Der Dritte Weltkrieg und die imperialen Ambitionen der Türkei

Gesellschaftliche Organisierung und Selbstverteidigung

Evindar Cudi

Demonstration in Efrîn im Februar 2018 gegen die Kriegspolitik ErdoğansWährend sich der Dritte Weltkrieg im Allgemeinen global weiter verschärft, wirkt er sich im Besonderen am intensivsten auf den Mittleren Osten aus. Die Folgen dieses Krieges gemäß der »Neuen Weltordnung« der US-Hegemonie werden auch die globale Entwicklung bestimmen. Trotz aller Zerstörungen und Katastrophen wird die unterdrückte Menschheit dabei den Weg in ein neues Leben weisen.

Die Maßnahmen der USA, Chinas, Europas und Russlands wie Strafzölle und Embargos sind Zeichen einer Zuspitzung der Krise. Sehr wahrscheinlich wird diese sich dialektisch entwickelnde Situation zu vermehrten Spannungen und Konflikten führen. Insofern ist es unrealistisch, kurzfristig eine Lösung in Syrien oder einem anderen Land im Mittleren Osten zu erwarten. Das bedeutet nicht, dass Politik und Diplomatie wirkungslos seien, doch den entscheidenden Faktor machen die gesellschaftliche Organisierung und die Kraft der Selbstverteidigung aus.

Als erster Schritt auf dem Weg zu diesem Krieg gilt das Bestreben der USA, nach dem Niedergang des Realsozialismus Anfang der 1990er das Machtvakuum im Mittleren Osten und auf dem Balkan zu füllen und die damit zu Tage tretenden Widersprüche und Konflikte durch neue Bündniskonstellationen zu bewältigen.

Insbesondere im Mittleren Osten sind die USA dabei auf die Hinterlassenschaften des Realsozialismus gestoßen. Man kann sagen, dass die Trümmer des Realsozialismus auf die USA herabgestürzt sind, die sich für solch eine strukturelle Rolle vorbereiteten. Die realsozialistische Welt ist sprichwörtlich über der kapitalistischen Welt zusammengebrochen. Wie immer haben sich die USA mit dem Irrtum, dass ein Ausweg aus der Krise mit einer Neuaufteilung der Welt möglich sei, an den Dritten Weltkrieg geklammert und ihn als »Hoffnung« aus der Krise gesehen.

Der Irakkrieg bzw. der Erste Golfkrieg, der am 17. Januar 1991 mit den Luftangriffen der USA und ihrer Verbündeten begann, war der Startschuss des Dritten Weltkriegs, der heute im Mittleren Osten andauert, die spätere militärische Besetzung am 20. März 2003 war seine Fortsetzung. Doch diese Angriffe waren nicht auf den Irak begrenzt. Mit denselben Begründungen wurden Länder wie Libyen und Syrien zur Zielscheibe ihrer Kampagne. Im Jahr 2011 wurde Libyen angegriffen und das Regime von Gaddafi gestürzt, 2012 dann mit der Intervention in Syrien begonnen.

Doch sowohl in Libyen als auch in Syrien verliefen die Operationen nicht wie geplant. Mit der Zeit wurden sie ausgedehnt und intensiviert.

Die USA und ihre Verbündeten führten in Libyen und Syrien militärische Interventionen durch und trotz der neuen Situation wurden auch Methoden des Kalten Krieges aus dem 20. Jahrhundert angewandt. Nach innen versucht man politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Verwirrung und Verwüstung zu stiften oder direkt Militärputsche zu inszenieren. Von außen werden offene militärische Besetzungen unternommen, die Nachbarstaaten zum Angriff angestiftet oder es werden bewaffnete Gruppen aufgebaut. Mit all diesen Mitteln will man die politische, gesellschaftliche und kulturelle Struktur verändern. Doch damit wurden bei den Interventionen im Irak und in Afghanistan nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt. Im Gegenteil wurden den schon vorhandenen gravierenden Problemen neue künstliche Probleme hinzugefügt. Obwohl sie an allen Punkten in einer Sackgasse gelandet sind, halten sie an den Zielen fest. Da sie diese in Libyen und Syrien nicht erreichen konnten, können sie offensichtlich keine Lösung vorweisen. Ihre fruchtlose Suche nach Wegen aus der Ausweglosigkeit in Libyen und Syrien ist ein offenkundiger Beleg dafür. Ihre Bemühungen gehen nicht über eine Revision des Bestehenden hinaus und sind nur die Wiederholung des Alten, ein Zeugnis ihrer Verzweiflung.

Doch die Form und der Kurs dieses Krieges weisen Unterschiede zu früheren Kriegen auf. Die imperialistisch-kapitalistischen Hegemonialkräfte bleiben mehr im Hintergrund und beteiligen sich an einem solchen Stellvertreterkrieg über Dritte (mithilfe regionaler oder lokaler Strukturen). Mit den Veränderungen im Kriegsniveau hat sich ihre Position etwas verschoben. Die mehrdimensionalen Widersprüche des Krieges haben ihre aktivere Beteiligung am Krieg notwendig gemacht. Sie sind gezwungen, sichtbarer mitzuwirken.

Im Syrienkrieg sind die wesentlichen Beteiligten die USA und ihre Verbündeten sowie Russland und der Iran. Doch sie haben sich im Krieg eher über eine dritte Kraft positioniert, die sie unterstützten. Obwohl sie die Anstifter der krebsartigen Probleme in der Region sind, führen sie sich als unschuldige Vermittler auf, die eine »Lösung« suchen. Sie spielen eine Rolle, nehmen die regionalen Gesellschaften buchstäblich auf den Arm. Praktisches Beispiel sind die Gespräche in Genf, die sie als Lösungsplattform darstellten. Die Show war nicht erfolgreich. Erstens sind die Genf-Gespräche trotz aller Mühe ihrer Beteiligten bedeutungslos geworden, da sie nicht die Gesellschaften in der Region vertreten, welche die Lasten des Krieges tragen. Zweitens sind ihre eigene Darstellung als »Lösungskraft« und ihre Glaubwürdigkeit am Ende, denn sie sind als hegemoniale Kräfte die eigentlichen Anstifter und Kriegsakteure. Sie sind hinreichend bloßgestellt worden. Die Gespräche in Genf wurden zu einem Fiasko. Ebenso der Astana-Gipfel mit Russland, dem Iran und der Türkei – auch hier war ein Bankrott wie bei den Genf-Gesprächen unumgänglich.

Aufgrund dieser Ereignisse haben die verschiedenen ­Akteure die Entwicklung des Krieges und ihre eigene Position überdacht. Insbesondere die USA haben dabei Änderungen angestoßen. England und Frankreich wurden als Aktivposten positioniert und Deutschland und Italien als logistische Unterstützung eingebunden. Saudi-Arabien wurde in den Konflikt eingebracht, auf die syrischen Regimekräfte wurden Luftangriffe geflogen. Russland, der Iran und die Türkei haben die Botschaft verstanden. Sie haben ihre Position im Krieg reflektiert und sich neu aufgestellt. Im öffentlichen und nicht öffentlichen Dialog und mit Verlautbarungen wollten sie die Atmosphäre lockern und ihre Interessen schützen.

Die praktische Folge im Kriegsgebiet ist, dass sie nicht mehr mithilfe Dritter agieren, sondern selbst direkt Position beziehen und infolgedessen die verschiedenen Kriegsparteien nun auf dem Schlachtfeld miteinander konfrontiert werden. Die nach den Astana-Gesprächen entbrannten Konflikte haben diesen Trend bestätigt. Die bis dahin über assoziierte Gruppen am Krieg partizipierenden Kräfte haben nun begonnen, höchstpersönlich am Kriegsschauplatz zu erscheinen.

Es ist erkennbar, dass Russland aus dieser neuen Situation – den direkten Luftangriffen der USA und ihrer Verbündeten und ihrer direkten Einmischung – Lehren gezogen hat. Das Treffen zwischen Trump und Putin ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Auch wenn bei den Details zum Thema Iran unterschiedliche Ansichten bestehen, gibt es eine prinzipielle Vereinbarung, den Umfang des Krieges auszudehnen. Russland spielt eine aktive Rolle, um seine Interessen zu wahren und bei der Aufteilung Syriens eine bestimmende Kraft zu werden. Anlässlich der neuen Etappe werden neue Argumente formuliert, wie ein Rückzug aus dem Gebiet. Auch der Iran nutzt eine ähnliche Rhetorik und Praxis, um sich zu schützen, seinen Status zu erhalten sowie still und gründlich seine Hegemonie über die schiitischen Strukturen im Mittleren Osten auszudehnen.

Die USA und Russland haben sich in der Region festgesetzt und versuchen das zu legitimieren. Beide zeigen an bestimmten Punkten die Tendenz, gemeinsam zu agieren. Wichtig ist, zu erkennen, dass dies die regionalen Kräfte wie die Türkei und den Iran strapaziert. Die Annäherung der beiden globalen Hegemonialmächte hat keine positiven Folgen für die regionalen Kräfte. Der Einfluss des Iran und der Türkei soll dadurch gebrochen, die Position Israels zudem gestärkt werden. Dort, wo heute Konflikte bestehen, wird eine relative Stabilität geschaffen. Durch die USA wurde der Fokus auf den Iran gerichtet. Aus Sicht der Hegemonialkräfte repräsentieren die Türkei und der Iran die Mittelostkrise und beide müssen überwunden werden. Es wird ein Konzept erkennbar, das den Iran zum Ziel hat. Doch die Umzingelungspolitik erfasst auch die Türkei. Unter verschiedenen Vorwänden kam der Iran auf die Agenda. Trotz unterschiedlicher Argumente der verbündeten Kräfte bestehen da keine grundlegenden Differenzen.

Beim Thema Iran sind sich die USA und Russland einig, beide wollen einen »Change«, aber beim Timing und der Methode sind sie unterschiedlicher Ansicht. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie dabei Kompromisse eingehen könnten. In diesem Sinne wird sich das Zentrum der Konflikte in Zukunft auf die Linie Iran-Irak verschieben.

Die USA und ihre Verbündeten haben bereits begonnen, ihre Kräfte und Beziehungen zu nutzen, um das Embargo gegen den Iran auszuweiten. Japan hat seine Ölimporte aus dem Iran gestoppt. Die Politik des internationalen hegemonialen Systems gegen den Iran hält weiter an. Zuvor hatten die USA erklärt, aufgrund des Islamischen Staates (IS) in Syrien präsent zu sein, in letzter Zeit sind sie zu dem Punkt gelangt, das Land nicht zu verlassen, wenn der Iran es nicht tue. Es ist offensichtlich, dass die USA jetzt stärker gegen den Iran mobilisieren wollen. Es ist auch klar, dass die Kurden vorerst nicht auf Konfrontationskurs gegen den Iran gehen werden, wie es die USA gern hätten. Denn sie werden für eine Demokratisierung des Iran und die Lösung der kurdischen Frage kämpfen. Bei einer ausbleibenden Demokratisierung des Iran ist eine konfliktreiche Situation absehbar. Der Iran wird die Kurden angesichts einer solchen Umzingelung nicht gegen sich aufbringen wollen. Die USA werden weiterhin eine Politik verfolgen, die Menschen im Iran zu mobilisieren und ihn außenpolitisch einzukreisen. An diesem Punkt wollen sie auch die Türkei auf ihre Seite ziehen. Doch die wird kaum vorbehaltlos einsteigen, sie wird keine militärische Option gegen den Iran erwägen,dafür aber eine Balancepolitik verfolgen. Doch der Iran wird, um die Türkei an seiner Seite zu wahren, beim Thema Kurden Kompromisse eingehen können.

Die Annahme, die Krise im Irak werde sich nach den Wahlen vertiefen, hat sich bewahrheitet, das politische Klima kommt nicht zur Ruhe. Faktoren, die die Entwicklungen im Irak bestimmen können, sind die Proteste der armen Volksschichten, die immer noch nicht gegründete Regierung und der zersplitterte politische Wille.

Die Schiiten befinden sich größtenteils im Aufstand. Die Demokratieforderungen und Aktionen zur Überwindung der Wirtschaftsprobleme der irakischen Gesellschaften halten weiter an. Die USA und der Iran versuchen dies auszunutzen, um die irakische Regierung unter Kontrolle zu bekommen. Auch die Türkei und die PKK wollen Nutzen aus der Situation ziehen. Mit dem Ansatz des Iran – z. B. die Stromzufuhr einzustellen – werden die Proteste weiter angefacht.

Darüber hinaus erklärte der kolonialistische irakische Staat nach der Niederlage des IS in Mûsil (Mosul) den Sieg der irakischen Zentralregierung. Dass dies nicht stimmt, ist mit den IS-Angriffen in der letzten Zeit jedem klargeworden. Deshalb finden in diesen Tagen im Irak heftige Gefechte statt. Es wurden intensive Luftangriffe auf die Stellungen des IS im Irak geflogen, die weiter andauern. Die Unterstützung der Türkei für den IS und die Besatzungsoperation in Südkurdistan mithilfe der PDK (Demokratischen Partei Kurdistans) sind Vorzeichen für eine neue Phase, mit der das irakische Regime konfrontiert sein wird.

Nach dem Unabhängigkeitsreferendum in Südkurdistan vom 25. September 2017 ist fast die Hälfte der Region von der irakischen Zentralregierung annektiert worden. Die Angriffe des türkischen Staates in Südkurdistan, von Zap bis nach Xakurkê und ins Innere des Landes, zeigen den Umfang möglicher Entwicklungen.

Die Türkei ist nach den Wahlen auf der Suche nach einer neuen Phase in ihren Beziehungen mit Russland und der NATO. Doch eine langfristige Politik, die auf eine Balance zwischen beiden ausgerichtet ist, scheint schwer realisierbar. Während Russland bestrebt ist, die Widersprüche der Türkei mit der NATO zu vertiefen, unternimmt die NATO neue Schritte, um die Türkei an sich zu binden. Die Kompromisse im Falle von Minbic (Manbidsch) zugunsten der Türkei hängen damit zusammen. Die Verlegung von 30.000 Soldaten an die Grenze des NATO-Landes und die Gipfelerklärung der NATO, die Türkei vor den Gefahren aus dem Süden zu schützen, spiegelt diese Politik wider. Die NATO will die Türkei wieder unter ihre zerrüttete Hegemonie holen und sich dort neu institutionalisieren. In diesem Rahmen hofft sie die Beziehungen mit Verlautbarungen und konkreten Schritten zu erneuern. Wegen der Kurden ist es schwer, die Türkei vollständig gegen Russland zu positionieren. Deshalb ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sich die Türkei ganz der NATO zuwendet und gegen Russland stellt. Der vollständige Zusammenschluss der Türkei mit den USA könnte zu einer antitürkischen Politik Russlands in Efrîn und anderswo führen. Die von der Türkei im Syrien­krieg unterstützen Gruppen sind nun eine Plage für sie geworden. Sie hat Schwierigkeiten, sie zu kontrollieren, und ist sich unsicher über die Folgen dieser fehlenden Kontrolle. Deshalb ist es für die Türkei nicht mehr so einfach wie früher, ihre Politik zu verfolgen. Die USA wollen in diesem Moment die Türkei auf ihre Seite ziehen und Russland eindämmen bzw. auf Syrien beschränken. Denn ohne die Unterstützung der Türkei hat Russland außerhalb Syriens in der Region keinen Einfluss. Deshalb wird die Türkei eher eine Balancepolitik verfolgen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt.

Das alles bedeutet aber nicht, dass die dritten Kräfte außen vor gelassen werden. Es wurde ihnen sogar eine neue Mission aufgetragen, um tief verstrickt in diesen Krieg im Mittleren Osten mitzuspielen. Die Türkei als eines dieser Länder ist im Syrienkrieg de facto und offiziell zu einem Akteur geworden. Das beweist die Besetzung von Efrîn.

Der faschistische türkische Staat hat mit der Besetzung von Efrîn offen seinen »Vorstoß« zur Rückkehr zu den Grenzen des Osmanischen Reiches begonnen. Diese Angriffe sind nicht nur auf Efrîn beschränkt, sondern betreffen ganz Rojava und darüber hinaus auch Südkurdistan. Damit nicht genug, hat sie auch begonnen, einige Gebiete und Inseln Griechenlands in diesem Zusammenhang zu nennen. Alle diese Angriffe zeigen auf der einen Seite den Verfall und Niedergang des türkischen Staates und auf der anderen Seite auch die staatlichen Ambitionen zum Hundertjährigen Bestehen.

Der faschistische türkische Staat eskaliert – durch die Unterstützung internationaler wie regionaler Kräfte sowie geheime Vereinbarungen und die Zurückhaltung lokaler kollaborierender Strukturen wie der PDK – die kolonialistischen genozidalen Angriffe in den vier Teilen Kurdistans und im Ausland. Mit der Besetzung Efrîns wird versucht, Rojava zu annektieren. Der begonnene Angriff infolge der Vereinbarung des türkischen Staates mit der PDK nach dem »Referendum« vom 24. September 2017 dauert unvermindert an. Gegen diese brutalen Angriffe leistet nur die Guerilla Widerstand, um Kurdistan und die Gesellschaft zu verteidigen.

Der kolonialistische türkische Staat will mit seinen Angriffen, bei denen er all seine (technischen) Möglichkeiten ausschöpft, im Wesentlichen die Arbeit der Freiheitsbewegung torpedieren, die Beitritte zur Guerilla verhindern sowie die Bildungs- und Propagandaarbeit angreifen. Das wird alles auf schmutzige Politik und Propaganda gestützt.

Als wichtige Details müssen noch benannt werden: Der Beginn der Besetzung Efrîns durch die Türkei bedeutet die Ablehnung der nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen und die Rückkehr zu den Grenzen des Osmanischen Reiches, die Ablehnung des Status quo nach dem Ersten Weltkrieg und damit verbunden auch der entscheidenden Rolle Englands und Frankreichs.

Der türkische Staat nutzt die Widersprüche in der internationalen Arena, wo im 21. Jahrhundert das globale Gleichgewicht entsprechend der Neuen Weltordnung geschaffen werden soll, um von Neuem eine bestimmende Kraft im Mittleren ­Osten zu werden. In solcher Atmosphäre haben Frankreich und England ihre Rolle im Dritten Weltkrieg im Mittleren Osten gemäß dem US-Bündnis neu bestimmt. Ein Anzeichen dafür ist, dass Frankreich nach diesen Schritten der Türkei seine Präsenz in Syrien stärken und England auf internationaler Ebene seine Rolle bei der Bestimmung der Mittelostpolitik sichtbarer machen wird. All diese Entwicklungen bedeuten für den türkischen Staat, seine Beziehungen mit den Regionalstaaten, den internationalen Hegemonialkräften und den dynamischen Kräften in der Region neu zu bestimmen.

Seit längerer Zeit halten die Spannungen in seinen Beziehungen zu den USA an. Dasselbe gilt auch für die europäischen Länder. Die Probleme sind dabei noch nicht gelöst. Dagegen sind die Bemühungen erkennbar, die Beziehungen mit China und anderen Ländern auszubauen, das Bündnis mit Russland zu verstärken und andere Bündnisbestrebungen mit starken Strukturen in der Region. Auch die Aktivitäten zur Stärkung der türkischen Position im Irak, in Syrien, dem Libanon, Jemen und den Turk-Republiken sind Schritte zur Überwindung der Probleme. Die Türkei sucht nach Auswegen und Strohhalmen und folgt hegemonialen Ambitionen. Sie will den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Niedergang im Inneren mit außenpolitischen, diplomatischen Anstrengungen und vor allem durch Kriegspolitik (mit der Zustimmung internationaler und regionaler Kräfte) kaschieren.

Der türkische Staat versucht sich in diesem Kontext als zentraler Akteur. Die vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni, die normalerweise im November 2019 stattfinden sollten, sind eine Folge davon. Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen und den historischen Ereignissen und Vereinbarungen des letzten Jahrhunderts wäre es unzureichend, den türkischen Staat nur als Spezialkriegs­regime zu sehen, das sich innerhalb seiner politischen Grenzen gegen die Völker organisiert. Denn mit seinen gegenwärtigen Staatsgrenzen ist er eine Gefahr für alle »Nachbar«-Staaten und -Völker. Deshalb ist er nicht nur für unsere Gesellschaft in den Teilen Kurdistans, sondern auch für Länder wie den Iran, den Irak, Syrien und Griechenland eine Bedrohung.

Der türkische Staat, der wirtschaftlich bankrott ist, politisch keine Lösungen anzubieten hat, die Gesellschaft fügig zu machen sucht, um sich auf den Beinen zu halten, und dem nichts anderes außer Krieg bleibt, dieser Staat hat für die Region nichts anderes übrig als einen Spezialkriegsapparat. Es gibt keinen Unterschied zu den Kräften, die sich mit kolonialistischer, imperialistischer Politik am Leben zu erhalten versuchen.

Aus diesem Blickwinkel heraus muss unsere Gesellschaft, die nicht in Nordkurdistan lebt, den türkischen Staat nicht als sekundären, sondern als Hauptfeind betrachten. Denn dieser Hauptfeind ist nichts anderes als ein Staat, der die Heimat der kurdischen Gesellschaft zertrümmert, ihre Reichtümer zerstört, die Errungenschaften raubt, zur Aufgabe zwingt und Massaker anrichtet. Dagegen muss sich der Widerstand richten.

In einer solchen Phase ist die Arbeit für die nationale Einheit und einen nationalen Kongress von historischer Bedeutung und lebenswichtig. Es ist eine historische und gesellschaftliche Pflicht, zusammen mit den revolutionären, demokratischen und freiheitlichen Kräften in den jeweiligen kolonialistischen Ländern eine gemeinsame Widerstandsbasis zu schaffen und auf internationaler Ebene solidarische Einheiten und Bündnisse aufzubauen.

Auf der einen Seite richtet der türkische Staat seine Existenz und Zukunft vollständig gegen unsere Gesellschaft und die regionalen Völker aus. Seinen Krieg führt er dabei zur Erhaltung des Staates. Auf der anderen Seite ist die Politik der hegemonialen Kräfte darauf ausgerichtet, die Freiheitsbewegung zu isolieren, von sich abhängig zu machen, sie ständig im Kampf mit dem IS zu halten und stellenweise dem IS den Weg freizumachen.

Aus all diesen Gründen wird die Offensive der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) einige Gleichgewichte erschüttern und die Türkei dazu zwingen, ihre Politik entsprechend auszurichten.

In den letzten sechs Jahren verkörperte Syrien das Zentrum der Konflikte im Dritten Weltkrieg und diese Konflikte dauern weiter an. In naher Zukunft eine nachhaltige Lösung für Syrien zu erwarten ist unrealistisch. Es ist sogar möglich, dass der Krieg neu beginnt. Bündnisse und Einheiten zwischen den Gesellschaften sind von großer Bedeutung.

In dieser Etappe ist es ein wichtiger Ansatz der Freiheitskräfte aus dem Norden und Osten Syriens, die Probleme in Syrien ganzheitlich mit der Perspektive der demokratischen Nation zu lösen. Ebenso wichtig sind eine lösungsorientierte Politik dieser Kräfte und der Dialog mit allen Kreisen. Alle Initiativen bedeuten jedoch nur dann etwas, wenn der gesellschaftliche Aufbau vorankommt. Der gemeinsame Kampf der Kurden und Araber sowie der regionalen Gesellschaften wird eine Lösung direkt beeinflussen. Auch die Selbstverteidigung der Revolution wird von nun an noch mehr Bedeutung haben. Der Ansatz bestimmter internationaler Kräfte, die Kräfte des gesellschaftlichen Aufbaus und der Selbstverteidigung für sich auszunutzen, ist bekannt. Auch die wechselnden Äußerungen des Regimes von Dialogangeboten und Drohungen sind offensichtlich. In dieser Hinsicht ist ein Ansatz des Selbstvertrauens und der gesellschaftlichen Organisierung unumgänglich.

Infolgedessen verfügen die demokratischen Kräfte zur Politikgestaltung in der ganzen Region über mehr Möglichkeiten als zuvor. Die von uns als »dritte Kraft« bezeichnete Linie der demokratischen Nation ist das Gegenmittel zur gegenwärtigen Krise und dem Chaos. Ein Ansatz, der sich vom Stil zwischenstaatlicher Politik verabschiedet und auf dem gesellschaftlichen Kampf gründet, kann zu großen Erfolgen führen. Mit dem von der kurdischen Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan vorgelegten Paradigma der Demokratie, Ökologie und Frauenbefreiung und der damit verbundenen Art und Weise, Politik zu betreiben, kann die von der kapitalistischen Moderne geschaffene Krise überwunden und für die unterdrückten Völker die Tür zur Lösung geöffnet werden.


 Kurdistan Report 199 | September/Oktober 2018