Ein schmutziger Basar der westlichen Mächte in Nahost und Kurdistan gegen Demokratie und Frieden

Wie die Kurd:innen verraten wurden

Adem Uzun


Kurdistan geteilt und beherrscht von westlichen Mächten und Sowjets zwischen 1916 und 1923
Die erste, häufig vergessene, Teilung Kurdistans wurde 1639 zwischen dem Osmanischen und dem Persischen Reich beschlossen, genannt »Vertrag von Qasr-e Schirin«. Damals wurde Kurdistan zweigeteilt, in beiden Teilen wurde die kurdische Gesellschaft unterdrückt und ihre Rechte wurden ihr verweigert.
Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg (1914–1918) und seiner Umwandlung in eine geschwächte Macht einigten sich Großbritannien und Frankreich zusammen mit dem zaristischen Russland auf die Aufteilung (»Sykes-Picot-Abkommen« von 1916) der unter osmanischer Kontrolle stehenden Gebiete auf Länder, die direkt von Frankreich und Großbritannien regiert wurden, sowie auf die Bildung von Mandatsgebieten, die ihre Entscheidungen dem französischen und dem britischen Staat überließen.
Die Kurd:innen, die sich mit dieser Situation nicht abfinden wollten, organisierten im und nach dem Ersten Weltkrieg einige Aufstände und schafften es, manche Teile ihres Landes zu befreien. Aber die Sowjetunion, die die Türkei als wichtiger ansah als die unterdrückten Völker, wie die Kurd:innen, die Armenier:innen und die Suryoye, verriet diese und entschied sich, das neue unterdrückerische Regime unter Atatürk zu unterstützen, in der Hoffnung, mit dieser Politik den türkischen Staat gegen die westlichen Mächte zu vereinnahmen und die Türkei gegen ihren eigenen Feind zu instrumentalisieren. Auch sie schenkten den Aufständen der Kurd:innen, der Armenier:innen und anderer keine Beachtung. So wurde dem Atatürk-Regime damals grünes Licht gegeben, mit der Errichtung seines Nationalstaates fortzufahren, der auf der Verleugnung und Unterdrückung anderer Ethnien und Nationen beruhte.
All dies ebnete den Weg für den »Vertrag von Lausanne« 1923, der Kurdistan vierteilte. Mit ihrer Gründung setzte die türkische Republik das Konzept der Vernichtung und Verleugnung der Kurd:innen in die Tat um. Trotz der Tatsache, dass am meisten die kurdische Gesellschaft unter dem Lausanne-Übereinkommen gelitten hat, stellt Erdoğan es heute als Nachteil für die Türkei dar – in Wirklichkeit aber versucht er, die Grundlagen für ein zweites Lausanne vorzubereiten, um die Kurd:innen für weitere 100 Jahre auszubeuten.
Wenn wir also über die kurdische Geschichte sprechen, dann sehen wir nicht nur eine Besetzung durch die vier Länder Iran, Irak, Syrien und Türkei, wir sehen Kurdistan als eine internationale Kolonie. Die westlichen Mächte haben ihre Augen verschlossen, haben die Besatzer unterstützt, damit sie ihre Verleugnungspolitik, ihre Assimilationspolitik, ihre Arabisierungs- und Türkisierungspolitik gegen die Kurd:innen fortsetzen können. Diese jedoch haben nicht aufgegeben und vielmehr jede Gelegenheit genutzt, um für ihre Rechte zu kämpfen.
Sowjetischer Verrat in Ostkurdistan (Westiran) 1946
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Kurd:innen in Ostkurdistan einen Teil ihres Landes befreien und proklamierten im Westen des Irans eine freie kurdische Republik. Sie konnte jedoch nur elf Monate bestehen, weil die Sowjets die Kurd:innen erneut verrieten und ihre Unterstützung einstellten.
Die neue imperiale Macht USA in Südkurdistan (Nordirak) 1975
Einen ähnlichen Verrat begingen die USA, als sie dem Iran und dem Irak (Saddam Hussein) bei der Unterzeichnung des Abkommens von Algier 1975 halfen, indem sie im Gegenzug für die Einstellung der iranischen Unterstützung der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) und andere Zugeständnisse Landstreitigkeiten beilegten. Barzanî und seine Anhänger:innen beendeten ihren Aufstand und versuchten, Unterstützung von den Vereinigten Staaten zu erhalten, die ihre Versprechen nicht hielten.
Europäische Länder beliefern Saddam mit verbotenen Waffen, Südkurdistan (Nordirak) 1988
Während des iranisch-irakischen Krieges 1980–1988 hatte die kurdische Gesellschaft viel Leid zu ertragen. Die Saddam Hussein zur Verfügung gestellten chemischen Waffen wurden 1987 und 1988 gegen Kurd:innen in Helebce eingesetzt, wobei etwa 6800 Zivilist:innen starben. Damals wurden alle Aufrufe und Forderungen, etwas gegen Saddam zu unternehmen, von den westlichen Mächten ignoriert. Dieselben Staaten, die überhaupt keine Position gegen ihn bezogen hatten, nutzten jedoch die Situation, als er für sie gefährlich wurde, und machten daraus einen Angriffsgrund.
Der Aufstieg der PKK nach 1980 in Nordkurdistan (Südosttürkei) und die Politik des Westens
Im türkischen Teil Kurdistans kam es Anfang der 80er Jahre zu einem von den USA initiierten Militärputsch. Dabei wurden Tausende von Kurd:innen, Aktivist:innen, Journalist:innen, Politiker:innen und Frauen verhaftet, gefoltert, getötet, inhaftiert. Zu der Zeit, als viele ihrer Mitglieder verhaftet wurden, beschloss die PKK, das Land zu verlassen und mit der militärischen Selbstverteidigung zu beginnen.
Anfangs, als die PKK mit ihren Aktivitäten begann und die Partei gründete, basierte ihre Strategie nicht auf militärischer Kriegsführung, sie versuchte andere Methoden zu verfolgen, um politisch, kulturell und sozial aktiv zu sein. Nach dem Militärputsch jedoch, als der Staat beschloss, alles zu verbieten und zum Schweigen zu bringen, entschied sie sich für die militärische Verteidigung als einzige Option. Diese Entscheidung wurde vom kurdischen Volk begrüßt und unterstützt, da es sehr unter der türkischen Unterdrückung und der Politik der Verleugnung gelitten hatte. Die PKK galt als Hoffnungsträgerin für Würde und Widerstand.
Parallel dazu kamen die NATO-Länder zusammen und erörterten eine neue Strategie, die auf der Niederschlagung dieser Erhebung basierte. Sofort wurde innerhalb des türkischen Militärs eine Abteilung für Aufstandsbekämpfung gegründet, die zur eigentlichen Entscheidungsträgerin wurde, wenn es um Krieg und Unterdrückung ging. Ihre erste Maßnahme bestand darin, eine Kriminalisierungskampagne gegen die PKK zu starten. Olof Palme, schwedischer Ministerpräsident und Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei, wurde 1986 ermordet. Die Kurd:innen wurden beschuldigt, ohne dass man wusste, durch wessen Hand er getötet worden war. Vielfach hieß es jedoch, dass die schwedische Polizei oder die CIA ihre Hand im Spiel gehabt hätten. Trotzdem wurden die Kurd:innen verantwortlich gemacht und zu Terrorist:innen erklärt. Auch heute werden sie wieder einmal durch Sozialdemokrat:innen zu Terrorist:innen erklärt. Insbesondere in Schweden sollte es bei dieser Thematik eigentlich eine größere Sensibilität geben. Für Schweden sind nicht die Kurd:innen eine Bedrohung, sondern die türkische Regierung unter Erdoğan, denn diese ist es, die den IS unterstützt und fördert. Die schwedische Bevölkerung ist gegen die Unterwerfung ihrer Regierung unter einen Diktator und fühlt sich damit sehr unwohl. Das sollten die Politiker:innen erkennen. Als Ergebnis dieses Komplotts wurden 30 Jahre lang die Kurd:innen für den Mord an Olof Palme verantwortlich gemacht. Sie und ihre Freiheitsbewegung haben unter dieser Kriminalisierung immens gelitten.
Auch die Kriminalisierung der kurdischen Bewegung und der kurdischen Diaspora in Deutschland wurde fortgesetzt, während die Türkei weiterhin von fast allen EU-Regierungen und der US-geführten NATO sowohl de facto als auch de jure unterstützt wird, mit der ausdrücklichen Billigung Deutschlands.
So wurde bspw. der Düsseldorfer Prozess 1989 von Deutschland inszeniert. Mehrere Kurd:innen wurden verhaftet, darunter etliche Aktivist:innen und Kader:innen der PKK, und als Terrorist:innen, gefährliche Personen und Separatist:innen beschuldigt. Damals musste sogar das Gericht entscheiden, dass all diese Anschuldigungen an den Haaren herbeigezogen waren, und das Verfahren wurde eingestellt, doch die Kurd:innen und ihr Kampf wurden weiterhin als kriminell betrachtet.
Die westliche Politik gegen das neue kurdische Paradigma, 1993–1999
Nach den 90er Jahren, als die Sowjetunion zusammenbrach, begannen innerhalb der PKK neue Diskussionen über einen Paradigmenwechsel, und in der PKK und zwischen allen anderen kurdischen Organisationen hielten sie in diesen Jahren an. Während der schweren Kämpfe in Nordkurdistan versuchte sich der türkische Präsident Turgut Özal der PKK durch einen möglichen Waffenstillstand zu nähern. Über Dschelal Talabanî [Vorsitzender der Patriotischen Union Kurdistans (YNK), Konkurrentin der PDK im Machtkampf in Südkurdistan] ließ er Abdullah Öcalan einige Botschaften übermitteln. Der sah diesen Aufruf als Chance, eine friedliche und demokratische Lösung zu finden, und erklärte im März 1993 einen einmonatigen Waffenstillstand. Diese neue Politik der PKK wurde unter den Kurd:innen, im Nahen Osten und in der Türkei diskutiert. Eine neue Ära der Hoffnung und eine positive Atmosphäre für eine demokratische Türkei wurden geschaffen. Doch plötzlich, nur wenige Monate nach dieser Erklärung, verboten Deutschland und Frankreich kurdische Vereine und verhafteten Hunderte von Aktivist:innen. Beide Länder, insbesondere Deutschland, waren mit der Idee einer friedlichen, demokratischen Lösung nicht einverstanden. Ihr Schritt ermutigte die Türkei, nicht auf den von der PKK erklärten Waffenstillstand einzugehen. Das autokratische türkische Regime sah darin eine Bestätigung seiner Politik und beschleunigte seinen schmutzigen Krieg in Kurdistan.
Auch nach diesem Schritt Deutschlands und Frankreichs hörte die PKK nicht auf, nach einer friedlichen, demokratischen Lösung zu suchen, und erklärte 1995, 1996, 1997 und 1998 jeweils einen einseitigen Waffenstillstand. Jedes Mal hat sich der Westen gegen all diese Versuche der PKK gewandt. Während der Waffenruhe von 1997 haben die USA die PKK beispielsweise als ausländische terroristische Organisation eingestuft. Sie vermittelten der Türkei eine klare Botschaft: »Lasst euch nicht auf Friedensverhandlungen mit diesen Terrorist:innen ein.« Nach einem erneuten Waffenstillstand der PKK 1998 kam es zu einer internationalen Verschwörung gegen ihren Vorsitzenden Abdullah Öcalan. Die USA und die EU bündelten all ihre Kräfte und zwangen Syrien, ihn aus dem Land zu vertreiben. Öcalan erkannte diesen schmutzigen Plan und beschloss, in die EU zu gehen, um sie von der Notwendigkeit einer friedlichen, demokratischen Lösung zu überzeugen. Statt ihn zu unterstützen, gewährten sie ihm nicht einmal Asylrecht. Die europäischen Länder erlaubten ihm nicht, über die kurdische Frage zu sprechen. All seine Vorschläge für eine friedliche, demokratische Lösung wurden ignoriert. Ihre Antwort war die Organisierung einer widerrechtlichen Verschleppung. Daraufhin wurde er entführt und in das Gefängnis von İmralı gebracht, wo er seitdem fast 24 Jahre in völliger Isolation verbracht hat.
Die EU-Terrorliste gegen jede demokratische Lösung in der Türkei/Kurdistan, 2000–2022
Selbst im Gefängnis nahm er Kontakt zu türkischen Offiziellen auf und überzeugte sie davon, eine friedliche Lösung zu suchen. Als Ergebnis seiner Bemühungen forderte er die PKK auf, ihre bewaffneten Kräfte aus der Türkei abzuziehen. Er bat um die Fortsetzung des Waffenstillstands. Und schließlich forderte er die PKK auf, ihren Namen zu ändern, um eine friedliche, demokratische Lösung zu erleichtern und vorzubereiten. Die PKK reagierte positiv und begann, die notwendigen Änderungen vorzunehmen. Doch leider wurde die Welt mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA konfrontiert. Nach dem 11. September erklärten die USA und das Vereinigte Königreich die neue Politik des »Krieges gegen den Terror«. Das autokratische türkische Regime, das keine demokratische Lösung wollte und auf eine militärische Lösung drängte, sah dies als Gelegenheit, seine bisherige Politik fortzusetzen. Es stoppte den Verhandlungsprozess mit Abdullah Öcalan. Sie hofften auf die volle Unterstützung der USA und des Vereinigten Königreichs, die sie auch sofort erhielten. Die USA, die die PKK 1997 als ausländische terroristische Organisation eingestuft hatten, listeten sie 2001 ebenfalls als Gefahr für die USA. Das Vereinigte Königreich setzte sie 2001 auf Antrag der USA ebenso auf die Liste, dasselbe erklärte die EU im Mai 2002.
Der EU wurden damals mehrere Fragen gestellt, unter anderem auch, warum sie die PKK auf die Terrorliste setzen wolle. Schließlich löse diese sich auf, lege die Waffen nieder und versuche sich neu und anders zu organisieren. Die EU wurde auch gefragt, warum sie die PKK während des aktiven Krieges nicht auf die Terrorliste gesetzt habe. Damals wie heute gab es darauf keine vernünftigen Antwort. Sie zogen die Fortsetzung des Krieges einer friedlichen und demokratischen Türkei in Koexistenz mit einem Kurdistan vor und wollten nicht, dass die PKK den Krieg beendet.
Abdullah Öcalan hat nie aufgehört, ideologisch zu forschen und sich für einen Paradigmenwechsel in der Bewegung einzusetzen. 2005 verkündete er das neue Paradigma, das er demokratischen Konföderalismus nannte und das von Millionen Kurd:innen begrüßt wurde.
In dieser Zeit, in der Erdoğan wiedergewählt und die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden wollte, versuchte er, sich als Demokrat zu präsentieren. Also suchte er nach neuen Wegen, um die Kurd:innen, die Europäische Union und die Weltöffentlichkeit zu manipulieren. Daher begrüßte er den Vorschlag einiger Intellektueller und ausländischer Vermittler:innen von Friedensverhandlungen. Von 2006 bis 2011 fanden dann geheime Verhandlungen statt, Gespräche zwischen der PKK und der türkischen Regierung. Zunächst in Genf, dann in Oslo. Bei diesen Treffen wurde sehr deutlich, dass die türkische Regierung die kurdischen Fragen überhaupt nicht lösen wollte. Sie versuchte nur, Zeit zu gewinnen, die PKK zur Entwaffnung aufzufordern. Als deren Vertreter:innen nach einem türkischen Plan für kulturelle, politische, soziale und organisatorische Rechte und nach Plänen für kurdische Grund- und Frauenrechte fragten, war die Reaktion der türkischen Delegationen: »Nein, nein, dafür ist jetzt nicht die Zeit, darüber sprechen wir später.« Unmittelbar nach dem letzten Treffen tauchte auf einigen türkischen Websites eine Aufzeichnung der so genannten Osloer Treffen auf. Wer hat diese Aufnahme veröffentlicht? Manche sagen, es sei die NATO gewesen, andere, die Türkei, wieder andere, Fethullah Gülen, auf jeden Fall war sie durchgesickert. Und das durch diejenigen, die keine friedliche, demokratische Lösung der kurdischen Frage wollten. Und der ganze Prozess war wieder einmal gescheitert.
Dank der Entschlossenheit Abdullah Öcalans wurde 2013 eine neue Phase eingeleitet. Leider wurde auch dieser Prozess von den türkischen Behörden nicht sehr ernst genommen, da sie die neuen Bewegungen im Nahen Osten gesehen hatten. Die arabischen Aufstände, bei denen Gruppen der Muslimbruderschaft in der Lage waren, einige Länder zu übernehmen, ermutigten Erdoğan, seinen neoosmanischen Traum zu verwirklichen und der neue »Sultan der Muslime« zu werden. Weil er auch von der NATO Unterstützung für seine neue Politik erhoffte, brach er 2015 den Verhandlungsprozess mit Abdullah Öcalan ab. Er konnte auch nicht ertragen, dass den Kurd:innen in Syrien die Möglichkeiten zu einigen Rechten, einem freien Land und neuen Allianzen geboten wurden. Die Kurd:innen, die gegen den Islamischen Staat (IS) gekämpft hatten, wurden von der Weltöffentlichkeit begrüßt und als Held:innen gefeiert. Sie bekamen in Syrien die Chance auf einen Status wie in den irakischen Teilen Kurdistans. Natürlich wurde dies von der Türkei nicht begrüßt, weshalb sie den IS in vollem Umfang zu unterstützen begann, um die kurdische Bewegung und die Kurd:innen, die für die Menschlichkeit kämpften, zu vernichten. Heute werden die Kurd:innen, die den IS besiegt haben, die Tausende von Leben geopfert haben, die als Held:innen, als gute Menschen, als Verbündete gesehen wurden, jetzt wieder von denen verraten, die mit ihnen zusammen gegen den IS gekämpft haben.
NATO billigt erneut Erdoğans Kriterien für Schweden und Finnland
Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wurde mit den Kurd:innen ein sehr schmutziges Geschäft gemacht. Dieselben Kräfte, die sich im russisch-ukrainischen Krieg gegen die Besatzung und für das ukrainische Volk ausgesprochen haben, billigen in gleichem Maße die Invasion des türkischen Staates. Der richtet in Rojava jeden Tag Massaker an und tötet die Menschen. Ist das nicht eine Invasion? Das bedeutet, dass die Entscheidungen, die sie im Hinblick auf Rojava getroffen haben, nicht im Sinne Rojavas sind. Die Behauptungen, Rojavas Freunde zu sein und Rojava zu verteidigen, sind nicht wahr. Das ist nicht der Fall. Sie billigen die Entscheidung des türkischen Staates zum Einmarsch.
Finnland und Schweden haben eine demokratische Gesellschaft. Werden Erdoğans Kriterien nun auch in Schweden und Finnland angewandt werden? Selbst während des Kalten Krieges traten Schweden und Finnland nicht der NATO bei, und ihre Ressourcen wurden nicht für die Entwicklung oder den Erwerb von Waffen verwendet. Sie waren somit eine Stätte der Entwicklung von Demokratie und Wohlstand. Dies könnte durch den neuen NATO-Prozess zerstört werden. Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine drängten die USA und Großbritannien Schweden und Finnland, der NATO beizutreten. Die Vereinigten Staaten bestanden auf einer Erweiterung der NATO, weil die Geopolitik für den Arktischen Ozean darauf abzielte, Russland und China an der Ostseeküste und am Schwarzen Meer einzudämmen, um für den Fall der Eisschmelze eine neue Hegemonie über Ressourcen und Verkehrswege zu schaffen. Als das Erdoğan-Regime dies erkannte, begann es über die Kurd:innen zu verhandeln. Erdoğan wollte seine Völkermordpolitik gegen sie mit der vollen Zustimmung der NATO fortsetzen. Es wurde ein internationales Vernichtungs- und Besatzungskonzept installiert. Der türkische Staat will alle Kurd:innen türkisieren und Kurdistan zu einer Expansionsfläche für die türkische Nation machen. Sie haben 1915 die Armenier:innen vernichtet, und jetzt wollen sie die Kurd:innen vernichten, indem sie sie türkisieren. Ist das nicht Völkermord? Sie nennen es Komplizenschaft. Tatsächlich hat dieser letzte NATO-Gipfel in Madrid voll und ganz offenbart, was diese NATO ist, was die europäische Moral ist, was ihr politisches Verständnis ist.
Die Beziehungen der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und des türkischen Staates zum IS sind allseits bekannt. Auch NATO, USA und Europa wissen es, aber sie verschließen aufgrund ihrer Interessen die Augen.
Rojava, das kurdische Volk und die Guerilla der Volksverteidigungskräfte (HPG) haben einen großen Kampf gegen den IS geführt. Sie haben die Menschheit vor der Gefahr des IS gerettet. Aber jetzt treffen die Mächte Entscheidungen gegen sie, die NATO stellt sich gegen die Volks-/Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) und die Partei der Demokratischen Einheit (PYD), die hart gegen den IS gekämpft und allein in jüngster Zeit mehr als 10.000 Gefallene zu beklagen hatten.
Ist das die Aktualisierung des Abkommens von Lausanne aus dem 20. Jahrhundert? Es besagte: Die Türkei wird sich nicht im Irak einmischen, aber einen Völkermord an den Kurd:innen in Nordkurdistan verüben. Das ist die Grundlage des Vertrages von Lausanne. Genozid an den Kurd:innen in Nordkurdistan als Gegenleistung für den Verbleib von Mûsil und Kerkûk im Irak.
Nach dem Ende des Kalten Krieges sprachen sie über Demokratie, über die Entwicklung der Demokratie. Sie gaben die Botschaft aus, keine Diktatoren mehr zu unterstützen, wie sie es während des Kalten Krieges getan hatten, in Lateinamerika, im Nahen Osten und überall. Jetzt unterstützen sie Diktaturen für ihre eigenen Interessen, so wie während des Kalten Krieges. Wenn diese Diktatoren in ihren Diensten stehen, ist es in Ordnung, aber wenn nicht, kommen sie in die Hölle. Es ist wirklich eine sehr schmutzige Beziehung. Es ist Komplizenschaft, dass sie so viel über die kurdische Frage verhandeln. Mit anderen Worten, eine völkermörderische Partnerschaft.
Schlussfolgerung
Daraus können wir schließen, dass die westlichen Mächte, die NATO, wirklich keine Lösung für die kurdische Frage sehen wollen. Sie wollen nicht wirklich eine demokratische Türkei. Sie wollen nicht wirklich dieses autokratische Regime loswerden. Wenn es um ihre Interessen geht, unterstützen sie es. Alle wissen, wie sich Erdoğan verhält, wie autokratisch er ist, wie er manipuliert und die Welt bedroht, nicht nur in Kurdistan. Wie er im irakischen Teil Kurdistans chemische Waffen gegen kurdische Guerilla-Kräfte einsetzt. Wie er die Zivilist:innen in Şengal, im Flüchtlingslager Mexmûr, in Rojava und in der Türkei selbst angreift. Wie er alle kurdischen Politiker:innen inhaftiert, Tausende von ihnen sind jetzt im Gefängnis. Und diese Länder geben diesem Autokraten jetzt wieder grünes Licht, seine Politik fortzusetzen. Deshalb denke ich, dass diese Länder und die NATO für das alles verantwortlich sind, und wir sollten das nicht akzeptieren.
Ich denke, wir müssen eine neue internationale Initiative starten, um unsere Werte zu schützen, unsere Demokratie zu schützen, unseren Frieden, unsere Ziele, unser Land, unsere Freiheit. Wir müssen ihnen eine starke Botschaft übermitteln, meinetwegen »ihr könnt so nicht weitermachen«. Wir müssen sogar der NATO eine wirklich starke Botschaft übermitteln. Es ist Zeit für eine internationale Kampagne, denke ich. t


 Kurdistan Report 223 | September/Oktober 2022