sich die Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne zum 99. Mal. Zu diesem Anlass erklärte der Vorsitzende der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu: »Wenn wir an die Macht kommen, werden wir den 24. Juli, das Datum der Unterzeichnung von Lausanne, zum offiziellen Feiertag erklären.« Für alle, die die Mentalität des Sechs-Parteien-Bündnisses in der Türkei [oppositionelle Allianz, die die AKP-MHP-Regierung in der Parlamentswahl 2023 ablösen will] verstehen möchten, ist diese Aussage allein schon mehr als ausreichend, um zu erkennen, dass diese Einstellung keine demokratische, sondern eine streng nationalstaatliche ist.
Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an ein oft zitiertes Wort Johann Wolfgang von Goethes: »Wer nicht von dreitausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben.« Man muss also zumindest die letzten einhundert Jahre der politischen Geschichte eines Landes kennen, um dessen Tagespolitik zu verstehen. Es ist eine Grundkrankheit und Perversion des Liberalismus, Ereignisse, Fakten, Politik und Entwicklungen nur im Hinblick auf die Gegenwart zu analysieren und zu bewerten. Bevor wir die Geschichte und das politische Verständnis der einzelnen Parteien des Sechs-Parteien-Bündnisses und ihrer Vorsitzenden genauer betrachten, wollen wir zunächst kurz die Grundlagen verdeutlichen, auf denen der türkische Staat und die Politik in der Türkei fußen.
Der Vertrag von Lausanne
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde die politische Landkarte des Mittleren Ostens, einschließlich der Türkei, von den Hegemonialmächten durch den Vertrag von Lausanne neu gestaltet. Die Gründung des türkischen Staates wurde von diesem Abkommen stark geprägt. Mit ihm schuf er ein monistisches System, das auf einer einzigen ethnischen Gruppe (dem Türkentum) basierte, alle anderen Volksgruppen, Glaubensrichtungen, Konfessionen und Identitäten ignorierte und den Völkermord an Armeniern, Assyrern, Suryoye, Kurden und anderen ethnischen Gruppen und deren Assimilierung legitimierte. Warum akzeptierten die internationalen kapitalistischen Hegemonialmächte dies damals? Zunächst einmal müssen wir die Tatsache anerkennen: Es hat durchaus seine Berechtigung, die damals in der Kultur des Mittleren Ostens errichteten Nationalstaaten als die konzentriertesten Agenteninstitutionen des hegemonialen Nationalstaates zu betrachten. So lässt sich beispielsweise die Existenz von zweiundzwanzig arabischen Miniatur-Nationalstaaten nur mit den Interessen des hegemonialen Nationalstaates erklären. Eine andere Deutung gibt es schlichtweg nicht. Die Existenz der Republik Türkei, dieses osmanischen Überbleibsels, wurde erst anerkannt, als sie akzeptierte, ein Miniatur-Nationalstaat zu werden. Ohne dies hinzunehmen, hätte sie nicht entstehen können.
Wir können ein Phänomen bei seiner Bewertung nicht losgelöst von Zeit und Raum betrachten. Welche zeitlichen und räumlichen Faktoren also waren wirksam, als mit dem Vertrag von Lausanne der Grundstein für den türkischen Staat gelegt wurde? Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Kapitalismus in eine tiefe Systemkrise geriet, provozierten die Kräfte der kapitalistischen Moderne den Ersten Weltkrieg – den ersten globalen Aufteilungskrieg –, um diese Krise zu überwinden. Mit dem Krieg wurde das Leben für alle Völker der Welt, die bereits unter sehr schwierigen Bedingungen zu überleben versuchten, unerträglich. Aus diesem Grund waren sie auf der Suche nach einer Alternative zum kapitalistischen System. Eine Antwort auf diese Suche war die auf der sozialistischen Ideologie basierende Sowjetrevolution (1917), die sich in kurzer Zeit ausbreitete und zur Hoffnung der Völker dieser Welt wurde. Von den führenden Mächten der kapitalistischen Moderne wurde sie entsprechend als große Gefahr für das kapitalistische System angesehen, die es unbedingt abzuwenden galt. Diese Revolution im zaristischen Russland durfte unter keinen Umständen auf den Mittleren Osten übergreifen – eine Region, die das größte Kolonialgebiet des von Großbritannien geführten kapitalistischen Systems darstellte.
Wichtiges Tor zum Nahen Osten
In der Türkei, damals noch in der Gründungsphase, entstanden kommunistische Volksparteien, die gegen den britischen Kolonialismus und dessen Zumutungen Beziehungen mit den Sowjets aufnahmen. Geografisch gesehen bildete die Türkei sowohl für das kapitalistische als auch das sowjetische System das wichtigste Tor zum Nahen Osten. Mit anderen Worten, sie ist seit jeher ein geostrategisch sehr bedeutendes Land. Daher verstand Großbritannien es als förderlich für seine eigenen Interessen, eine monistische und monopolistische nationalstaatliche Türkei gegen die pluralistische und kollektive Struktur des Sozialismus aufzubauen. Warum also zogen die türkischen Machthaber den Monismus dem Pluralismus, den Kapitalismus dem Sozialismus vor?
Als das Osmanische Reich besetzt und zerschlagen wurde, strebten die Türken, die unter der Führung des Komitees für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki) diese Besatzung bekämpften, zunächst einen monistischen Nationalstaat an. Mit anderen Worten: Ihre Vorstellungen und ihre Mentalität waren nicht der Pluralismus, sondern die Schaffung eines türkischen Heimatlandes, das nur aus Türken bestehen würde. Parallel kam es zu Aufständen der Kurden, die an der türkischen Seite auch gegen Kolonialismus und Besatzung gekämpft hatten und die jetzt ihre Rechte einforderten. Den Türken allein fehlte jedoch die Macht, die Aufstände zu unterdrücken. Damals wurde öffentlich über die Rechenschaftspflicht für den Völkermord an den Armeniern, Suryoye und Assyrern und über die Rechte dieser Völker diskutiert. Darüber hinaus war die wirtschaftliche Lage der Türkei in ihrer Gründungsphase sehr schlecht. Aus diesen Gründen bevorzugte die im Entstehen begriffene Bourgeoisie der Türkei einen Nationalstaat unter der Führung Englands. Dieses wiederum legitimierte im Gegenzug alle genozidalen Verbrechen der Türkei und ebnete den Weg für neue Völkermorde, indem es die notwendige Unterstützung leistete. So wurde die Politik der Türkei bereits in der Gründungsphase monistisch, monopolistisch und unter britischer Führung geprägt. Dies wurde damals schon von der CHP verkörpert, der einzigen Partei des Landes. Als Nachfolgerin des Komitees für Einheit und Fortschritt übernahm sie die Aufgabe, die nicht zu Ende gebrachten Völkermorde zu vollenden. Von Şêx Seîd (Scheich Said) bis Sey Rıza (Seyit Riza), von Qoçgirî bis Agirî wurden alle Aufstände für die Rechte und die Freiheit der Kurden gewaltsam niedergeschlagen, und es wurde aktiv versucht, den Völkermord an ihnen zu vollenden.
Zweiter Weltkrieg
Im Zuge des zweiten globalen Aufteilungskrieges (1939–1945) wurden die alten Gleichgewichte und Politiken zerstört und an ihrer Stelle neue entwickelt. 60 Millionen Menschen verloren in diesem Krieg ihr Leben und auch das monistisch-starre nationalstaatliche Verständnis des Kapitalismus wurde dabei zerstört. Als Folge wurde die Ideologie des Sozialismus, die sich als Alternative herauskristallisierte und in der Sowjetunion praktiziert wurde, zur ersten Wahl für immer mehr Völker, und in allen Ecken der Welt, von China bis Kuba, von Vietnam bis Lateinamerika, wurden sozialistische Volksbewegungen ins Leben gerufen. Mit diesem Krieg verlagerten sich das Zentrum und die Führung des hegemonialen kapitalistischen Systems in die USA, da die europäischen Länder ihre materiellen und menschlichen Ressourcen in hohem Maße verschwendet hatten. Europa gelang es damals, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen und zu überleben, indem es ein pluralistischeres und bürgerlich-demokratisches System (durch den Aufbau der Europäischen Union) auf der Grundlage der sozialdemokratischen Ideologie – einer Perversion des Sozialismus – entwickelte. Und zwar indem die zerstörerischen Folgen der monistisch-starren nationalstaatlichen Mentalität in Frage gestellt wurden. In diesem Prozess verwandelte auch die Türkei unter dem Druck Europas ihr Einparteiensystem (mit der CHP als einziger Partei) in ein Mehrparteiensystem (1946) und bemühte sich um gewisse Reformen.
Die Türkei als strategisch wichtigster Außenposten der NATO
Da die kapitalistischen Machtzentren erkannten, dass diese europäischen Anstrengungen allein nicht gegen die sich entwickelnden sozialistischen Revolutionen der Völker ausreichen würden, gründeten sie die NATO als Militärmacht (4. April 1949) und Gladio als Geheimdienst- und Guerillatruppe, die keinem Gesetz unterstellt war (1952, ursprüngl.: Allied Coordination Committee, aufgebaut von CIA und MI6). Westdeutschland wurde Hauptzentrum von Gladio gegen den Sowjetblock, die Türkei zum strategisch wichtigsten Außenposten der NATO. In diesem Rahmen wurden Hunderte von Atomsprengköpfen auf türkischem Staatsgebiet stationiert (noch heute lagern allein auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik 90 B61-Atombomben). Im Jahr 1950 brach der Koreakrieg aus, und obwohl die Türkei nicht Mitglied der NATO war, entsandte sie unter deren Schirm Truppen nach Korea. Erst 1952 wurde sie selbst Mitglied und im selben Jahr wurden auch umgehend türkische Gladio-Strukturen aufgebaut. Die türkische Gladio wurde 1952 unter dem Namen »Spezial- und Unterstützungskampfeinheiten« (Hususi ve Yardımcı Muharip Birlikleri) gegründet, 1953 in »Mobilisierungsuntersuchungsausschuss« (Seferberlik Tetkik Kurulu), 1970 in »Abteilung für besondere Kriegsführung« (Özel Harp Dairesi) und schließlich 1992 in »Kommando Spezialkräfte« (Özel Kuvvetler Komutanlığı) umbenannt. In diesem Rahmen wurden zahlreiche Personen des politischen Lebens in der Türkei, darunter Alparslan Türkeş (der später den Militärputsch vom 27. Mai 1960 mitorganisierte, die Partei der Nationalistischen Bewegung MHP gründete und bis zu seinem Tod ihr Vorsitzender war) und Deniz Baykal (der spätere Vorsitzende der CHP), in den USA ausgebildet, um die türkische Gladio zu organisieren.
Wir erwähnen das alles, weil die türkische Staatsstruktur und Politik seither nach den Bedürfnissen von NATO und Gladio gestaltet werden. Dementsprechend wurde ungefähr alle zehn Jahre offen oder verdeckt geputscht, um Staat, Politik und Gesellschaft zu formen, um die Entwicklung der linkssozialistischen Bewegungen und den Kampf für Demokratie, insbesondere die Forderung der Kurden nach Freiheit, zu verhindern, zu unterdrücken und zu liquidieren und um die Regierungen zu bestrafen, denen es nicht gelungen war, diese emanzipatorischen Entwicklungen zu verhindern. Deshalb können wir klar und deutlich feststellen: In der Türkei herrschen seither Verhältnisse, in denen jeder – vom Präsidenten bis zum Ministerpräsidenten, vom Unterstaatssekretär des Geheimdienstes (MIT) bis zum Befehlshaber der Armee, von den Ministern bis zu den Kommandoangehörigen, von den Vorsitzenden der politischen Systemparteien bis zur Leitung der wichtigen staatlichen Institutionen – entweder direkt von der türkischen Gladio oder mit ihrer Billigung bestimmt wird. Deren Vertreter in Politik und Parlament sind seit jeher die CHP und die MHP. Nach dem NATO-Beitritt der Türkei wurde die CHP mit der Aufgabe betraut, linkssozialistische und demokratische Gruppen, insbesondere Aleviten und Kurden, in das System einzubinden und dort zu halten. Aus diesem Grund sind viele alevitische und linkssozialistische Bewegungen und Gruppen von ihrer ursprünglichen Politik abgewichen und haben eine türkisch-sozialchauvinistische Linie übernommen.
Seit ihren Anfängen, seit ihr Grundstein mit Lausanne gelegt wurde, bestehen in der Türkei zwei politische Linien. Die eine ist die offizielle staatliche Ideologie, das monistische, türkische, monopolistische, starre Nationalstaatsverständnis (religiös, konservativ, rechts, klassisch links, sozialdemokratisch, liberalistisch usw.). Bei der anderen handelt es sich um die pluralistischen, libertären, demokratischen Volksbewegungen (Kurden, Aleviten, volksnahe, linkssozialistische, demokratische Kräfte), die sich gegen die Erstere richten. Wichtig ist zu erkennen, dass jeder der Parteien des Sechser-Bündnisses die offizielle Staatsideologie zugrunde liegt.
Auflösung der Sowjetunion
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion beschlossen die europäischen Länder, ihre eigenen Gladio-Strukturen aufzulösen, denn sie hatten in der Zwischenzeit einen mafiösen Charakter angenommen, sich zu kriminellen Vereinigungen entwickelt und waren aktiv an der Korrumpierung von Staat und Gesellschaft beteiligt. Doch die türkischen Gladio-Strukturen wurden damals nicht angetastet. Im Gegenteil, sie wurden noch stärker unterstützt und erweiterten ihren Einfluss beträchtlich. Denn die kurdische Freiheitsbewegung, die die Fahne des Sozialismus, das Symbol des Widerstands der Völker, vom 20. ins 21. Jahrhundert trug, hatte zu Beginn der 1990er Jahre enorm an Stärke gewonnen und drohte dementsprechend den türkischen Staat zum Einsturz zu bringen. Darüber hinaus wurde die Türkei nach der Auflösung des Sowjetblocks als neuer zentraler Stützpunkt für NATO und Gladio verstanden, da der Mittlere Osten das neue Interventionsfeld des kapitalistischen Systems darstellte. Für eine umfassende Intervention in der Region mussten zunächst die Wege freigeräumt und alternative Kräfte liquidiert werden. An erster Stelle stand dabei die Freiheitsbewegung Kurdistans. Doch der türkische Staat war an einem Punkt angelangt, an dem er ihr deutliche Zugeständnisse machen musste. Der damalige türkische Staatspräsident Turgut Özal rief dementsprechend zu einem Waffenstillstand und zur Problemlösung durch politischen Dialog auf. Genau in dieser Zeit kamen die Gladio-Strukturen der NATO denen der Türkei zu Hilfe.
17.000 ungeklärte Morde von 1993 bis 1999
Mit der Ermordung von General Eşref Bitlis, dem Generalkommandanten der Gendarmerie, im Jahr 1993 und dem fragwürdigen Tod von Präsident Özal unmittelbar danach wurde in der Türkei ein Liquidationsprozess eingeleitet: 17.000 ungeklärte Morde (staatlicher Täter) von 1993 bis 1999, hauptsächlich an kurdischen Intellektuellen und Patrioten. Nach dem Vorbild US-amerikanischer Aufstandsbekämpfung wurde der Notstand in Nordkurdistan (Osttürkei) ausgerufen, 4000 Dörfer wurden zerstört, zwei Millionen kurdische Patrioten in die türkischen Metropolen deportiert und alle möglichen illegalen Methoden eingesetzt, um die Guerilla zu zerschlagen. Dieser Prozess sollte mit dem internationalen Komplott gegen den Repräsentanten des kurdischen Volkes Abdullah Öcalan abgeschlossen werden, der am 9. Oktober 1998 begann und in seiner Gefangennahme am 15. Februar 1999 mündete. 1993, als dieser Prozess eingeleitet wurde, wurde Süleyman Demirel, ein Gladio-Mitglied, zum Präsidenten der Republik ernannt. Zeitgleich wurde Tansu Çiller zur Premierministerin, Doğan Güreş zum Generalstabschef und Mehmet Ağar, der spätere Innenminister, zum Chef der allgemeinen Sicherheit. Als Ağar 1996 vom Posten des Innenministers zurücktrat, nachdem seine schmutzigen Machenschaften aufgedeckt worden waren, wurde Meral Akşener zur Innenministerin ernannt. Ihre Aufgabe war es, die von Ağar unvollendet gelassene Arbeit zu vollenden. Viele Jahre später, als Akşener aus der MHP austrat und die İYİ-Partei gründete (2017), verteidigte sie auf die Frage eines Journalisten nach den unaufgeklärten Morden während ihrer Amtszeit als Innenministerin diese Verbrechen offen mit den Worten: »Ich stehe hinter diesem Prozess.«
Modell des gemäßigten Islams
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wurde das starre Nationalstaatensystem, insbesondere im Mittleren Osten, zunehmend als Hindernis für das internationale Kapital betrachtet, und das kapitalistische System strebte eine Neugestaltung der Nationalstaaten auf der Grundlage der neoliberalen Ideologie an. Seit ihrer Gründung stellt die Türkei für die kapitalistischen Mächte ein Modell des Systems dar, das sie im Mittleren Osten entwickeln wollen. Das Modell des gemäßigten Islams, das im Rahmen des »Greater Middle East Project« in der Region gefördert werden sollte, wurde mit der Machtergreifung der AKP im Jahr 2002 erstmals in der Türkei in die Praxis umgesetzt. Die Freiheitsbewegung Kurdistans wurde in diesem Kontext als das größte Hindernis gesehen, und es wurde folglich versucht, sie zu beseitigen. Als die AKP versuchte, alle Institutionen des Staates, insbesondere Gladio und Armee, für das angestrebte neue Modell umzugestalten, stieß sie auf den Widerstand der starren, monistischen nationalstaatlichen Traditionen.
Während dieser Widerstand mit den Ergenekon-Prozessen gebrochen wurde, unterstellte man MHP und CHP – den Vertreterinnen dieser Staatstradition in Parlament und Politik – »Bandenverschwörung«. Die führenden Kader und Führungskräfte der MHP wurden abgesetzt und die Partei unter der Führung von Devlet Bahçeli wurde der AKP untergeordnet. In der CHP wurde im gleichen Zuge Deniz Baykal durch den neuen Parteivorsitzeden Kemal Kılıçdaroğlu ersetzt. Zuvor hatten große Teile der Gesellschaft, insbesondere Aleviten, Liberale, Sozialdemokraten und Intellektuelle, die Hoffnung auf die CHP verloren und begannen, sich der von der kurdischen politischen Bewegung angeführten demokratischen Front zuzuwenden. Genau als dies geschah, wurde Kılıçdaroğlu, ein Kurde aus Dersim und Alevit, ins Boot geholt, um diese verschiedenen Kreise wieder in die CHP zu locken und damit im System zu halten, was bis zu einem gewissen Grade auch gelang. Nachdem er den CHP-Parteivorsitz übernommen hatte, kehrten diese Gruppen weitgehend wieder in die CHP zurück. Aleviten, Liberale, Intellektuelle, Demokraten usw. innerhalb der CHP und die CHP-Basis übten starken Druck auf die Partei aus, um ein Bündnis mit der von der kurdischen politischen Bewegung geführten demokratischen Front gegen die faschistische Politik der AKP zu schließen. Doch es ist der nationalistische Flügel, der die Politik der CHP bestimmt. Obwohl sich Kılıçdaroğlu ihrem Druck widersetzte, zeigte sich die CHP-Basis bei den Wahlen am 1. Juni 2015 bis zu einem gewissen Grade solidarisch, damit die Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht an der 10%-Hürde scheiterte, und setzte ihren Parteivorsitz unter Druck.
Genau in diesem Prozess, als die CHP keine andere Wahl hatte, als sich mit der demokratischen Front zu verbünden, wurde mit großem Tamtam die İYİ-Partei unter Meral Akşener gegründet, um die CHP vor diesem Schritt zu bewahren und die heftigen Brüche in AKP und MHP unter einem neuen Dach aufzufangen. Alle Gründungskader und Führungskräfte der İYİ-Partei sind türkische Nationalisten, die die MHP verlassen haben. Die CHP ging sofort ein Bündnis mit der İYİ-Partei ein, wodurch sich der Druck auf sie selbst abschwächte. Kılıçdaroğlu (CHP) und Akşener (İYİ) sind seither die Hauptakteure im Sechs-Parteien-Bündnis.
Plan zur Zerschlagung der kurdischen Bewegung
Ahmet Davutoğlu, ein weiteres Mitglied dieser Allianz, begann seine politische Tätigkeit 2009 als Außenminister der Türkei, wurde 2014 zum Ministerpräsidenten gewählt und trat die Nachfolge von R. T. Erdoğan als Vorsitzender der AKP an, als dieser Staatspräsident wurde. Während seiner Amtszeit als Premierminister übernahm er die praktische Umsetzung eines Plans zur Zerschlagung der kurdischen Bewegung. In diesem Rahmen reagierte er auf den von der kurdischen Bevölkerung entwickelten Selbstverwaltungswiderstand 2015/16, indem er die Städte bzw. Stadtteile, in denen sich der Widerstand entwickelte – insbesondere Silopiya, Cizîr und Sûr –, zerstören, die Menschen in Kellern bei lebendigem Leibe verbrennen und schreckliche Massaker anrichten ließ, ohne Rücksicht auf Zivilisten, Frauen und Kinder. Als er angesichts dieses Widerstands nicht den nötigen Erfolg vorweisen konnte, wurde er von seinen Aufgaben als Ministerpräsident und AKP-Vorsitzender entbunden und aus der Partei ausgeschlossen. Eines der Hauptziele des Plans war die Zerstörung der politischen Errungenschaften der Kurden und der demokratischen Front. Auf dieser Grundlage wurde unter Premier Davutoğlu mit Unterstützung der CHP die Verfassung geändert und die Immunität der HDP-Abgeordneten aufgehoben. Dutzende von ihnen, insbesondere die Ko-Vorsitzenden der HDP, Hunderte ihrer Führungskräfte und Bürgermeister, Tausende von Mitarbeitern und Anhängern wurden verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Die Verfassungsänderung konnte damals nur mit Unterstützung der CHP vorgenommen werden, da die Zahl der AKP-MHP-Abgeordneten nicht ausreichte. Was erneut zeigt, dass die CHP seit ihrer Gründung die Partei des monistischen türkischen Nationalstaats ist.
Ali Babacan, ein weiteres Mitglied des Sechser-Bündnisses, ist Großkapitalist. Es wäre nicht falsch zu sagen, dass er seit Beginn der 2000er eine der wichtigsten Stützen des internationalen Kapitals in der Türkei ist. Er spielte eine aktive Rolle bei der Gründung der AKP, sowohl als Gründungsmitglied als auch als Mitglied der Parteiführung, um eine neoliberale Politik in der Türkei durchzusetzen. Von 2002 bis 2015 war er Wirtschaftsminister, Außenminister, stellvertretender Ministerpräsident und Staatsminister. Als er sich im Konflikt zwischen R. T. Erdoğan und Abdullah Gül auf die Seite von Gül schlug, wurde er nach 2015 von Erdoğan an den Rand gedrängt, indem er keine Aufgabe erhielt, und verließ 2019 die AKP.
Temel Karamollaoğlu, der Vorsitzende der Partei der Glückseligkeit (Saadet Partisi), ist der wahrscheinlich bekannteste Name des Sechser-Bündnisses. Während seiner Zeit als Bürgermeister von Sivas (als Mitglied der Wohlfahrtspartei/Refah Partisi) beteiligte er sich 1993 aktiv am dortigen Massaker [bei einem Pogrom eines religiös-nationalistischen Lynch-Mobs gegen ein alevitisches Festival im Madımak-Hotel wurden 37 Menschen ermordet]. Dort wurde er von den versammelten Angreifern als »Mudschahid« (Kämpfer) begrüßt und wandte sich an die Menge: »Lasst uns doch einmal eine Fatiha [die Eröffnungssure des Koran] sprechen, die Fatiha für ihre Seelen. Möge dein Krieg gesegnet sein«, und erteilte Anweisungen. Nach seiner aktiven Rolle beim Sivas-Massaker wurde er in den Parlamentswahlen 1995 zum Abgeordneten gewählt, wodurch sein Gerichtsprozess verhindert wurde. Er ist derjenige, der die Unschuld der Angeklagten im Fall des Massakers von Sivas verteidigte und »die Umwandlung des Madımak-Hotels in ein ‚Museum der Schande‘« als »größten Verrat an Sivas« bezeichnete. Karamollaoğlu arbeitete von 1960 bis 1967 während seines Studiums in England als Präsident der »Türkischen Studentenvereinigung in England« und als Direktor der »Federation of Muslim Students› Associations in England«. Etliche von der türkischen Gladio organisierte Vereinigungen, wie der »Verein für den Kampf gegen den Kommunismus« und der türkische Studentenverband, waren Ausbildungszentren für die Konterguerilla. Viele Politiker und Führungskräfte, von Erdoğan bis Fethullah Gülen, von Abdullah Gül bis Devlet Bahçeli und Hulusi Akar, waren Mitglieder dieser Vereinigungen.
Auch auf die Demokratische Partei (DP), die Teil des Sechs-Parteien-Bündnisses ist, lohnt ein genauerer Blick. Sie ging 2007 aus der von den türkischen Gladio-Mitgliedern Süleyman Demirel, Tansu Çiller und Mehmet Ağar geleiteten Partei des Rechten Weges (DYP) hervor und fusionierte später mit der Mutterlandspartei (ANAP). Die von Kontra-Politikern wie Mehmet Ağar und Süleyman Soylu geführte DP kann auf eine lange Kontra-Tradition zurückblicken.
Warum haben sich diese sechs Parteien zusammengetan und was genau sind ihre Ziele? Wenn wir uns ihre oben erwähnten Hintergründe und die von ihnen vertretene Politik ansehen, so ist ihnen allen eine türkische und monistische nationalstaatliche Tradition gemeinsam. Es widerspricht der Dialektik des Lebens und der Politik, dass diejenigen mit einer so dunklen Vergangenheit für eine strahlende Zukunft sorgen könnten. Das Ziel dieser sechs Parteien ist es, den klassischen türkischen Nationalstaat zu retten, der aktuell in der Auflösung begriffen ist und kurz vor dem Bankrott steht, nachdem die faschistische AKP-MHP-Regierung mit Unterstützung aller türkischen Nationalisten, einschließlich der Parteien des Sechser-Bündnisses, die Vernichtung der Kurden in Form der Freiheitsbewegung Kurdistans nicht verwirklichen konnte. Dafür hat die Regierung alle Institutionen und Mittel des Staates in einer Hand vereint und jegliches internationale und nationale Gesetz mit Füßen getreten. Angesichts der Rhetorik und des Handelns der Parteien des Sechser-Bündnisses sehen wir, dass sie alle stets die Vernichtungspolitik der faschistischen AKP-MHP-Regierung gegen die Kurden und die linkssozialistischen und demokratischen Kräfte verteidigt und unterstützt haben. Die Wut dieser Parteien auf Erdoğan und die faschistische AKP-MHP-Regierung richtet sich nicht gegen deren realisierte faschistische Politik, sondern gegen deren Scheitern trotz all der Unterstützung und des Einsatzes aller staatlichen Mittel.
Bisher haben diese sechs Parteien keine konkreten Vorschläge für die Lösung der kurdischen Frage und die Stärkung der Demokratie vorgelegt. Das Einzige, was sie versprochen haben, ist die Rückkehr zum alten parlamentarischen System, was mit ihrer Nostalgie für den alten klassischen türkischen Nationalstaat zusammenhängt. Als Erdoğan 2002 an die Macht kam, machte er konkrete Versprechungen, die kurdische Frage zu lösen und die Demokratie in der Türkei auf der Grundlage individueller kultureller Rechte und mit politischen Mitteln zu fördern. Aber die sechs Parteien behandeln ein so entscheidendes Thema wie die kurdische Frage noch immer, als ob es nicht existiere. Wenn die Kurden, Aleviten, Linken, Sozialisten und die demokratischen Kräfte, insbesondere die Kurden, glauben, dass sich das Sechs-Parteien-Bündnis für Demokratie einsetzen wird, bedeutet das nichts anderes, als dass sie ihre Köpfe den Henkern hinhalten.
Schließlich müssen wir die folgende Tatsache klar benennen: Um seine Macht zu erhalten, hat Erdoğan die jahrhundertealte türkische Nationalstaatsideologie und -tradition, all ihre Institutionen, Organisationen und Teile in seiner eigenen Macht vereint. Daher wird die Niederlage seiner Regierung die Niederlage der jahrhundertealten monistischen klassischen türkischen Nationalstaatsideologie sein. Auch das Sechser-Bündnis wird zu dieser Niederlage beitragen, indem es eine Rolle bei der Beendigung der Herrschaft von Erdoğan spielt, auch wenn es den sechs Parteien eigentlich darum geht, den Staat zu retten. Es wird jedoch der organisierte und entschlossene Kampf der demokratischen Kräfte sein, insbesondere der Kurden, Linken und Sozialisten, durch den ein demokratisches System und ein demokratisches Land aufgebaut werden und die AKP-MHP-Regierung ersetzt wird. t
Kurdistan Report 223 | September/Oktober 2022