Boykott ist ein politischer, moralischer und gewissenhafter Protest

Es ist genau die richtige Zeit

Meral Çiçek, Yeni Özgür Politika PolitikART 09.04.2018

TürkeiboykottAuch wenn es sich beim Wort Boykott um einen 139-jährigen Begriff handelt, ist er als kollektive Haltung genauso alt wie die Vergesellschaftung. Der Boykott ist nicht nur ein Begriff des Vorwurfs und der Verurteilung. Vielmehr ist er ein organisiertes politisches, soziales und wirtschaftliches Druckmittel. Seinen wesentlichen Stellenwert gewinnt er aus der Organisiertheit.

Es spielt keine Rolle, ob ein Individuum eine andere Person, eine Marke, eine Firma oder ein Land boykottiert. Eine Rolle spielt diese Haltung aber dann, wenn Tausende oder gar Hunderttausende oder Millionen Menschen diese organisierte Haltung entwickeln. Die jüngste Geschichte ist voller unzähliger Beispiele dafür.

Beispielsweise gab es in den 1950er Jahren den Busboykott von Montgomery. Es war ein Protest der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der USA gegen die Politik der Rassentrennung. Hunderte bzw. Tausende schwarze Menschen boykottierten die Fahrt mit dem Bus, bildeten Fahrgemeinschaften, nutzten Taxis oder gingen zu Fuß und entwickelten somit neue Protestformen. Rosa Parks wurde das Symbol dieser Protestwelle. Sie wurde festgenommen, nachdem sie sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz für einen weißen Fahrgast freizumachen. Und nach all dem Protest endete die Rassentrennung in den Bussen.

Auch 1974 wurden unter der Leitung von Anti-Apartheid-Komitees, die in den 1960er und 1970er Jahren in Europa gegründet worden waren, Boykottkampagnen gegen in Südafrika produzierte Produkte eingeleitet. Damit wollten sie auch den in ihrem Heimatland Südafrika geführten Kampf gegen die Apartheid unterstützen. Die erste große Kampagne war die Anti-Outspan-Kampagne. Sie war in den Niederlanden ins Leben gerufen worden und wandte sich gegen den Verkauf von Orangen der südafrikanischen Firma Outspan. Unter anderem mit Plakaten und Infoständen wurde vor Supermärkten gegen eine Werbetour von Outspan demonstriert. Plakate mit den Aufschriften »ESST KEINE OUTSPAN-APFELSINEN«, »PRESST KEINE SÜD-AFRIKANER AUS« forderten die Konsumenten auf, Orangen und andere Früchte aus Südafrika zu boykottieren. Die Aktivisten benutzten bewusst eine provokative Sprache, um die Bevölkerung zum Nachdenken zu animieren. Denn Ziel der Kampagne war auch, durchschnittliche Menschen dazu zu verleiten, den Konsum in Frage zu stellen und ihn moralisch und gewissenhaft zu betrachten. Beim Einkauf achten wir Menschen nämlich kaum auf die Bedingungen, unter denen dieses Produkt hergestellt wurde. Wir unterschätzen oft, dass niedrigen Preisen oft eine starke Ausbeutung zugrunde liegt. Kurz gesagt: Sehr wenige von uns konsumieren bewusst oder achten auf fairen Handel, weil viele in wirtschaftlich komfortablen Verhältnissen leben und damit passiv Teil dieses Räderwerks werden. Des Weiteren denken wir oft, dass allein unser Konsumverhalten nichts Positives oder Negatives bewirken würde.

Moral, Politik und Konsum

An dieser Stelle sollten wir über den Moral- und Gewissens­aspekt des Boykotts sprechen. Die kapitalistische Moderne zielt darauf ab, das moralische Leben durch ein Konsumverhalten zu zerstören, das auf Profit und Eigentum ausgerichtet ist. Sie versucht uns davon zu überzeugen, dass der Konsum nicht politisch ist, obwohl dieser doch in direktem Zusammenhang mit Moral und Politik steht. Es ist daher wichtig, eine bewusste Konsumkultur für eine moralische und politische Gesellschaft zu entwickeln. Erst recht dann, wenn diese Gesellschaft Belagerung und Besatzung unterliegt.

Angesichts der folgenden Fakten können wir nicht unsere Augen schließen: Auch wenn wir das nicht mit Absicht tun, tragen wir zur Wirtschaft eines faschistischen Regimes bei, das unser Land besetzt, unseren Lebensraum zerstört und einen kriegerischen Vernichtungskampf gegen uns führt. Insbesondere durch den Konsum von Waren regierungsnaher Unternehmen, durch den Urlaub an den Küsten der Türkei unterstützen wir die Kriegswirtschaft. Auch für den Staat ist es teuer, einen Krieg zu führen. In solchen Zeiten versuchen die Staaten mit Steuererhöhungen und höheren Exporteinnahmen größere Einkünfte zu erzielen. Deshalb ist es genau der richtige Zeitpunkt, einen Wirtschaftsboykott auszurufen, gerade wenn die Wirtschaft wegen Krieg und Krise bergab geht. Denn in solchen Zeiten kann der Zusammenbruch der faschistischen Regime beschleunigt werden.

Manche mögen denken, der Boykott treffe nicht den Staat, sondern den Arbeiter. Doch erhält sich der Staat ohnehin durch die Ausbeutung des Arbeiters. Denn die Lage, die die türkische Wirtschaft nun erreicht hat, die Inflation und der Wertverlust der Türkischen Lira, trifft am ehesten die arbeitenden Menschen. So sollte der Boykott als eine Art Widerstand angesehen werden. Außerdem sollten die Boykottkampagnen auch das Thema der Ausbeutung behandeln.

Insbesondere die in den Niederlanden geführte Boykottkampagne gegen das rassistische Apartheidregime in Südafrika geht in die Geschichte ein als die wirksamste und überzeugendste Arbeit der Anti-Apartheid-Bewegung. Auch die protestantische Frauenbewegung tritt dabei als eine der führenden Kräfte auf. Ein Grund, warum die Kampagne so effektiv war, waren die vorbereiteten Materialien. Spezielle Banner, Flyer und Broschüren, die genau zeigten, welche Produkte boykottiert werden sollen, wurden millionenfach gedruckt und verteilt. So wurde eine sehr breite öffentliche Meinung geschaffen, um alle Menschen zu informieren. Boykott ist in diesem Zusammenhang auch eine Bewusstseinsarbeit.

Werden Sie noch in der Ägäis oder im Mittelmeerraum Urlaub machen?

Tourismusboykott – Kein Urlaub in der TürkeiDeshalb ist es wichtig, eine wirksame Boykottkampagne gegen den türkischen Staat zu führen, um so eine breite Öffentlichkeit zu informieren und in Bewegung zu setzen. Und in dieser Hinsicht hat jeder Mensch etwas zu tun. Man müsste sie organisieren und in den Boykott eingliedern.

Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass wir mit den Produkten, die wir kaufen, und mit dem Urlaub, den wir an türkischen Stränden machen, den Staat unterstützen, der in Kurdistan einen Vernichtungskrieg führt. Zudem sollten wir auch Unternehmen in den Ländern identifizieren, die mit dem türkischen Staat kooperieren, und sie in die Boykott-Kampagne einbeziehen. Wir müssen diese Unternehmen, die mit dem faschistischen Regime wirtschaftlich zusammenarbeiten, öffentlich diffamieren. Beispielsweise sollten Tourismusunternehmen, die mit dem türkischen Tourismussektor kooperieren, ebenfalls in den Boykott einbezogen werden. Jeder Euro, der für die türkische Kriegswirtschaft ausgegeben wird, verwandelt sich in eine Kugel, die Blut vergießen soll.

Doch das Wichtigste ist, alle Unternehmen, die Waffen in der Türkei verkaufen, offenzulegen und damit für ein Ende dieser Zusammenarbeit zu sorgen. Insbesondere sollte mit den Arbeitern in den Fabriken Kontakt aufgenommen werden und sie sollten dazu ermutigt werden, Druck auf die betreffenden Unternehmen auszuüben. Eine große Anzahl europäischer Unternehmen verkauft Teile an die türkische Kriegsindustrie. Wie Mercedes. Eine umfassende und organisierte Boykottkampagne sollte auch all diese Unternehmen offenlegen.

Am Boykott nicht teilzunehmen, wäre Ausdruck des Opportunismus, auf dessen Grundlage das faschistische Regime seine Macht gewinnt. Der Boykott ist vor allem ein politischer Akt. Und dieses politische Handeln kann nur dann wirksam sein, wenn es zusammen organisiert und durchgeführt wird. Darum müssen wir zuerst bei uns selbst anfangen und uns umsehen. Wir sollten unsere Küchenschränke öffnen, schauen, was wir konsumieren. Dann die restlichen Produkte ansehen, die wir im Alltag verwenden. Und wir müssen dadurch aktiv werden. Wir dürfen nicht Nein sagen. Wenn nötig, werden wir unsere Konsumgewohnheiten radikal ändern und somit dem faschistischen AKP-MHP-Regime keinen einzigen Cent geben. Wenn nötig, werden wir dieses Jahr nicht in die Heimat reisen. Denn wenn wir heute nicht handeln, werden wir vielleicht jahrelang nicht mehr in unser Land reisen, vielleicht wird unser Dorf dann nicht mehr existieren.

Es ist genau die richtige Zeit für den Boykott. Denn die Möglichkeiten, das faschistische Regime über den Boykott, also organisierte Wirtschaftssanktionen zu zwingen, sind besser denn je. Das Wichtigste ist, zusammen mit unserer Familie, unseren Freunden, Nachbarn und Kollegen einen Platz in der Boykottkampagne zu finden. Hauptsache, wir sagen nicht, »mir ist es egal«.


 Kurdistan Report 197 | Mai/Juni 2018