Eine Mittelostpolitik der antikapitalistischen Kräfte Deutschlands entwickeln
Selber machen
Arif Rhein, Mitarbeiter von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit
Wir brauchen Lösungen für die Krise im Mittleren Osten. Das Chaos in der Region dauert seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches vor 100 Jahren an. Seit dem Golfkrieg 1991 steckt die Region, die sich im weiteren Sinne von den Maghreb-Staaten bis nach Pakistan erstreckt (also deutlich größer ist als das, was als »Naher Osten« bezeichnet wird), in einer tiefgreifenden Krise, die kein Ende zu finden scheint. Die Folgen bekommen wir in Deutschland in Form von Geflüchteten, betroffenen Familienangehörigen oder deutschen Waffenexporten selbst zu spüren. Länder wie die Türkei, Syrien oder der Irak, die Situation des kurdischen Volkes oder verfolgter religiöser Gruppen sind in deutschen Medien oder politischen Diskussionsveranstaltungen immer wieder Thema. Warum aber schaffen wir es nicht, eigene Ideen zu entwickeln und praktisch werden zu lassen, die Frieden, Demokratie und Freiheit im Mittleren Osten ermöglichen? Die Beantwortung dieser Frage führt zwangsläufig zu einigen selbstkritischen Eingeständnissen, zu denen wir als antikapitalistischen Kräfte in Deutschland bereit sein müssen. Denn noch immer überlassen wir das Feld der Mittelostpolitik den Vertreter*innen des deutschen Staates, anstatt eine Alternative zu entwickeln, die auf unserer eigenen Kraft fußt und sich klar von der Weltmachtpolitik Deutschlands abgrenzt.
Den eigenen Nachbarn verstehen lernen
Menschliche Werte wie Freiheit und Gleichheit sind keine europäischen Erfindungen. Oft verfallen wir dem Glauben, die Ideen und Werte, für die wir uns als linke, demokratische Menschen einsetzen, seien im antiken Athen oder revolutionären Paris entwickelt worden. Das hängt u. a. mit unserem Geschichtsverständnis zusammen, also unserem historischen Horizont. Was wissen wir über außereuropäische Geschichte? Der Mittlere Osten und Europa beeinflussen sich als direkte Nachbarn seit Jahrtausenden gegenseitig. Die landwirtschaftliche Revolution und die Kultur der Sesshaftigkeit wurden über den Kaukasus und Anatolien nach Europa getragen. Griechische Philosophen wie Pythagoras genossen ihre Ausbildung in Ägypten oder Babylon. Die Phönizier im heutigen Libanon entwickelten das moderne Alphabet und verbreiteten es in der Mittelmeerregion. Wenn wir uns heute fragen, warum der Mittlere Osten so tief im Chaos versinkt, sind wir auch dazu gezwungen zu fragen: Wie gut verstehen wir unseren Nachbarn? Was wissen wir über seine Geschichte und damit auch seine Art zu fühlen, zu denken und zu handeln?
Die Mittelostpolitik des deutschen Staates ablehnen
Der deutsche Nationalstaat hat in den ca. 150 Jahren seines Bestehens sehr schnell damit begonnen, eine eigene Mittelostpolitik zu entwickeln. Spätestens mit dem Abdanken Bismarcks, der mehr auf ein Gleichgewicht der europäischen Mächte bedacht war, nahm das Interesse des noch jungen Deutschlands am Mittleren Osten zu. Man ging politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen mit dem damaligen Osmanischen Reich ein, die sich bis heute fortsetzen. Die strategischen deutschen Beziehungen zur Türkei, aber auch die regen Kontakte zu Ländern wie dem Iran und Ägypten sind eine Fortsetzung des alten deutschen Interesses an der Region. Der deutsche Staat betrachtet sein Verhältnis zu mittelöstlichen Mächten als Teil einer deutschen Weltmachtpolitik. Die Region bot sich vor 150 Jahren als imperialistisch weitgehend unerschlossenes Gebiet an, um alten Kolonialmächten wie Großbritannien und Frankreich Konkurrenz machen zu können. Seither ist es Teil der deutschen Staatsräson, über die Kontrolle des Mittleren Ostens den eigenen Einfluss bis nach Südostasien auszubauen und damit geopolitische Dominanz zu entwickeln. Nicht ohne Grund bezeichnet der Sicherheitsberater verschiedener US-Präsidenten Zbigniew Brzeziński in seinem Buch The Grand Chessboard den Mittleren Osten als Schlüsselregion für die Kontrolle Eurasiens und damit der Welt. Deutschland liefert heute Waffen in den Mittleren Osten – u. a. in die Türkei und nach Saudi-Arabien, und empfängt autokratische Herrscher aus der Region –, um den eigenen Weltmachtanspruch praktisch werden zu lassen, also das, was Staatsvertreter*innen seit einigen Jahren als »neue deutsche Verantwortung« bezeichnen. Die deutsche Mitverantwortung an den Kriegen, den Vertreibungen und der Ausbeutung im Mittleren Osten ist dementsprechend groß. Für uns antisystemische Kräfte in Deutschland stellt sich die drängende Frage, wie umfassend und realistisch wir die Mittelostpolitik des deutschen Staates verstehen, wie konsequent wir sie ablehnen und wie unsere Alternative zu ihr aussieht.
Eine eigene Agenda entwickeln
Diese Fragen bieten die Chance, eine grundlegende Schwäche der demokratischen Kräfte in Deutschland anzugehen: das fehlende Bewusstsein dafür, dass sie ein wichtiger politischer Akteur sind. Viel zu oft beschränken wir uns hier zu Lande darauf, staatliche Politik anzuprangern und auf sie zu reagieren. In Verbindung mit unserem oberflächlichen Wissen über unseren mittelöstlichen Nachbarn kommt dabei etwas heraus, das Rıza Altun, Exekutivratsmitglied der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), jüngst folgendermaßen beschrieben hat: »Obwohl diese Region [Mittlerer Osten] das älteste Zentrum der menschlichen Gesellschaftswerdung ist, ist sie heute derart zerstückelt, dass Millionen von Menschen fliehen müssen. Dafür gibt es Gründe. Antworten auf diese Situation kann man nur auf Grundlage eines tiefgreifenden und umfassenden Verständnisses für die Region finden. Man versteht rein gar nichts, wenn man ausschließlich die Gewalt und die von ihr hervorgerufenen Fluchtbewegungen über das Mittelmeer betrachtet. Diese Betrachtungsweise führt zu nichts mehr als einem schlechten Humanismus. Genau dies geschieht jedoch in gewisser Weise nach dem Motto: ›Die Situation im Mittleren Osten ist schlimm und rückständig. Daher fliehen die Menschen aus ihrer Heimat. Die Menschen, die unter dieser Situation leiden, müssen wir unterstützen.‹« Diese Kritik kann Anlass dazu bieten, als demokratische Kräfte in Deutschland (jenseits von Staat und Regierung) eine selbstbewusste und unabhängige Mittelostpolitik zu entwickeln. Es ist natürlich richtig, geflüchtete Menschen hier in Deutschland willkommen zu heißen. Zugleich müssen wir den Mut aufbringen, die u. a. von Deutschland geförderte Vertreibungs- und Völkermordpolitik im Mittleren Osten anzuprangern und als Konsequenz die Kräfte in der Region zu unterstützen, die Fluchtursachen bekämpfen. Eine eigene Mittelost-Agenda muss mindestens drei Strategien gleichzeitig verfolgen: Kriege verhindern, Fluchtursachen bekämpfen und Willkommenskultur entwickeln. Zurzeit liegt der praktische Schwerpunkt noch fast ausschließlich auf Letzterem.
Die linken Kräfte in Deutschland brauchen Partner*innen im Mittleren Osten, um ihre Agenda unabhängig von den internationalen Mächten oder den regionalen Staaten durchsetzen zu können. In allen Gesellschaften der Region finden sich mehr oder weniger stark organisierte demokratische Kräfte, die unsere Ansprechpartner*innen sein können. Die PKK ist eine davon. Als am besten organisierte und erfahrenste demokratische Kraft im Mittleren Osten macht es durchaus Sinn, den Austausch und die Zusammenarbeit mit ihr zu suchen. Dafür kann man aus Sicht der demokratischen Kräfte in Deutschland an einer wichtigen Entwicklung der letzten Jahre anknüpfen. Denn spätestens seit der Verteidigung von Kobanê 2014/15 haben weite Teile der Gesellschaft und der Linken in Deutschland ein neues Verhältnis zur PKK aufgebaut, mit dem sie sich bewusst von den Verleumdungen und der Kriminalisierung des deutschen Staates abgrenzen. Diese neue Qualität der Beziehungen zwischen antisystemischen Kräften in Deutschland und der kurdischen Bewegung kann hier zu Lande einen praktischen Ausgangspunkt dafür bieten, gemeinsam mit Kräften aus der Region eine demokratische Mittelostpolitik zu entwickeln. Gründe dafür gibt es genug, wie die imperialistische Mittelostpolitik des deutschen Staates und das u. a. daraus resultierende Chaos in der Region beweisen.
Gemeinsam konkrete Schritte gehen
Die obigen Überlegungen sollen eine Art Denkanstoß für uns alle sein. Warum sollen wir als demokratische Kräfte nicht in der Lage sein, eine eigene Mittelostpolitik, ja vielleicht eine eigene Politik für viele Regionen dieser Welt zu entwickeln? Was und wer hindert uns daran? Die Politik imperialistischer Staaten wie Deutschland, durch die tagtäglich neue menschliche Tragödien hervorgerufen werden und obendrein die Revolution in Rojava angegriffen wird, unterstreicht die Dringlichkeit dieses Anliegens. Es wäre daher angebracht, dass sich alle linken, demokratischen, antisystemischen Kräfte in Deutschland über konkrete Schritte austauschen, um eine eigene Mittelost-Agenda im Austausch mit demokratischen Kräften aus der Region zu entwickeln. Die kurdische Bewegung in Deutschland wäre dafür sicherlich offen.
Kurdistan Report 202 | März/April 2019