Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
ein neues Jahr hat begonnen und natürlich werden wir auch in diesem Jahr mit großer Aufmerksamkeit die Entwicklungen in Kurdistan, im Nahen und Mittleren Osten sowie in anderen Ländern verfolgen. Während die gegenwärtige internationale Politik und gesellschaftliche Atmosphäre vor allem von Unsicherheit geprägt ist, lassen sich für das Jahr 2021 in Kurdistan vor allem zwei zentrale Herausforderungen benennen:
Zum einen gilt es, die in Kurdistan geschaffenen Inseln der Demokratie zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Der politische Kampf um die Zuerkennung eines Status zum Schutz des selbstverwalteten Flüchtlingslagers Mexmûr im Nordirak und des êzîdischen Hauptsiedlungsgebiets Şengal in Südkurdistan oder der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens bleiben weiterhin oben auf der Agenda. In Nordkurdistan bzw. der Türkei ist es die Demokratische Partei der Völker (HDP), die Zivilgesellschaft und vor allem die kurdische Frauenbewegung, die sich für Demokratie, Frauenbefreiung und Ökologie einsetzen. Diese Inseln inmitten eines Meeres von Krieg und Chaos eint allesamt die Verbundenheit zur kurdischen Freiheitsbewegung und ihrem Vordenker Abdullah Öcalan.
Zum anderen werden diese befreiten und umkämpften Gebiete sowie die ihnen zugrundeliegenden revolutionären Ideen auch brutalen Angriffen ausgesetzt sein. Der Aggressor ist hierbei im Besonderen die Türkei. Sie hat nicht nur den Kurd*innen innerhalb der eigenen Grenzen, sondern auch in den anderen Teilen Kurdistans offen den Krieg erklärt. Der Bruch von Völker- und Menschenrecht durch die türkische Armee und ihre dschihadistischen Söldnertruppen ist noch immer Alltag in Kurdistan. Im letzten Jahr ist die internationale Öffentlichkeit auch Zeuge dieser Praxis in anderen Ländern wie in Libyen und in Arzach geworden. Diese imperiale Kriegspolitik der Türkei zu stoppen und diejenigen Staatsregierungen, die hinter ihr stehen – samt der deutschen Bundesregierung – zu entblößen, ist die zweite zentrale Herausforderung, der wir im neuen Jahr entgegenblicken.
Die legitime Selbstverteidigung gegen Angriffe der türkischen Armee wird also auch in diesem Jahr einen zentralen Platz in der kurdischen Politik einnehmen. Die Eskalation des Kriegs seit dem Ende des sogenannten Friedensprozesses im Jahr 2015 hat nochmals die wichtige Rolle der Volksverteidigungskräfte (Hêzên Parastina Gel, HPG) bewahrheitet. Zuletzt haben diese erfolgreich die türkischen Besatzungsoffensiven in den Medya-Verteidigungsgebieten in Südkurdistan zurückgeschlagen. Trotz Angriffen von allen Seiten schafft es die kurdische Freiheitsbewegung die Pläne ihrer vielen Feinde zu durchkreuzen. Sei es mit dem erfolgreichen militärischen Widerstand gegen die zweitgrößte NATO-Armee im südkurdischen Heftanîn oder auch mit zivilgesellschaftlichem Protest gegen das schmutzige Abkommen gegen die autonomen Selbstverwaltungsstrukturen in Şengal.
Mit dem Jahreswechsel reagiert die kurdische Freiheitsbewegung jedoch nicht nur gegen all diese Angriffe, sondern verfolgt auch ihre eigene Tagesordnung und setzt Akzente. Ganz vorne dabei steht natürlich die kurdische Frauenbewegung. Mit ihrer Kampagne »100 Gründe, um den Diktator zu verurteilen« verfolgt sie das Ziel, dass der Feminizid auf internationaler Ebene als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt und Erdoğan als Haupttäter der Prozess gemacht wird.
Wir stehen also auch in diesem neuen Jahr vor zahlreichen Herausforderungen. Lasst uns also aktiv werden. Das ist letztlich auch die einzig richtige Antwort auf die Entwicklungen in Kurdistan sowie weltweit.
Die Redaktion
Kurdistan Report 213 | Januar/Februar 2021