Mit faschistischer Praxis den Neoliberalismus durchsetzen:

Historischer Vergleich des Machtgefüges in der Türkei mit dem deutschen Faschismus

Ulrich Weber im Gespräch mit Janka Kluge* und Alp Kayserilioğlu**

»Es gab ganz lange die Auseinandersetzung unter den Historiker:innen, ob es einen originären Befehl Hitlers zur Schoah gegeben hat. Den gab es nicht. Und trotzdem wussten alle, was gemacht werden soll«, so beschreibt Janka Kluge das Machtgefüge des deutschen Faschismus. »Tun, was man glaubt, das der Führer möchte. Das bestimmt in etwa auch die heutige Innenpolitik der Türkei«, so Alp Kayserilioğlu. »Bis hinauf in die obersten Ministerien wird sich damit gebrüstet im Sinne Erdoğans zu handeln.«

Kapital, Politik und die Krisen

Die damalige Strategie der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zum Ausbau der eigenen Machtstellung war eine Mischung aus neoliberaler Öffnungspolitik der Türkei für ausländisches Kapital und andererseits Privatisierung, gepaart mit autoritären Praktiken zur Durchsetzung eigener Interessen. Wie in der Türkei von heute, gab es schon im historischen deutschen Faschismus ein enges Verhältnis zwischen der Politik und der Wirtschaft. »Wie wir heute aus Protokollen und Prozessunterlagen aus den Nürnberger Prozessen wissen«, so Janka Kluge, »gab es mehrere geheime Treffen zwischen Hitler und Vertretern der Wirtschaft, in denen Hitler Versprechungen gemacht hat. Dabei war das Hauptversprechen, dass er, sobald er an der Macht wäre, die Arbeiter:innenbewegung und ihre Gewerkschaften zerschlagen würde.« Die tragende Taktik der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) unter Hitler und Hess war es, der Partei ein pseudosozialistisches Gewand zu verleihen, um jene Bewegungen zu spalten. So mobilisierten die Faschist:innen beispielsweise noch zum 1. Mai 1933 zu den Protesten, dem viele Gewerkschaften Folge leisteten. Zwei Tage später wurden Gewerkschaftshäuser besetzt und Kommunist:innen und Gewerkschafter:innen verhaftet.

Auf der anderen Seite sollten durch die militärische Aufrüstung wieder Profite für Großindustrie und das deutsche Kapital realisiert werden. Dadurch sollten auch die Folgen der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre abgefedert werden. Im Zuge dessen versprach Hitler, die Länder Osteuropas zu kolonialisieren, um damit neben der reinen Ausweitung des »Lebensraumes« die wirtschaftliche Einflusssphäre vergrößern zu können. Doch brauchte es dafür Aufrüstung, da das Militär als Folge der Auflagen des Versailler Vertrages am Boden lag. Janka Kluge berichtet dabei von einem sehr prägnanten Fall aus ihrem Wohnort Stuttgart: »Daimler-Benz war in den 20er Jahren quasi zahlungsunfähig. Im Namen der Deutschen Bank hatte damals ein gewisser Herr Strauß das Angebot einer großzügigen finanziellen Unterstützung gemacht. Die Forderungen waren im Gegenzug Sitze im Aufsichtsrat und die Umstellung der Motorenentwicklung auf Flugzeugmotoren, die sicherlich nicht für Urlaubs-Reisende gedacht waren.« Derselbe Strauß war es, der während des Ersten Weltkrieges die anatolische Eisenbahngesellschaft verwaltete und zuvor für die Ölgeschäfte der Deutschen Bank verantwortlich war. Der Bau der Berlin-Bagdad-Bahn, der durch die Aufsicht und Finanzierung der Deutschen Bank realisiert werden konnte, galt als ein Garant der Einflussnahme und der Machtsicherung Deutschlands im Nahen Osten. Dabei setzte Deutschland nicht wie Großbritannien und Frankreich auf Gebietsgewinne in Mesopotamien, sondern auf die Schaffung wirtschaftlicher Einflussnahme, zum Aufbau einer ökonomischen Beherrschung über diesen strategisch wichtigen Raum. So konnte eine Expansion nach Vorderasien entlang an erdölreichen Regionen wie Mossul sichergestellt werden, während Großbritannien den Wasserweg durch den Suezkanal kontrollierte. Für den »kranken Mann am Bosporus«, das zerfallende Osmanische Reich, stellte der Bau der Bahnstrecke eine Chance zur Stabilisierung und zum schnellen Transport von Truppen dar. Durch die »Teile-und-Herrsche-Politik« ist diese militärische Ebene auch als eine Absicherung deutscher Interessen zu verstehen, deren Vorherrschaft auf dem Landweg durch die ebenso expansiven Seemächte schier unangreifbar schien.

Durch die wirtschaftliche Hegemoniekrise nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich Anfang der 30er Jahre zunehmend ein Faschismus, dessen Weg durch zahlreiche Unternehmer:innen bereitet wurde. Bis zum Jahr 1931 hatte die NSDAP nur wenige tausend Mitglieder. Ohne die Vereinbarungen zwischen Politik und Wirtschaft wäre die daraufhin rasant gestiegene Popularität und Macht der Faschist:innen undenkbar. Janka Kluge führt dazu aus: »Unter Historiker:innen gibt es einen Streit, wie man den 27. Januar 1933, also den Tag der Machtergreifung Hitlers, beschreibt. Eher bürgerlich-konservative Historiker:innen sagen, es war eine Machtergreifung der Nazis. Das stimmt meines Erachtens nicht. Es handelte sich vielmehr um eine Machtübertragung. Hitler wurde mit großer Beihilfe aus Politik und Wirtschaft an die Macht geholt.«

Allein Daimler beschäftigte in den Jahren 1944/45 circa 40.000 Zwangsarbeiter:innen und gilt als erster Konzern, der erst mehr als 40 Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes und der Befreiung Deutschlands seine Konzerngeschichte durch externe Historiker:innen aufarbeiten ließ. Die darin getätigten Darstellungen werden von vielen Expert:innen wiederum als zu positiv eingeschätzt, was die Vermutung nahe legt, dass die Großunternehmen lediglich an einer Absolution im öffentlichen Diskurs interessiert seien.

Zahlreiche Unternehmen der damaligen Zeit sind es nämlich auch heute, die monopolgleiche Stellungen innehaben und von denen immer wieder zu lesen ist, wenn es um Waffenexporte, wirtschaftliche Investitionen in die Türkei oder Besitzrechte für den Anbau von Monokulturen im globalen Süden geht. So waren es vor allem die Deutsche Bank, Daimler, VW, Bayer, Thyssen Krupp und Dr. Oetker, die sich durch den Faschismus bereicherten und Zwangsarbeiter:innen zu Tode schuften ließen. Alle diese Konzerne ließen erst Jahrzehnte später hauseigene Untersuchungen über ihr Wirken in der NS-Zeit durchführen. Bei vielen sind nicht einmal die Untersuchungen abgeschlossen und die Akten werden systematisch zurückgehalten, wie bei Siemens. Eine ernstgemeinte Aufarbeitung ließe nämlich die Legitimation transnationaler Konzerne zerbröckeln, die auch heute mit ähnlichen Geschäftstypen im Ausland Profite aus dem Elend schlagen. Ein aktuelles Beispiel: Die Siemens AG ist am Bau des Ilısu-Staudammes beteiligt, durch den die historische Stadt Heskîf (Hasankeyf) in Nordkurdistan überflutet wurde. Damit wurde eines der ältesten Kulturgüter der Menschheitsgeschichte zerstört und Tausende wurden umgesiedelt. Zeitgleich sind die Folgen für die Umwelt immens und durch eben solche Staudämme wird die Wasserzufuhr in den Irak und nach Syrien als ein indirektes Kriegsmittel gegen die Kurd:innen genutzt.

Die AKP führt den Neoliberalismus vom Putsch 1980 weiter

»Wenn wir uns die Faschisierung der Türkei angucken«, so Alp Kayserilioğlu, »müssen wir einige Sachen wissen. Im Jahr 1980 gab es den größten und heftigsten Militärputsch in der Geschichte der Türkei, der sich vor allem gegen eine erstarkende Arbeiter:innenbewegung richtete. Da es in etwa das gleiche ist, was in Deutschland nach 1933 gemacht wurde, liegt es auf der Hand, diesen Putsch als einen faschistischen zu bezeichnen.« Auf den Putsch folgte eine Militärdiktatur bis 1983, die ihresgleichen suchte. Die Arbeiter:innenbewegung, die sich parallel zur Industrialisierung der vorherigen Jahrzehnte entwickelte und organisierte, sollte zusammen mit der Student:innenbewegung binnen kürzester Zeit zerschlagen werden. Auch hier sind die Parallelen aus der Beziehung zwischen einem sich faschisierenden Staat und dem Großkapital offenkundig. Als ein Beispiel von vielen führt Alp Kayserilioğlu an: »Nach dem Putsch dankte der größte Industrielle des Landes, ein gewisser Vehbi Koç, der Militärjunta und appellierte an diese, dass nie wieder Kommunist:innen, Armenier:innen oder Kurd:innen an die Macht kommen dürften.« Wenn man zu der Koç Holding A.Ş. recherchiert, welche heute das größte Unternehmen der Türkei gemessen am Exportvolumen ist, so stößt man in der Familiengeschichte durchgehend auf Ehrungen für Zivilcourage und soziales Engagement. Auch Vehbi Koç wird von westlichen Medien, in diesem Falle bei Wikipedia, als kemalistischer, säkulärer Philantrop, also als Menschenfreund und Demokrat betitelt. Bei diesem Narrativ liberaler Wirtschaftsstaaten fällt wie bei den großen deutschen Unternehmen, die vom Krieg und von der Schoah profitiert haben, unter den Tisch, dass die Koç Holding eine der größten Profiteur:innen des Völkermords an den Armenier:innen, der Vertreibung der Griech:innen und des permanenten Kriegs gegen die Kurd:innen ist. Das Wirken dieses Unternehmens ist zudem bezeichnend für das Konstrukt neoliberaler Nationalstaaten. Neben dem wirtschaftlichen Arm rühmt sich die Koç Holding mit sozialem Schein-Engagement und zementiert somit eine wirtschaftlich-kulturelle Hegemonie, die eng mit der Regierung verwoben ist. Das Koç-Imperium unterhält nämlich neben den wirtschaftlichen Komponenten eine Universität, mehrere Schulen und kulturelle Angebote wie Museen und Parks. Was langfristig auf den Militärputsch von 1980 und die neue Verfassung vom 12. September 1983 folgte, die Basis der heutigen Ordnung in der Türkei, war das Verbot politischer Parteien, von Gewerkschaften und die Einführung des Neoliberalismus. Als eine Folge hat die Türkei noch heute einen der schwächsten gewerkschaftlichen Organisierungsgrade. Auch wurde dem Präsidenten rechtlich schon damals gewährt, die obersten Stellen der Justiz wie beim Kassations- und Verfassungsgericht nach seinem Belieben zu besetzen. Es entstand auf Grundlage dieser Verfassung ein Machtkonglomerat aus dem Präsidenten, dem Militär und der Justiz, welche eine Ideologie der türkisch-islamischen Synthese von oben propagierten. Dies stülpte sogar das Schulsystem um. »Im Kern betrachtet«, so Alp Kayserilioğlu, »ist das einfach eine Reformulierung des klassischen Nationalismus, der vom Laizismus zur Republiksgründung hin zu dieser Synthese aus Religion und Staat übergeht.« Die AKP ihrerseits, die 2002 an die Macht kommt, reagiert auf die Wirtschaftskrise von 2000/01 im selben Schema. Sie bietet sich mithilfe einer größeren Öffnung und des zunehmenden Abbaus von Arbeitnehmer:innenrechten dem ausländischen Kapital an.

Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass die AKP-Hochburgen vor allem in zentralanatolischen Städten liegen, welche im Zuge der Liberalisierung zu aufstrebenden Städten geworden sind. Aber auch in anderen großen Städten hat es die AKP durch Stadtteilarbeit geschafft, Fuß zu fassen und ihre Ideologie durch Versprechungen von Identität und Aufschwung festzusetzen, worin sie sich von anderen kemalistischen Linien unterscheidet.

Mit faschistischen Praktiken den Neoliberalismus durchsetzen

Während der Neoliberalismus die Wirtschaftsstrategie der Türkei prägt, etablieren sich innenpolitisch und gesellschaftlich faschistische Praktiken, welche die Durchsetzung des Neoliberalismus garantieren sollen. Alp Kayserilioğlu beschreibt das Machtgefüge seit den 80er Jahren als einen Komplex aus Militärapparat, Präsidenten und Justiz. Derselben Fraktionen des Machtgefüges bedient sich die Türkei auch, wobei es dem Regime gelingt, das Level an faschistischen Methoden gezielt hoch- und runterzufahren, je nach Bedarf und ohne dabei die Zügel gänzlich aus den Händen zu geben.

Aus dem sich nach 1980 entwickelnden Machtkonglomerat resultierte auch der schmutzige Krieg der 90er Jahre in Nordkurdistan. Diesen führte der Staat mit aller Härte gegen die gesamte Bevölkerung. Tausende wurden als Folge extralegal hingerichtet, entführt und umgesiedelt. Laut Alp Kayserilioğlu »sind die Verantwortlichen dafür das, was wir den tiefen Staat nennen. Dies ist ein Komplex, der bis in den Generalstab, Paramilitärs, die Mafia auf eine nichtöffentliche illegale Art und Weise miteinander zusammengearbeitet hat, mit dem Ziel, den kurdischen Widerstand zu brechen.« In den letzten Jahren tauchten unter dem AKP-MHP-Regime wieder einige Namen auf, welche schon in den 90er Jahren in diesem Komplex aktiv waren. Unter ihnen beispielsweise Tansu Çiller, die frühere Ministerpräsidentin mit Verbindung zu den Grauen Wölfen, der Polizeichef Ağar und Sedat Peker, ein verurteilter Mafiaboss mit offenkundigen Verbindungen zum türkischen Staat, der wegen Drogenhandel, Menschenentführung und Mord verurteilt wurde, nach kurzer Zeit aber vom Staat amnestiert wurde. 2008 wurde Peker dafür angeklagt als Teil des Ergenekon-Planes, mithilfe eines Untergrundnetzwerkes des tiefen Staates, die islamisch-konservative Regierung unter dem Ministerpräsidenten Erdoğan stürzen zu wollen. Peker wurde 2013 zu 10 Jahren Haft verurteilt, kam jedoch abermals nach nicht mal einem Jahr wieder frei und schwor Erdoğan nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 die Treue. Seit kurzem ist Peker vor der Regierung auf der Flucht und kündigt an, die Machenschaften des tiefen Staates, der ihn fallen gelassen habe, zu enthüllen. Als seine Hauptgegner gelten dabei der bereits zuvor erwähnte Mehmet Ağar, welcher in den 90er Jahren als Justiz- und Innenminister agierte und von Peker als Polizeiminister und Kopf des tiefen Staates gehandelt wird, und der Innenminister Süleyman Soylu. Wieder einmal werden in diesem Komplex die Verstrickungen der Justiz, der Mafia, der Regierung und der Wirtschaft deutlich. Eine große Rolle spielen daher auch die paramilitärischen Kräfte in der Türkei, wo insbesondere die Grauen Wölfe zu nennen sind, die einen paramilitärischen Jugendverband der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) darstellen. »Die Grauen Wölfe besitzen«, so Janka Kluge, »ein klares Bild von Menschen, die aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen werden sollen. Das betrifft insbesondere die Leute, die sich nicht zum Türkentum bekennen, wie die Armenier:innen und die Kurd:innen. In diesem Stilisieren von bestimmten Gruppen zum allgemeinen Feindbild liegen große Parallelen zum deutschen Faschismus.« Auch nach Alp Kayserilioğlu »sind ein Militarismus und insbesondere solche für das AKP-MHP-Regime agierende Paramilitärs wie die Grauen Wölfe faschistisch. In der Tragweite und der Anzahl sind diese jedoch trotzdem schwer vergleichbar mit den Schwarzhemden und der SA in Deutschland, auch wenn sie gerne bedeutender wären.«

Propaganda und Kolonialismus für den Machterhalt

Seit dem Militärputsch 1980 wird eine »türkisch-islamische Synthese« als rechter Gegenentwurf für die starke Position der Linken von 1979 propagiert. Die Linie der AKP ist dabei pragmatischer Natur, indem sie keine einheitlichen Linien vertritt, sondern diejenigen Positionen einnimmt, die dem Machterhalt dienlich zu sein scheinen. Während sie sich in den 2000ern als neoliberale Kraft dem Westen offen zeigt und defensiv gegenüber islamistischen Kräften ist, wirbt sie heute mit islamistischer Propaganda um die Gunst sunnitisch-islamistischer Kräfte. Laut Alp Kayserilioğlu »ist auch die Islaminterpretation der AKP pragmatisch und flexibel. Vor allem war sie in der Anfangszeit recht liberal konnotiert, wodurch auch unter Erdoğan eine gewisse politische Offenheit suggeriert wurde. Dies hat sich aber grundlegend geändert.« Ergänzt wird die AKP durch die nationalistische Propaganda des extrem rechten Koalitionspartners MHP, welche neben der erträumten Einheit aller Türk-Völker eine Verfolgung und Ausgrenzungspolitik gegenüber allen anderen Volksidentitäten innerhalb der Türkei umsetzt.

Aktuell hält das Regime die Türkei in einem permanenten Kriegszustand nach innen und nach außen. Zahlreiche Verfahren wegen Terrorismus im Inland sind dabei der bröckelnde Unterbau für dessen Legitimation. Der Krieg im Ausland wie die Einsätze in Libyen, in Armenien, in Kurdistan und die expansive Politik sollen der politischen Opposition hingegen Legitimation für die aktuelle Regierung abringen. Die Folge dessen wird deutlich bei dem politisch-passiven Verhalten der größten Oppositionspartei, der CHP (Republikanische Volkspartei), die sich in den letzten Jahren immer auf die Seite des Krieges geschlagen hat. Das Regime wählt also zwei Wege zum Machterhalt: Krisen mit zunehmender Heftigkeit heraufbeschwören, um die inneren Widersprüche zu überdecken, und eine Expansionspolitik mit Angriffskriegen, die nicht nur ideologisches Mittel für den Machterhalt ist, sondern eine Antwort auf den Fall der Lira und die wirtschaftliche Krise, die sich durch Corona noch verstärkt hat. Alp Kayserilioğlu beschreibt die aktuelle Situation deshalb als »Dualität zwischen Hegemoniekrise und autoritärer Konsolidierung, was Ausdruck der generellen und permanenten Krise des Neoliberalismus ist. Trotz aller Bemühungen hat die Türkei aber sehr limitierte Möglichkeiten eine imperiale Macht zu werden. Durch die zementierte transatlantische Ordnung fehlt der Türkei nämlich ein wirtschaftliches Vakuum, was es für eine großangelegte Expansionspolitik bräuchte.«

Die Rolle des Widerstandes

Im Vergleich des damaligen Deutschlands mit der heutigen Türkei gibt es wesentliche Unterschiede im Hinblick auf den Widerstand. Einen großen Teil davon machten in Deutschland das Verteilen von Flugblättern, Zeitungen und das Aufrechterhalten von Organisationsstrukturen in der Illegalität aus. »Dabei ist«, so Janka Kluge, »vor allem die Rote Hilfe zu nennen, die Familien von Verhafteten und Deportierten unterstützte und bei der Schleusung von Verfolgten ins Ausland half. Einen bewaffneten Widerstand gab es fast ausschließlich in den besetzten Ländern. Viele aus Deutschland Geflohene haben sich später Widerstandsgruppen wie der Résistance und den Partisanen angeschlossen.« In der Gesamtbetrachtung des historischen Nationalsozialismus gab es nach Janka Kluge unterschiedliche Phasen des Widerstands innerhalb des Landes: »Am Anfang waren viele Kommunist:innen und Sozialist:innen im Widerstand aktiv. Dies legte sich aber durch den Hitler-Stalin-Pakt bei vielen Kommunist:innen und änderte sich bei vielen erst bei dem Überfall auf die Sowjetunion 1941.« Generell spielte der Streit zwischen KPD und SPD Anfang der 30er Jahre eine außerordentliche Rolle. Die SPD verunglimpfte die KPD als rotlackierte Faschisten, während jene im Hinblick auf die Sozialfaschismusthese die Sozialdemokratie als zu bekämpfenden, linken Flügel des Faschismus wähnten. Eine Zusammenarbeit gab es daher praktisch nicht. Erst im Angesicht der Deportation, der Konzentrationslager und des bestimmten Vorgehens von Polizei und paramilitärischen Kräften änderte sich dies.

Mit einem Mythos müsse man bei einer genauen Analyse Nazi-Deutschlands aber aufräumen, so Janka Kluge: »Hitler hatte nie 100 Prozent der Bevölkerung hinter sich gehabt. Das ist eine Legende der Nazis. Der Krieg, beispielsweise der Überfall auf Polen, hat für eine Ablenkung der Bevölkerung gesorgt, sodass auch Hungeraufstände nicht konstant und flächendeckend waren. Viele Söhne waren nämlich im Krieg, einem Angriffskrieg, der ein Wir-Gefühl kreieren sollte, der auch dazu diente, von den laufenden Verbrechen der Nazis abzulenken.«

Die Situation in der Türkei ist mittlerweile wie folgt: Wie in vielen westlichen Ländern, beispielsweise in Deutschland durch die von der SPD verabschiedete Agenda 2010, hat sich die Sozialdemokratie mit dem Neoliberalismus arrangiert. Die größte Oppositionspartei innerhalb der Türkei, die kemalistische CHP, verlor als Folge der Liberalisierungspolitik daraufhin viele Armenviertel und damit ganze Gebiete. Ausschlaggebend waren dafür mitunter die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei ab 2006. Durch diese musste der Forderung nach wirtschaftlicher Umstrukturierung Folge geleistet werden, was Privatisierung großer staatlicher Unternehmen bedeutete und die Etablierung einer vom Staat unabhängigen Zentralbank (Türkische Notenbank CBRT), welche für Preisstabilität statt für Höchstbeschäftigung sorgen soll. Zudem führte die AKP neue Arbeitsgesetze ein und damit vermehrt Teilzeitarbeit und Subunternehmerschaft. Innerhalb eines Jahrzehnts sank somit zusätzlich der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder, die traditionell am stärksten in den großen staatlichen Unternehmen organisiert waren, bis 2015 von 30 % auf ca. 6 % und eine starke Haushaltsverschuldung sorgte nach einem rasanten Anstieg der Wirtschaftsleistung zu einem noch rasanteren Abfall dieser.

Die Türkei ist in ihrer aktuellen Phase, beginnend mit der Wirtschaftskrise 2000, als Verwirklichung des Greater Middle East Projects der USA und somit dessen Expansionsstrategie zu begreifen. Die Profiteure der türkischen Liberalisierung, also die USA, europäische Staaten und darin speziell Deutschland, sind aufgrund von Profitinteressen eine Stütze faschistischer Praktiken, die mit allen Mitteln ihre Investitionen und das östlichste NATO-Bollwerk erhalten wollen. 

Nach Alp werden deshalb »sämtliche Übergriffe und Militär­operationen der Türkei relativiert oder gar verschwiegen. Es ergibt sich folgender Status quo: Erdoğan kann machen, was er will, solange es den wirtschaftlichen und geopolitischen Interessenslagen nicht schadet, und wird in dem, was er tut, prinzipiell vom deutschen Staat gedeckt.« Durch die Interessenslage vieler Großmächte und das geschilderte Abhängigkeitsverhältnis sind den Expansionsplänen Erdoğans aber auch natürliche Schranken gesetzt.

Nachdem die AKP nach 2010 zur politisch-dominanten Kraft aufstieg, wurde die Hegemoniekrise ab 2012 immer wieder deutlich sichtbar: In Rojava setzte sich die Revolution durch und im Inland gab es mit den Gezi-Protesten einen Massenaufstand gegen den Autoritarismus der AKP. Die HDP, die Demokratische Partei der Völker, gründete sich im Jahr 2012 und meisterte bei den Wahlen 2015 die 10%-Hürde, die ein Erbe des Militärputsches 1980 darstellt. Zudem hat das AKP-MHP-Regime in den letzten Kommunalwahlen viele wichtige Städte verloren und sieht sich mit dem starken Fall der Lira konfrontiert und macht sich zunehmend weiter von ausländischen Investitionen abhängig und reagiert mit Gewalt gegen Oppositionelle. 

»Einer der wesentlichsten Unterschiede zum Hitler-Faschismus ist, dass es in der Türkei noch eine legale Opposition im Sinne von Gewerkschaften, Parteien und Protestierenden gibt, die aber unter enormem Druck steht«, so Alp Kayserilioğlu. Er führt aus: »Was bürgerliche Oppositionsparteien lahmlegt, ist, dass es die Regierung um Erdoğan geschafft hat, ihre Rolle und ihre Einflussnahme zu monopolisieren, was auch bürgerliche Oppositionsparteien aus Angst vor dem gesamten Machtapparat ausbremst.«

Da aber auch Teile der bürgerlich-politischen Opposition viele Linien der staatlichen Politik teilen, den kemalistischen Nationalismus und den Krieg gegen das kurdische Volk betreffend, ist es umso wichtiger, auf die demokratisch-fortschrittlichen Kräfte in der Türkei zu gucken. An der prestigeträchtigen Boğaziçi-Universität gab es seit Anfang des Jahres Massenproteste, bei denen der Staat mit aller Härte gegen die Studierenden unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung vorging, aber in deren Folge der durch die AKP eingesetzte Zwangsverwalter abdanken musste. Zudem besitzt die feministische Bewegung ein riesiges Mobilisierungspotenzial, wie kürzlich die Proteste gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention gezeigt haben, und auch in den Großstädten und in Nordkurdistan gibt es einen militanten und teilweise bewaffneten Widerstand.

Die Vielzahl demokratisch-progressiver Bewegungen lässt somit auf eine Demokratisierung der Türkei hoffen, die sich über die Strukturen des tiefen Staates hinwegsetzt und die Mittel des Autoritarismus überwindet.

Auch wenn sich der historisch-deutsche Faschismus in vielen Punkten vom politischen Klima in der Türkei unterscheidet, so eint sie doch die Position der Wirtschaft im Machtgeflecht und die Staatsräson, welche es Komplexen wie einem tiefen Staat erlaubt, jenseits von Gesetzen und Legalität zu operieren und zu morden. Von den westlichen Medien und Politiker:innen wird dabei laufend ein Bild von der Türkei suggeriert, welches versucht, das Fundament, auf dem sich der heutige expansive Staat aufstellt, zu verschleiern. Wenn wir diesen lüften, erkennen wir aber, dass sich das Fundament nicht stark von dem des Hitler-Faschismus unterscheidet. Es war und ist nämlich ein Fundament, das auf Gefängnissen, Folter, Antifeminismus und abertausenden Leichen beruht. Wir müssen sehen, dass die Profiteur:innen der Politik des AKP-MHP-Regimes und des permanenten Kriegszustands zuhauf in Deutschland sitzen. Der Slogan »Hinter Krieg und Krise / dem Faschismus steht das Kapital« hat folglich nie an Bedeutung eingebüßt und zeigt wiederum auf, wo wir in Deutschland zur Verteidigung Kurdistans ansetzen können.

* Janka Kluge, Journalistin, engagierte Antifaschistin und Expertin zu dem Thema deutscher Faschismus.

**Alp Kayserilioğlu, Journalist und Autor mit dem Themenschwerpunkt Ära der AKP in der Türkei.


 Kurdistan Report 217 | September/Oktober 2021