»Das Wissen der Frauen über das Leben und die Freiheit erneut zum Strahlen bringen«
Jinwar: Die Beziehungen stärken, um unser Zusammenleben zu verteidigen
Neujahrsgrüße aus aus dem Frauendorf Jinwar
»Jede Frau ist ein Teil der Welt, groß und weit. Indem wir jede Frau kennenlernen, wird unser Horizont erweitert und unsere Welt bereichert ‒ sie wird klarer ‒, und unsere Beziehungen mit den Kindern und auch mit der Gesellschaft gewinnen an Bedeutung.« Rat von Jinwar
Liebe Freundinnen von Jinwar,
wie geht es euch? Es ist schon wieder eine ereignisreiche Zeit vergangen und sogar ein neues Jahr ist angebrochen. Wir wünschen euch natürlich allen ein gesundes und ein gutes neues Jahr.
Hier haben wir zusammen mit unseren Nachbarn das neue Jahr begrüßt, mit einem großen Feuer, Früchten und Gesang. Am Nachmittag ist der Rat der Lehrerinnen gekommen und hat mit den Schulkindern eine Neujahrsfeier gemacht, und ein paar Frauen sind in die nahegelegene Kirche zum Neujahrsgebet gefahren, um die christliche Tradition kennenzulernen. Wir haben uns sehr über den zahlreichen Besuch gefreut.
Hier sind nun die Neuigkeiten, die wir mit euch teilen wollen:
Zuallererst möchten wir folgendes hervorheben: Jede Frau, jedes Kind, jeder Gast, der nach Jinwar kommt, hat eine eigene Geschichte. Diese Geschichten tragen dazu bei, unsere Erfahrungen und unser Wissen über unsere gemeinsame Geschichte zu bereichern und zu vertiefen. Mit jeder Geschichte, die wir uns erzählen, können wir unser Leben besser verstehen, denn wir sammeln die Identitäten von Frauen aus früheren und jetzigen Zeiten. Diese Sammlung ist unsere Identität.
Durch unser gemeinsames Leben, durch unsere gemeinsame Arbeit, durch jeden geteilten Tag und durch den gemeinsamen Austausch, wird diese gemeinsame Geschichte lebendig. Vor allem erweitern wir unsere Gedanken und entwickeln ein gemeinsames Verständnis von uns, unserer Identität als Frauen, unserer Geschichte und unserer Rolle darin. Dieses Verständnis bildet die Grundlage dafür, dass wir gemeinsam ein gutes, ein schönes und ein richtiges Leben erschaffen.
In diesem Sinn sind wir in der letzten Zeit den Spuren der matriarchalen Kulturen und Zivilisationen durch die letzten fünf Jahrtausende gefolgt.
Von den fruchtbaren Ufern des Tigris, zur Muttergöttin Inanna, von Girê Çaxil bis Cîl Xanê in Efrîn, von den Traditionen der Landwirtschaft, des Spinnens, Webens und Mahlens, von Newroz bis Akito und von den Geschichten unserer Großmütter bis insHeute nach Jinwar.
»Diesen Mahlstein gab es auch in meiner Familie und er wird bis heute benutzt. Ich hätte nicht gedacht, dass der Tag kommen wird, an dem ich erfahre, dass jene Dinge aus den Händen von Frauen entspringen. Es wurde immer gesagt, dass das die Männer gemacht haben.« (Canda)
Wer und wie sind Frauen?
Was ist eigentlich unter den Hügeln versteckt, die überall zu sehen sind?
Welche Lieder haben unsere Großmütter gesungen? Und was bedeuten sie?
Durch die Forschungen der Jineolojî und den gesammelten Geschichten, dem Wissen und den Erfahrungen vieler Frauen aus Rojava, Kurdistan und dem Mittleren Osten lernen wir nach und nach die Geschichte der matriarchalen Gesellschaften und Kulturen gemeinsam kennen.
Jinwar ist ein Teil dieser lebendigen Geschichte, denn hier wollen wir das Wissen der Frauen über das Leben und die Freiheit erneut zum Strahlen bringen.
Besondere Bedeutung haben für uns die Abende, an denen wir in den langen Nächten des Winters zusammengekommen sind: wir und die Kinder und Frauen der Nachbardörfer. Gemeinsam haben wir uns die Geschichten über verschiedene historische Orte wie z. B. Göbekli Tepe oder die Geschichte von Şahmaran und Elo Dîno angehört.
Vor allem aber haben wir auch unsere eigenen Geschichten erzählt ‒ von den heiligen historischen Orten und jenen alten Geschichten und Traditionen, von denen noch in unseren Dörfern gesprochen wird ‒ Spuren des Neolithikums, Spuren jener Kultur der Frauen, jener matriarchalen Kulturen der Region.
Auch die Kinder aus den Nachbardörfern sind gekommen. Wir haben auch gemeinsam Geschichten angehört, Filme geschaut und zum neuen Jahr einen Baum gepflanzt und unsere Wünsche für das neue Jahr, gebunden in bunten Fäden und Perlen an den Baum in der Dorfmitte geknüpft ‒ auf dass sie in Erfüllung gehen!
Weiterhin sind die Kälte und der Wind gekommen, sie haben aber den Regen nicht mitgebracht. Dieses Jahr hat der Regen lange auf sich warten lassen, bis nach Neujahr ist der Regen nicht gekommen, obwohl die Gerste und der Weizen schon eingesät waren. Das war und ist ein großes Problem für die Landwirtschaft und für alle, die ihre Felder für die neue Saison vorbereitet und eingesät haben.
So haben wir gesagt: Der Regen ist wichtig, wir brauchen den Regen.
Eine der Traditionen, die in unseren Dörfern immer noch bekannt ist, sind die Umzüge für den Regen.
Und was haben wir dann gemacht?
Wir, die Kinder von Jinwar, haben mit den Kindern aus den anderen Dörfern Regenpuppen gemacht und sind mit ihnen unter lauten Sprechchören durch die Dörfer von Haus zu Haus gezogen, um den Regen zu rufen. Die Frauen der Häuser haben als Antwort Wasser auf uns gespritzt, damit der Regen auch wirklich kommt.
So ist nun endlich auch der Regen gekommen! Aber bisher nicht so viel, wie wir es uns wünschen. Dennoch haben wir die Zwiebeln und den Knoblauch als gemeinsame Dorfarbeit zusammen mit den Kindern und den Lehrerinnen gesteckt, was uns sehr viel Freude gebracht hat.
Wir können euch noch etwas mitteilen: Noch im letzten Jahr sind über 20 Lämmer geboren worden. Nun melken wir seit einiger Zeit wieder und machen Joghurt.
Und wir wollen euch noch etwas mitteilen: Dieses Jahr werden wir ein großes Projekt starten. Es ist ein Projekt, in dem es um Wollarbeiten geht. Aus Wolle spinnen wir Garn, das wir dann weiter verarbeiten zu Mützen, Handschuhen, Pullovern, Taschen, Teppichen und Decken.
Aber wie spinnen wir den Faden? Mit dem Teşî, mit einer traditionellen Spindel. Unser Ziel ist es dabei, die regionale traditionelle Kultur des Spinnens und des Webens in all ihrer Vielfalt, vom Wollewaschen bis zum Fadenspinnen bis zu den traditionellen Liedern, die bei der Arbeit gesungen werden oder jenen Geschichten, die bei der Arbeit erzählt werden, wieder lebendig zu machen und um die Handarbeiten von Frauen weiterzuentwickeln.
In diesem Projekt können alle Frauen teilnehmen, unabhängig von ihrer Nationalität.
Während unserer Vorbereitungen für dieses Projekt bereiten sich die Schulkinder von Jinwar und diejenigen, die aus den Nachbardörfern zur Schule nach Jinwar kommen, auf ihre Prüfungen vor, denn bald fangen die Ferien an.
Und natürlich sind auch die Arbeiten im Heilzentrum Şîfa Jin weitergegangen. Seit der Eröffnung im letzten Jahr am 4. März sind über 2000 Frauen und Kinder in das Heilzentrum gekommen. Wir freuen uns euch mitteilen zu können, dass nun auch eine Hebamme zu dem Team der Şîfa Jin dazugestoßen ist, sodass nun auch Schwangere und Gebärende zu uns ins Gesundheitszentrum kommen können. Wir warten auf das erste Kind, das hier in Jinwar geboren wird.
In der letzten Zeit konnten wir auch wieder viele Gäste willkommen heißen, wie z. B. die Gruppe junger Frauen aus Hesekê, die Studentinnen der Jineolojî-Fakultät und Gäste aus Katalonien. Wir danken natürlich allen, die gekommen sind und uns mit ihrem Besuch bereichert haben.
Vor allem haben wir uns aber über den Besuch der Studierenden der Universität Roajava gefreut.
Am 9. Januar, als wir gerade von der Aktion zum Jahrestag der gefallenen Revolutionärinnen Sara, Ronahî und Rojbîn zurück ins Dorf gekommen sind, wurden wir von Klängen des Tamburs und der Trommel begrüßt.
Die Studentinnen haben ihre eigenen Instrumente mitgebracht und ein sehr schönes Konzert in Jinwar gegeben. Vor allem jene Lieder aus Efrîn haben alle sehr berührt, beim gemeinsamen Tanzen ist eine große Sehnsucht der Studentinnen und Lehrerinnen nach Efrîn zum Ausdruck gekommen. Auf dass sie zu ihrer eigenen Musik mit ihren eigenen Tänzen wieder auf ihrer eigenen Erde tanzen können.
So wie Efrîn, das immer noch vom türkischen Staat und seinen Verbündeten besetzt ist, werden viele andere Orte tagtäglich angegriffen, unermessliche Gewalt wird ausgeübt. Vor allem Frauen, die sich als Teil der Revolution begreifen und die Werte eines demokratischen und ökologischen Lebens durch ihre täglichen Mühen und Kämpfe umsetzen und verteidigen, und jene Frauen, die rund um jene matriarchale Kultur, deren Erbinnen wir sind, ein gemeinsames Leben aufbauen, werden gezielt angegriffen.
Umso mehr wollen wir uns und unsere Beziehungen stärken, um unser gemeinsames Zusammenleben zu verteidigen.
In diesem Sinn laden wir euch nach Jinwar ein, um uns gegenseitig kennenlernen zu können.
Wir freuen uns auf euren Besuch.
Bis dahin,
Alles Gute und viele liebe Grüße
PS.: Natürlich, wie immer, wünschen wir uns Rückmeldungen, Fragen und Vorschläge, Gedanken und Geschichten.
Kurdistan Report 214 | März/April 2021