Das Ende der AKP und der türkisch-islamischen Synthese

Alle Hoffnungen und Träume enttäuscht

Kommentar von Suat Bozkuş, Journalist

Das Ende der AKP und der türkisch-islamischen SyntheseDie möglichen Auswirkungen der zunehmenden internen Widersprüche, die Austritte und die Bedeutung der neu gegründeten Parteien haben eine Debatte darüber ausgelöst, ob sich die Ära der seit 2002 an der Macht befindlichen AKP ihrem Ende zuneigt. Für eine nähere Betrachtung sollten wir uns ein wenig an die Zeit erinnern, die dem Aufstieg der AKP den Weg geebnet hat.

In den 1990er Jahren brach der hundertjährige Status quo der Region zusammen und der Auflösungsprozess begann. Während die Regierungen in der Region ums Überleben kämpften, beeilten sich die Weltmächte, einen neuen Status quo zu schaffen.

In der Türkei ist die hundertjährige monotheistische Struktur der Republik ins Wanken geraten. Die Kräfte des Status quo wurden einerseits von dem beginnenden Kampf für die Freiheit Kurdistans und die Bildung der Volksopposition, andererseits von der weltweiten Welle des Wandels bedrängt. Aber auch sie versuchten, wie die derzeitige AKP, u. a. mit Waffengewalt sowohl bestehen zu bleiben als auch um jeden Preis das Heft in der Hand zu behalten. Der Staatsführung des selbsternannten Reformisten und Staatspräsidenten Turgut Özal wurde auf tragische Weise ein Ende gesetzt. [Es wurde der Verdacht einer Vergiftung geäußert.] Nach seiner Amtszeit bildeten traditionelle Status-quo-Parteien wie die DYP, SHP, MHP, ANAP und DSP verschiedene Koalitionen. Die wirtschaftliche und politische Krise verschärfte sich. Neben der wachsenden sozialen Opposition erstarkte von Tag zu Tag die Freiheitsbewegung Kurdistans. Die zentrale Politik dieser Systemparteien basierte auf Verleugnung und Zerstörung, die sie mit blindem und unbedingtem Ehrgeiz verfolgten, mit der Folge der Blockade und des Zerfalls der Gesellschaft.

Unter diesen Bedingungen wurde die AKP gegründet. Funktionäre aus den traditionellen rechten Parteien der Türkei übernahmen die Initiative. Anfangs gab es durchaus viele Menschen sozialdemokratisch-liberaler Herkunft. Auch die Teilnahme und das Gewicht der KurdInnen religiöser Herkunft ist bekannt.

Alle angesammelten Probleme, von der armenischen Frage bis Zypern, kamen auf den Tisch. Innenpolitisch wurde vom Dersim-Völkermord bis zur Gräueltat vom 12. September alles auf die Tagesordnung gesetzt. Somit wehte sozusagen der »Wind der Öffnung«. Jeden Tag wurde ein neues Aufklärungspaket vorbereitet. Man öffnete sich den KurdInnen, den AlevitInnen, den Minderheiten, den Roma und der Verfassung, den Kopenhagener Kriterien usw., und auf diese Weise schuf die AKP in der Gesellschaft die Hoffnung auf und den Traum von Veränderungen. Beeindruckt von diesem Wind unterstützten eine Menge Liberale die AKP und sie gewann auch die Sympathie und Unterstützung einiger Linker, zumindest hatte die AKP das grundlegende Interesse der Linken am weiteren Geschehen geweckt. Das Vertrauen und die Unterstützung des in- und ausländischen Kapitals waren enorm. Zu der Zeit berichteten die AKP-Medien: »Schaut mal, die ganze Welt findet Gefallen daran – er ist die Führung der Welt!«, und schmeichelten Erdoğan.

Bei den unter diesen Bedingungen abgehaltenen Wahlen blieben die traditionellen Parteien und die HADEP unter der Zehn-Prozent-Hürde, während die AKP 32 % der Stimmen bekam. Dennoch diskutierte niemand über die Legitimität dieser Macht. Im Gegenteil, die CHP unter der Führung von Deniz Baykal kooperierte mit Erdoğan u. a. für eine Verfassungsänderung, damit Baykal in die Politik zurückkehren konnte.

Seit ihrem Amtsantritt hat die AKP all ihre Versprechen, wie Reformen, ein Ende des Status quo, Demokratisierung und sogar fortschrittliche Demokratie, über Bord geworfen und das genaue Gegenteil umgesetzt.

Mit der Devise »Keine Probleme mit den Nachbarn« leitete Erdoğan eine Reihe von Treffen ein, um angehäufte Probleme friedlich zu lösen. Es gab zahlreiche vielversprechende Kontakte mit Griechenland, Zypern, Armenien, Syrien, Israel und anderen regionalen Staaten. Aber alles entpuppte sich als leeres Gerede, das zu keinem Ergebnis führte. Somit wurden die Völker der Türkei ihrer Hoffnung beraubt und zusätzlich wurde mit ihren Träumen gespielt. Viele, vor allem KurdInnen und Liberale, verließen die AKP.

In dieser Hinsicht bedeuteten die Wahlen vom 7. Juni 2015 einen Wendepunkt. Denn die AKP verlor nach den Regeln des geltenden Wahlsystems. Die Ein-Parteien-Ära ist vorbei. Die wahlberechtigten BürgerInnen haben der Ein-Mann-Führung rechtlich ein Ende gesetzt. Tatsächlich hat die AKP seither alle Wahlen, Referenden, Kommunalwahlen verloren, zu denen sie antrat.

Das politische Verhalten der Bevölkerung wurde zur kriminellen Handlung erklärt, und ihre politischen Präferenzen wurden mit harten Maßnahmen beantwortet, einschließlich staatlicher Gewalt. Mit der Ausschöpfung aller Mittel wie der Hilfe von YSK (Hoher Wahlausschuss), TRT (Türkische Hörfunk- und Fernsehanstalt), MIT (Nationaler Geheimdienst) und regimenahen Medien wurde der Schein gewahrt, gewonnen zu haben. Bei den letzten Kommunalwahlen wurde diese Tyrannei und Skrupellosigkeit deutlich. Doch dieses Mal ging der Schuss nach hinten los. Dennoch akzeptiert Erdoğan keine Niederlage. Im Gegenteil, er behauptet immer noch ohne Scham, gewonnen zu haben. Er verlässt sich dabei auf die Unterstützung der hinter ihm stehenden reaktionärsten Kräfte des Staates. Zudem erweckt noch heute die Straflosigkeit für die staatliche Praxis den Anschein, Erdoğan sei unantastbar. Währenddessen wird das Land im wahrsten Sinne des Wortes mit der Mentalität der AKP geplündert.

Es scheint, als hätten sich die Gründungsziele der AKP aus dem Jahr 2002 völlig in ihr Gegenteil verkehrt. Die meisten AKP-GründerInnen sind heute bereits aus der Partei ausgetreten oder ausgeschlossen worden. Obwohl einige AKP-Mitglieder das Debakel sahen und sagten: »Lasst uns zum Ursprung zurückkehren«, ist es dafür viel zu spät.

Erdoğan wird viel unternehmen, um die mit Unterstützung der MHP errichtete Ein-Mann-Diktatur aufrechtzuerhalten. Auf dem Weg zu den letzten Kommunalwahlen versuchte er die Bevölkerung und die gesamte Opposition, einschließlich der Gegenstimmen innerhalb der AKP, mit einer prognostizierten Gefahr des Überlebens zum Schweigen zu bringen, denn seine Politik lebt von der Spannung des Krieges, die für ihn unverzichtbar geworden ist. Das basisdemokratische Paradigma des kurdischen Volkes mit besonderem Fokus auf Geschlechterfreiheit und ökologische Gesellschaft stellt somit das größte Hindernis für das faschistische Regime, das AKP-MHP-Bündnis dar, das die Demokratie erstickt. Das kurdische Volk wird demnach einheitlich als Bedrohung für die Existenz des türkischen Nationalstaates angesehen. Der wahre Zweck der aktuellen Invasion Nord- und Ostsyriens ist der Versuch Erdoğans, durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und die damit einhergehende ethnische »Säuberung« die AKP und ihre Macht aufrechtzuerhalten. Aber seine Politik der Vernichtung und Besetzung wird für ihn kein gutes Ende nehmen. Diejenigen, die seinen Versuch, in Rojava und Südkurdistan einzudringen, mit Saddam Husseins Invasion in Kuwait vergleichen und ihm auch dasselbe Ende wie Saddam voraussagen, sollten Gehör finden.


 Kurdistan Report 206 | November/Dezember 2019