»Wir leben in einer Revolution mit dem Ziel, ein demokratisches System zu schaffen«

Die Pläne des türkischen Staates sind gescheitert

Interview mit Aldar Xelîl, PYD

Aldar Xelîl, Mitglied des Vorstandsrates der Partei der Demokratischen Einheit PYD, erläutert die Fortschritte bei den Bemühungen um die nationale Einheit, die aktuellen Angriffe der Türkei auf die demokratische Selbstverwaltung von Nord-und Ostsyrien und den Stand der diplomatischen Bemühungen der Selbstverwaltung. Das Interview führte Mustafa Çoban.

Ihnen ist die Arbeit an der nationalen Einheit besonders wichtig. Können Sie uns den derzeitigen Stand der laufenden Verhandlungen mit dem kurdischen Nationalrat (ENKS) und die angedachte Richtung vorstellen?

Zeit für Freiheit: Demonstration für die Freiheit Öcalans in Qamişlo. | Foto: anhaDie Schaffung der nationalen Einheit wäre in jedem Fall ein sehr wichtiger Schritt in unserem Kampf und würde einen Fortschritt und Erfolg für unser Volk bedeuten, das seit einem Jahrhundert kämpft. Dass wir eine Einheit brauchen, zeigt sich immer wieder; wir müssen aber genau bestimmen, wie sie aussehen soll. Alle Teile der kurdischen Gesellschaft müssen sich engagieren, sich an der Weiterentwicklung der Gesellschaft beteiligen und den Kampf gemeinsam führen. Wir können aber auch sagen, dass eine Einheit tatsächlich auf einer Ebene schon geschaffen wurde. Vor allem in der Revolution in Rojava beteiligen sich seit 2011 Menschen aus allen Teilen des Volkes an der Arbeit in der Region und entwickeln sie gemeinsam weiter. Ein weiterer Fortschritt kann aber nur mit der Beteiligung aller politischen Parteien erreicht werden.

Für die Entwicklung und Stärkung einer Einheit sind aber eine Reihe von Maßnahmen und Regeln notwendig. Diejenigen, die Teil der Einheit sein wollen, müssen sich über einige Dinge im Klaren sein. Es wurden bereits große Schritte unternommen. In Rojava haben die Parteien des Bündnisses für eine geeinte Nation Kurdistan (PYNK) seit 2014 Teil an der nord- und ostsyrischen Selbstverwaltung und arbeiten dort zusammen. Eine Seite fehlt jedoch, nämlich die Parteien des ENKS, der verlängerte Arm der südkurdischen PDK (Demokratische Partei Kurdistans) und deren Unterstützer.

Zwei Dimensionen sind wichtig: Zum einen ist es wichtig, einen nationalen Kongress für ganz Kurdistan abzuhalten. Um auf regionaler Ebene in Rojava einen Schritt weiter zu kommen, müssen die genannten Parteien sich auch mit dem Bündnis für eine geeinte Nation Kurdistan (PYNK) zusammenschließen. Wir können den aktuellen Zustand nicht als allgemeine nationale Einheit bezeichnen; es besteht nur ein Bündnis einiger Parteien, die noch keine Einheit bilden. Diese Parteien verhandeln und arbeiten seit mehr als acht Monaten miteinander. Es wurden Fortschritte erzielt und gemeinsame Standpunkte zu politischen Fragen entwickelt. Darüber hinaus haben wir uns darauf geeinigt, dass wir manche Entscheidungen gemeinsam treffen, einen Dialog führen und zusammenarbeiten, um in Rojava eine kurdische Instanz zu haben.

Wir haben erklärt, dass 40 Prozent der von Kurd*innen besetzten Ämter in der Autonomieverwaltung vom PYNK und weitere 40 Prozent aus ENKS-Parteien besetzt werden sollten; die restlichen 20 Prozent sollten zu gleichen Teilen, je 10 Prozent vom PYNK und vom ENKS bestimmt werden. Aber diese 20 Prozent sollten mit Vertreter*innen besetzt werden, die nicht aus Parteien dieser beiden Bündnisse kommen. Es gab bereits dahingehende allgemeine Vereinbarungen, aber der ENKS machte Probleme. Er wollte den vereinbarten und festgeschriebenen Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien ändern. Wir finden das nicht richtig und haben gesagt, dass dieser Vertrag mit dem gesellschaftlichen Willen der Menschen aller Volksgruppen der Region erarbeitet wurde – Kurd*innen, Araber*innen und Assyrer*innen sind Partner. Wir haben uns mit mehreren politischen Parteien getroffen und festgestellt, dass es nicht richtig ist, diesen Status zu ändern. Der ENKS hat das jedoch zur Bedingung gemacht und erklärt weiterhin, dass er den Gesellschaftsvertrag solange nicht unterzeichnen wird, bis er geändert wurde. Das halten wir für falsch, es ist ein echtes Problem.

Wir haben die Parteien des ENKS sogar gefragt, was genau sie am Vertrag ändern möchten und erklärt, dass wir es verstehen möchten. Sie haben Widersprüche zur aktuellen Verwaltung. Was sie fordern, würde aber nicht zu einer Stärkung, sondern zu einer Verschlechterung der Verwaltung führen. In der Diskussion über Einheit und Bündnis sollte nicht die Auflösung von Vorhandenem gefordert werden, sondern es sollte das Vorhandene mit Hilfe von Vereinbarungen gestärkt werden. Aber sie sagen: »Nein. Um mit euch Vereinbarungen treffen zu können, muss das Vorhandene abgeschafft werden.« Sie wollen beispielsweise die Selbstverteidigung und das muttersprachliche Bildungssystem abschaffen und auch das System des Ko-Vorsitzes beenden. Tatsächlich haben wir zu einigen Konzepten unseres Gesellschaftsprojektes keine gemeinsame Meinung. Zum Beispiel interessiert sie das Konzept der demokratischen Nation kaum. Wir stecken also in einer problematischen Situation. Da der vermittelnde US-Vertreter in Syrien das Land wegen der Wahl in den USA verlassen hat, sind die Gespräche unterbrochen; und da er noch nicht wieder zurückgekehrt ist, wurden die Verhandlungen auch noch nicht wieder aufgenommen.

Der ENKS stellte in den Gesprächen eine Reihe von Bedingungen auf, aber die Menschen im Nordosten Syriens erklärten, dass deren Erfüllung unmöglich sei. Gibt es in dieser Hinsicht Fortschritte?

Der ENKS äußerte den Wunsch, in die Verwaltung eingebunden zu werden, was wir mit den Worten begrüßt haben: »Bisher habt ihr mit dem Feind kollaboriert und seid Teil der unter dem Einfluss des türkischen Staates stehenden und weitestgehend aus Mitgliedern der Muslimbruderschaft bestehenden Koalition syrischer Rebellen. Das ist die Position, die ihr bezogen habt. Wenn ihr wirklich Teil dieser Verwaltung werden wollt, dann ist das an sich eine gute Entwicklung. Es gibt jedoch einige Bedingungen und Regeln. Wenn ihr in die Leitung wollt, müssen Wahlen durchgeführt werden. Lasst uns alle gemeinsam zur Wahl antreten und auf diese Weise Teil der Leitung werden.« Sie bestehen aber darauf, ohne Wahlen in die Verwaltung einzutreten. Wir haben ihnen auch gesagt, dass sie an einigen Stellen eigene Mitglieder für eine Mitarbeit aufstellen können, aber wir können nicht alle aufnehmen. Das wiederum akzeptieren sie nicht. Sie wollen die Hälfte der Verwaltungsebene. Aber ohne Wahlen die Hälfte zu fordern, ist inakzeptabel. Deshalb sind die Gespräche vorerst ins Stocken geraten. Es gibt noch einige weitere Aspekte, die aber bisher nicht auf der Agenda standen. Sie werden in den nächsten Sitzungen und Gesprächen angegangen werden. Da wären beispielsweise die Roj-Peschmerga. Sie sind eigentlich eine Bande, keine Peschmerga. In den Händen des türkischen Staates sind sie zu einer Bande geworden, die er nach Gutdünken benutzen kann. So setzte die Türkei sie z. B. in Şengal für den Angriff auf die Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ) ein. Und als die Türkei die Straße nach Südkurdistan blockieren wollte, wurden nicht die Peschmerga aus Başûr dorthin geschickt, sondern die Roj-Peschmerga. Auch in Metîna und Gare waren sie diejenigen Kräfte, die auf die Guerilla gehetzt wurden. Mit anderen Worten, so wie Erdoğan syrische Oppositionelle nach Libyen und Aserbaidschan schickt, setzt er die Roj-Peschmerga gegen die Kräfte der kurdischen Freiheitsbewegung ein, gegen die Guerilla, gegen uns. Sie sind eben eine Bande, und solche Banden können wir nicht akzeptieren. Wir können kriminellen Banden keine militärischen Aufgaben in Rojava übertragen.

Trotz seiner Vereinbarungen mit den USA und Russland lotet der türkische Staat derzeit die Möglichkeiten von Angriffen auf Ain Issa und Til Temir aus. Warum ist die Türkei Ihrer Meinung nach so hartnäckig und besatzungshungrig?

Der türkische Staat erkennt keine Regeln und Vereinbarungen an. Das türkische Staatssystem, wie Erdoğan und Bahçeli es geformt haben, ist ein auf Expansion ausgerichtetes System. Sie wollen alle umliegenden Gebiete besetzen und ihren eigenen Worten nach eine »Groß-Türkei« schaffen. Wenn sie könnten, würden sie nicht nur Ain Issa und Til Temir, sondern ganz Rojava einnehmen. Jedoch haben sie nicht genügend Macht und sind nicht in der Lage, ein regionales wie internationales Gleichgewicht zu etablieren. Im Inneren erlebt die Türkei eine Wirtschaftskrise, und im Verhältnis zu den Nachbarländern befindet sie sich in einer außenpolitischen Krise. Der türkische Staat hat derzeit Probleme mit allen arabischen Ländern. Er hat Probleme mit Armenien, Libyen, Ägypten und Europa bzw. mit der Europäischen Union. Der türkische Staat ist zu einer Ursache der Krisen in der Region geworden. Er sieht nicht mehr in gleichem Maße wie bisher die Möglichkeit zu Angriffen, aber für seinen Fortbestand und seine Legitimation will er Zeiten des Vakuums und der Krise nutzen.

An welchem Punkt hat die Türkei falsch gelegen? Während sich Mitte Dezember die ganze Welt auf Weihnachten und die Feiertage vorbereitete und niemand seinen Amtsgeschäften nachging, wollte sie das Vakuum während des Führungswechsels in den USA nutzen. Sie griff unsere Region in der Erwartung an, ihr Ziel innerhalb von 1‒2 Tagen zu erreichen, stieß aber unverzüglich auf den Widerstand der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD). Diese haben wirklich einen großen und historischen Widerstand geleistet. An dieser Stelle grüße ich alle QSD-Kämpfer*innen. Seit einem Monat leisten sie Widerstand gegen die Angriffe. Die QSD-Kämpfer*innen ließen die Angreifenden keinen einzigen Schritt vorwärts gehen. Auch unser Volk widersetzte sich den Angriffen. Deshalb sind die Pläne der Türkei nicht in Erfüllung gegangen.

Der türkische Staat ist nicht nur als Militärmacht und durch seine Banden in den besetzten Gebieten präsent; seine Präsenz manifestiert sich von der Postorganisation über die Feuerwehr, den Bildungsinstitutionen bis zu Banken. Was wird getan, um die Besatzung durch den türkischen Staat zu beenden? Gibt es Pläne?

Der türkische Staat verhält sich in Nord-und Ostsyrien nicht wie ein gewöhnlicher Eindringling. Wenn Invasoren einen Ort besetzen, kommen sie normalerweise mit ihren Truppen und nehmen das Gebiet ein, aber das System des Landes bleibt das gleiche wie zuvor. Der türkische Staat handelt anders. Wenn er ein Gebiet besetzt hat, vertreibt er die einheimische Bevölkerung. Zwar handeln auch andere Besatzer so, dass sie ihre eigene Sprache einführen wollen, aber sie vertreiben die angestammte Bevölkerung nicht. Der türkische Staat vertreibt, verhaftet und foltert die überwiegende Mehrheit der Menschen, die in den besetzten Gebieten leben. Neben der gängigen Besatzungspolitik führt die Türkei ihre eigene Kultur und ihr Gesellschaftssystem ein, indem sie den Menschen ihre Sprache aufzwingt und demografische und kulturelle Veränderungen sowie solche an der offiziellen Geschichtsbetrachtung vornimmt. Die Besatzer schikanieren die Menschen der Region und begehen schwere Gräueltaten. Es ist nicht richtig, einfach zuzusehen und nicht einzugreifen. Der Kampf um die Befreiung der besetzten Gebiete muss verstärkt werden. Wir führen unseren Kampf entsprechend und wollen ihn im Jahr 2021 auf unterschiedlichen Ebenen ausweiten. Beispielsweise ist es notwendig, sowohl auf juristischer als auch auf diplomatischer Ebene zu kämpfen, Informationen über Rechtsverletzungen zu verbreiten und die Menschen zu warnen. Es ist wichtig, den Kampf der Menschen in den besetzten Gebieten zu organisieren. Wir müssen alle Aspekte ‒ einschließlich den militärischen – in Betracht ziehen. Wir sind entschlossen, die besetzten Gebiete zu befreien, in welcher Weise auch immer. Angesichts der zu erwartenden Entwicklungen und der geplanten Schritte hoffen wir, dass 2021 das Jahr der Befreiung der ganzen Region von Efrîn bis Serêkaniyê und Girê Spî wird.

Wie motivieren Sie die Gesellschaft gegen einen Staat wie die Türkei, der nicht einmal davor zurückschreckt, solche Methoden anzuwenden wie z. B. tollwütige Hunde über die Grenze zu schicken oder die Wasserversorgung zu kappen?

Unsere Bevölkerung sollte wissen, dass wir es mit einem sehr gewalttätigen Besatzer zu tun haben. Einerseits führen wir bereits unseren demokratischen Kampf gegen das Regime und das zentralistische, despotische System in Syrien. Wir leben in einer Revolution mit dem Ziel, ein demokratisches System zu schaffen. Und zusätzlich werden wir auch von Besatzern auf jede erdenkliche Weise angegriffen. Sie beschränken sich nicht nur darauf, tollwütige Hunde in die Gegend zu lassen und das Wasser abzustellen. Die Besatzungsmacht wird alle Möglichkeiten ausschöpfen.

Unsere Bevölkerung sollte wissen, dass dies die Wahrheit über die Besetzung durch den türkischen Staat ist. Wir dürfen nie hoffen, dass Besatzer uns Gutes tun werden. Das Beste, was wir tun können, ist, die Invasoren aus dem Land zu werfen. Die Bevölkerung muss sich in allen Bereichen (Wirtschaft, Politik, historische und kulturelle Arbeit usw.) und insbesondere im revolutionären Volkskampf gut organisieren, sich als Teil des Kampfes betrachten und ihn stärken, um der Besatzung keinen Vorschub zu leisten. Einige sagen manchmal: »Der türkische Staat soll das Wasser fließen lassen«. Bei unserem Problem mit dem türkischen Staat geht aber nicht nur darum, ob sie das Wasserwerk Elok arbeiten lassen, sondern das Problem ist die Besatzung selbst. Solange es sie gibt, werden solche Dinge passieren; die einzige Lösung ist das Ende der Besatzung.

Warum kann die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien trotz einer Türkei, die an verschiedenen Krisen leidet und deren Herrschende längst durchschaut worden sind, nicht genügend internationale Unterstützung gewinnen? Wie weit ist sie damit, Beziehungen in einen dauerhaften diplomatischen Gewinn umzuwandeln?

Im Bereich der Diplomatie wurden eine Reihe an Schritten unternommen. Unsere Revolution und die Verwaltung begannen bei Null, sogar unter Null, es gab nichts. Innerhalb kurzer Zeit wurde es geschafft, weltweit zu allen einflussreichen Kräften Beziehungen aufzubauen, und es kamen sogar Vertreter*innen vieler Länder hierher und haben sich mit Verantwortlichen getroffen. Das kam nicht von allein zustande, dafür haben wir viel gearbeitet. Wir sollten das also nicht unterschätzen. In der Regel ist diplomatische Arbeit keine, die schnell in ein, zwei Jahren entwickelt werden kann, sondern ist eine langwierige Angelegenheit. Bisher konnten erhebliche Fortschritte erzielt werden. Niemand erkannte die Autonomieverwaltung bei ihrer Gründung an, aber jetzt werden zumindest Gespräche mit ihren Vertreter*innen geführt, auch wenn die andere Seite darüber keine offizielle Erklärung abgibt. Diese Entwicklungen zeigen, dass die Selbstverwaltung auf dem Weg zur Anerkennung ist.

Diejenigen, die Einfluss in der Region haben, haben ein anderes System. Wir konnten nicht hoffen, dass die Selbstverwaltung bei ihnen gleich auf Akzeptanz stößt. Sie wird akzeptiert werden, aber dafür ist ein umfassender, langwieriger Kampf erforderlich. Die Selbstverwaltung ist ja keine Verwaltung, die den Wünschen und Herzen aller entspricht; aber einige Schritte sind dank der Kämpfe unserer Bevölkerung und unserer Gefallenen bereits getan.

Was sind die größten Hindernisse für einen Dialog für eine demokratische Lösung in Syrien? Warum geht es nicht weiter?

Die Vereinten Nationen (UN) haben sich für eine Lösung des syrischen Konflikts auf der Grundlage der Resolution 2254 entschieden. Dafür haben sie einen Vertreter ernannt, der den Dialog zwischen dem Regime in Damaskus und den syrischen Oppositionellen organisieren sollte. Bisher gab es jedoch keine Fortschritte, da die Gespräche auf einer falschen Grundlage stattfanden. Die Kräfte, die die UNO als Gesprächspartner betrachtet und mit denen ein Dialog entwickelt werden sollte, waren keine Oppositionellen, sondern Banden des türkischen Staates. Sie erkannten diese Schergen des türkischen Staats als Opposition an. Das ist falsch, denn sie verteidigen nicht die Demokratie, sie haben kein demokratisches Projekt. Sie arbeiten nicht für das syrische Volk. Es geht ihnen nicht darum, dass Syrien demokratisch wird. Ihre Sorge dreht sich um die Frage »wie können wir Erdoğans Pläne erfüllen«? In Erdoğans Plänen gibt es aber keine Demokratisierung Syriens. Das ist ein Aspekt der Sache. Der zweite Aspekt ist bereits die Intervention des türkischen Staates. Der Einfluss des türkischen Staates ließ eine rasche Entwicklung eines demokratischen Projektes für Syrien nicht zu. Der dritte Aspekt ist der eigene Einfluss des syrischen Regimes. Das syrische Regime will seine Macht aufrechterhalten und denkt zentralistisch, das ist ein Problem. Der vierte Aspekt ist die Tatsache, dass die wirklich demokratischen Kräfte der Region nicht in die Verhandlungsprozesse einbezogen werden.

Im Nordosten Syriens gibt es jetzt den Demokratischen Syrienrat (MSD), die Selbstverwaltung, politische Parteien und viele weitere Organisationen. Die einzelnen Regionen dort haben ihre eigenen Vertretungen und eigene Projekte. Abgesehen von diesen Kräften gibt es keine andere relevante demokratische Kraft in Syrien. Weder das syrische Regime noch die Muslimbruderschaft (Ihvan-I Muslim) noch die Schergen des türkischen Staates haben ein demokratisches Projekt. Die demokratischen Kräfte im Nordosten Syriens haben sie nicht in die Gespräche einbezogen. So viele Treffen haben sie in Genf abgehalten, ohne echte und legitime Vertreter*innen Syriens einzubeziehen.

Wir können noch einen fünften Aspekt nennen: Es gibt einige demokratische Persönlichkeiten und Gruppierungen in Syrien; es gibt einige kleine, aber bedeutende Organisationen, deren Ideen sich etwas unterscheiden. Diese Gruppen wurden auch nicht beteiligt, und ihnen wurde der Zutritt ebenfalls verwehrt.

Darum sind die Gespräche festgefahren. Weder wurde ein Dialog entwickelt noch eine syrische Verfassung erarbeitet.

Rund 5 Millionen Menschen leben in der Region, und die Selbstverwaltung gibt es seit 7 Jahren. Der Weg nach Til Koçer ist versperrt, und in Sêmalka ist die Lage unruhig. Die Grenze zur Türkei ist komplett abgeriegelt. Das Regime nutzt diese Situation. Können Sie erläutern, wie Ihre Bemühungen bei den Vereinten Nationen und internationalen Mächten aussehen, damit dieser Zustand überwunden werden kann und erklären, wie Ihre Versuche, direkte Beziehungen aufzubauen aussehen oder mit was für Hindernissen Sie konfrontiert werden?

Die Vereinten Nationen haben diesbezüglich einen historischen Fehler begangen. Laut UN-Dokumenten galt Til Koçer bisher als offizieller Grenzübergang. Sowohl für humanitäre Hilfsmaßnahmen und als auch für regionale Besucher*innen war Til Koçer anerkannt. Weil sie keinen gleichberechtigten und fairen Ansatz verfolgten, wurde Til Koçer von der offiziellen Liste der Grenzübergänge gestrichen. Dadurch ist die UNO an der Verhinderung humanitärer Hilfe für die Region beteiligt. Sêmalka ist ohnehin kein offizieller Grenzübergang. Nichtsdestotrotz hätte der Übergang Sêmalka eine positive Rolle für die Region spielen können. Auf der anderen Seite der Grenze hat jedoch die Regierung Südkurdistans Probleme. Dort kontrolliert nicht die Regierung den Grenzübergang, sondern eine Partei. Und diese Partei trifft ihre Entscheidungen mal so mal so, je nachdem, ob es Probleme gibt oder nicht. Mit anderen Worten: Sêmalka war kein Grenzübergang, über den die Region mit dem Notwendigen hätte versorgt werden können. Andererseits wissen wir, wie das Regime in den von ihm kontrollierten Regionen agiert. Bis bei uns etwas ankommt, gibt es viele Verzögerungen, hohe Steuern werden erhoben, und es müssen Umwege in Kauf genommen werden. Unsere Region ist in großen Schwierigkeiten. Unsere Bevölkerung versucht, soweit es geht, ihre Bedürfnisse aus eigener Kraft zu erfüllen, um nicht auf Unterstützung von außen abhängig zu sein.

Wie intensiv sind die diplomatischen Beziehungen zu den wichtigsten Akteuren der arabischen Welt wie Ägypten, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten? Gibt es Überlegungen und konkrete Unterstützung für die kurdisch-arabische Einheit in ihrer Region?

In letzter Zeit haben auch arabische Länder negative Erfahrungen mit dem türkischen Staat gemacht, der ihnen geschadet hat. Die Politik des türkischen Staates in der gesamten Region bereitet ihnen Sorgen. Darum haben sie sich vom türkischen Regime distanziert. Dies ist einer der Faktoren, die der Selbstverwaltung Türen geöffnet und der Diplomatie den Weg geebnet haben. Die genannten arabischen Länder haben zudem den Kampf und die Erfolge gegen den IS gesehen. Und drittens hat der türkische Staat Söldnertruppen nach Libyen, einem Nachbarland von Ägypten verlegt, wodurch er für Ägypten zur großen Gefahr geworden ist. Diese Faktoren haben die Entwicklung der Beziehungen zu den genannten Ländern beeinflusst. Die Beziehungen sind zwar nicht so intensiv, dass umgehend auf Angriffe reagiert werden kann, aber sie sind auch nicht nur oberflächlich, sondern auf einem durchschnittlichen Niveau. Es werden gemeinsame Interessen erörtert. Unser Augenmerk liegt darauf, dass der IS und der türkische Staat für alle Länder der Region eine Gefahr darstellen.

Russland ist auch in die nordostsyrischen Gebiete jenseits der Regionen Efrîn und Deir ez-Zor vorgedrungen. Jetzt sind auch in Kobanê, Ain Issa und Qamişlo russische Kräfte stationiert. Zuletzt führte eine Delegation aus Nordostsyrien Gespräche in Russland. Wohin entwickelt sich Russlands Politik gegenüber Nordostsyrien im Kontext seiner Beziehungen zum Regime, Iran und der Türkei?

Russland spielt sowohl für das syrische Regime als auch für unsere Region eine wichtige Rolle. Seit jeher ist Russland in Syrien präsent. Auf den türkischen Staat hat Russland ebenfalls Einfluss. Wir wollten stets, dass Russland bei unseren Gesprächen und Dialogen mit dem syrischen Regime vermittelt. Auch für die Anerkennung unseres demokratischen Projektes durch das syrische Regime wollten wir Russland als Vermittler. Wir haben uns sehr bemüht, aber Russland hat unsere Erwartungen bisher nicht erfüllt. Wir verstehen das so, dass noch keine Entscheidung für einen sofortigen Frieden in Syrien getroffen wurde; wir arbeiten aber weiter daran und hoffen, dass Russland eine nützliche Rolle spielt und das Regime davon überzeugt, den Dialog zu beginnen.

Die USA sind in der Region einer der wichtigen Akteure. Die jüngsten Reden, Interviews und Aussagen des US-Sonderbeauftragten für Syrien James Jeffrey, der nach Trumps verlorener Wahl zurückgetreten ist, zeigen, dass er der Türkei große Beachtung schenkte. Hat Sie das überrascht? Erwarten Sie eine Ausweitung der Beziehungen zu den USA über die militärischen Beziehungen hinaus?

Die USA halten sich hier aus rein eigenem Interesse auf. Sie wollen nicht, dass allein die Russen Einfluss haben; und sie wollen auch nicht, dass der Iran Einfluss in der Region hat. Außerdem wollen sie nicht von den Entwicklungen in der Region ausgeschlossen sein, sondern sie in ihrem Sinne beeinflussen. Wir sind mit ihnen eine Partnerschaft im Kampf gegen den IS eingegangen, aber die US-Politik tut nichts für uns. Da die USA sich aber sowieso in der Region aufhalten, überlegen wir, wie wir von ihnen profitieren können. Sie haben auch von uns profitiert. Ohne uns hätten sie beispielsweise den IS nicht bekämpfen können. Durch ihre Anwesenheit profitieren wir von einer indirekten politischen und diplomatischen Anerkennung der Autonomieverwaltung.

Die Trump-Ära war für die Menschen in der ganzen Region ein Desaster. Nicht nur für uns, sondern auch für Palästina, Libyen, Armenien, Jemen, Irak und alle anderen Teile Kurdistans war Trumps Haltung fatal. Es gibt kurzfristige politische Entwicklungen in der Region, die US-Strategie jedoch wechselt nicht so schnell. Davon kann für taktische Ansätze profitiert werden.

Wie wirken sich die Haltungen des iranischen, russischen und syrischen Regimes auf Sie aus?

Iran ist der Besatzer eines Teils von Kurdistans, und unser Volk in Ostkurdistan setzt den dortigen Kampf fort. Regelmäßig sind dort Hinrichtungen an der Tagesordnung. Seit den Angriffen der USA und Israels hat sich die Präsenz des Iran in Syrien verringert. Sie waren kein einflussreicher Faktor, weder für die Region noch für uns. Irans Ansichten tragen nicht zu einer Lösung bei, sie spiegeln die Haltung des syrischen Regimes wieder. Das syrische Regime steht unter dem Einfluss des Iran und Russlands, es hat keinen Schritt hin zu einer Lösung getan. Ganz im Gegenteil will es die befreiten Gebiete zurückerobern und seine Herrschaft dort aufrechterhalten.


Kurdistan Report 214 | März/April 2021