Demokratie ist das Recht,nein zu sagen

Ertuğrul Kürkçü, Ehrenvorsitzender der HDP

»Ich möchte Gerechtigkeit für meinen Mann und meine Kinder, die vor meinen Augen im staatlichen Krankenhaus ermordet wurden«, erklärt Emine Şenyaşar zu ihrem Protest vor dem Gericht in Riha. | Foto: anfVor Jahren fragte mich ein niederländischer Diplomat während eines Gespräches: »Wenn Sie Demokratie in einem Wort ausdrücken müssten, was würden Sie sagen?« Ehrlich gesagt, fand ich zunächst kein einzelnes Wort, das diese Frage hätte beantworten können. Daraufhin antwortete er selbst, indem er »Nein« sagte. Demokratie ist das Recht, nein zu sagen.

Nichts hätte besser aufzeigen können, dass dies keine Rhetorik, sondern eine lebenswichtige Sache ist, wie die Morde an der Şenyaşar-Familie belegen. Am 14. Juni 2018 brachten Leibwächter und Angehörige des AKP-Abgeordneten İbrahim Halil Yıldız in Pirsûs (Suruç) den Einzelhändler Hacı Esvet Şenyaşar und dessen Söhne Adil und Celal um. Mehmet Şah Yıldız, der Bruder der Angreifer von İbrahim Halil Yıldız, starb während der tagelangen Angriffe. Alles begann mit einem Nein. Die Ehefrau Esvet Şenyaşars und Mutter von Adil und Celal, Emine Şenyaşar, erzählt die Geschehnisse wie folgt: »Sie kamen in unser Geschäft und sagten zu meinem Sohn: ›Gebt uns eure Stimme!‹ Mein Sohn fragte sie, ob sie keine Kurden seien? Sie antworteten, dass sie Kurden seien. Daraufhin sagte mein Sohn zu ihnen: ›Ich bin auch Kurde und werde meine Stimme den Kurden geben. Ihr kennt uns, wir geben niemandem anderen als der HDP unsere Stimme.‹ Sie gingen zwar weg, aber setzten meinen Sohn weiterhin unter Druck. So sehr, dass mein Sohn sagte: ›Das sind schlimme Plagen, die werden uns noch Unheil bringen‹, und er hielt das Geschäft zwei Tage geschlossen. Am dritten Tag war der Vortag des Zuckerfestes, daher ging er zum Geschäft, um es zu öffnen. Sie [der AKP-Abgeordnete und seine Männer] kamen diesmal mit Waffen und verübten ein Massaker.«

Bei dem Angriff werden Adil und Celal verletzt. Was dann geschieht, hören wir von Emine Şenyaşar: »Ein Freund, der meine Kinder in das Krankenhaus begleitet hat, erzählte mir: ›Ihre Verletzungen waren nicht sehr schwer, es ging ihnen gut, sie konnten sprechen und sie wollten, dass wir sie nicht in das staatliche Krankenhaus in Pirsûs, sondern in ein anderes Krankenhaus in Riha (Urfa) bringen. Die Polizei hat das aber nicht erlaubt. Sie drängten darauf, beide in das besagte Krankenhaus in Pirsûs zu bringen, so dass uns nichts anderes übrig blieb. Wir haben die beiden aus dem Krankenwagen herausgeholt und in das Krankenhaus gebracht. Die Ärzte hatten damit begonnen, die Wunden zu versorgen, als die Angreifer erneut kamen. Sie schlugen mich. Der Arzt forderte mich auf zu flüchten, weil sie mich sonst auch umbringen würden. Ich floh daraufhin aus dem Fenster. Dabei hörte ich Schüsse.‹«

Emine Şenyaşar berichtet auch darüber, wie sie hilflos zusehen musste, als ihr Mann umgebracht wurde: »Ich war zu Hause und als ich die Nachricht über den Überfall bekam, bin ich sofort zum Geschäft gerannt. Doch die Frauen, die mich unterwegs sahen, hielten mich mit den Worten ›Geh nicht, sie haben deine Kinder getötet, sie werden auch dich töten‹ auf, nicht dorthin zu gehen. Ich machte kehrt und sah auf dem Weg meinen Mann, der vom Überfall noch nicht erfahren hatte. Er fragte mich, was mit mir sei. Dann sind wir zusammen zum Geschäft gegangen, aber die Polizei ließ uns nicht in die Nähe. Dann kam der Krankenwagen, sie trugen einen aus dem Geschäft in den Krankenwagen und fuhren davon. Dann kam jemand, der uns mit dem Wagen ebenfalls zum Krankenhaus fuhr. Gerade als wir in das Krankenhaus reingingen, haben uns die Anhänger des AKP-Abgeordneten Yıldız angegriffen. 20 Männer haben meinen Mann eingekreist und mit Infusionsständern auf den Kopf geschlagen. Mein Mann war blutüberströmt. Ich habe versucht, ihn aus diesem Kreis herauszuziehen, habe es aber nicht geschafft. Die Polizei hat sich währenddessen von dort entfernt und ist aus dem Krankenhaus herausgegangen. Nur ein Polizist wartete dort. Ich bin zu ihm hin, habe ihn angeschrien: ›Was seid ihr für ein Staat, sie haben ihn umgebracht.‹ Der Polizist hat sich weder gerührt noch etwas gesagt. Sie haben meinen Mann gelyncht.«

Seit den Morden am Ehemann und den Söhnen von Emine Şenyaşar sind drei Jahre vergangen, aber es haben keinerlei Untersuchungen über dieses Massaker im Krankenhaus stattgefunden. Nicht einmal eine Aussage hat İbrahim Halil Yıldız bisher gemacht. Und als wenn das nicht reicht, wurden 120 Familienangehörige von Yıldız zu Dorfschützern erklärt und vom Staat mit Waffen ausgerüstet.

Seit dem 9. März sitzt Emine Şenyaşar nun vor dem Gerichtsgebäude. Sie fordert die Verurteilung der Mörder ihres Ehemannes und ihrer Söhne. Es mag sein, dass der Staat in Pirsûs Yıldız heißt. Das hindert die Menschenrechtsvereinigungen und Verteidiger der sozialen Gerechtigkeit aber nicht daran, die Akte »Şenyaşar« mit hoher Aufmerksamkeit zu verfolgen und vor der Justiz und Öffentlichkeit zu verteidigen. Die Familie Şenyaşar braucht keine gemeinsamen Bilder vor dem Gerichtsgebäude in Pirsûs. Was sie brauchen, ist die Konfrontation des Staates mit diesen Morden bis ins kleinste Detail. Wer, wenn nicht der Staat, ist würdig genug dafür?

Die Familie Şenyaşar wurde brutal ermordet, weil sie von ihrem Recht Gebrauch machte, nein zur AKP zu sagen – ihre Mörder wurden belohnt. Das ist nicht nur ein rechtliches und politisches Fiasko, sondern auch gleichzeitig eine gesellschaftliche Tragödie. Weil die Şenyaşars »Nein« zum Gutsherren und seinen Leibwächtern gesagt und sein Gutsherrengehabe im Einkaufsviertel in Pirsûs begraben haben, hat sich der in seinem Stolz verletzte İbrahim Halil Yıldız das Recht herausgenommen, drei Menschenleben auszulöschen. Aus diesem Grund bedeutet Solidarität mit der Familie Şenyaşar, gesellschaftliche Gerechtigkeit zu übernehmen.

Die HDP soll genau aus diesem Grund verboten werden. Weil sie die Partei der Şenyaşars ist, weil sie den Unterdrückten Mut gibt, nein zu sagen, weil sie den Kurd*innen die Möglichkeit bietet, eine andere Partei als die der Gutsherren zu wählen, weil sie den vor Unterdrückung Erstickenden, den in ihrer Würde Verletzten und den zur Ausweglosigkeit Verurteilten einen Ausweg bietet. Weil sie den Rebellierenden zeigt, dass sie nicht allein sind, sondern viele und sie nicht vernichtet werden können.

Die HDP hat mit den Entscheidungen auf ihrer Fraktionssitzung am 28. März bewiesen, dass sie der Stimmen dieser Wähler würdig ist. Die Worte des Ko-Vorsitzenden Mithat Sancar sind wegweisend. Die HDP wird ihren Weg weitergehen. Wir werden ein Verbot der HDP nicht zulassen und diesen Versuch ins Leere laufen lassen. Wir werden die HDP stärken und unseren Weg weiter verfolgen. Lug und Trug dieser Regierung sind weit verbreitet. Das bereitet uns keine Sorge. Ihnen sollten unser Widerstand und unser fester Entschluss Sorge bereiten. Die HDP wird weiterleben, denn sie ist das Volk. Es ist jetzt die Zeit, die HDP zu stärken.


Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021