Ein vergessenes Experiment der Selbstverwaltung

Êlih und Edip Solmaz (1979)

Nejat Uğraş

Über die Selbstverwaltung in Fatsa [damals Bezirk, heute Kreisstadt in der nordtürkischen Provinz Ordu] als Experiment einer kollektiven Selbstverwaltung wurde viel geschrieben und berichtet. Dieses Experiment, das vom Bürgermeister Fikri Sönmez vorangetrieben worden war, ist als Ehre der revolutionären Bewegung in der Türkei in die Geschichte eingegangen. Einer anderen nahezu vergessenen Praxis, der Selbstverwaltung in Êlih (Batman), ist nie der Wert beigemessen worden, den sie verdient. Dieses Experiment, das mit der Wahl von Edip Solmaz zum Bürgermeister begann und mit seiner direkt darauf folgenden Ermordung beendet wurde, verdient es in dieser Zeit, in der viel über Zwangsverwaltung diskutiert wird, dass seiner gedacht wird.

Êlih und Edip Solmaz (1979)Êlih war schon immer ein wichtiges Organisationszentrum der kurdischen politischen Bewegung. 1979 gewann Edip Solmaz als unabhängiger Kandidat die Wahl zum Bürgermeister, was einer der ersten Erfolge der kurdischen Bewegung wurde. Obwohl Solmaz einen Monat nach der Wahl vor der Tür seines Hauses ermordet wurde, hat er mit seiner Praxis innerhalb eines kurzen Monats das erste Experiment und die erste Praxis von Selbstverwaltung verwirklicht, die für die Menschen aus Êlih und der Region voller Lehren steckt.

Die gesellschaftliche und politische Situation in Êlih vor 1980

Êlih ist einer der kosmopolitischen Orte Kurdistans. Es war deshalb offen für neue Entwicklungen. Die kompradoren-feudale Struktur in Kurdistan hatte die soziale Klassenstruktur in Êlih stark beeinflusst. Mit dem Fund von Erdöl in den Bergen Raman und Meymuniye im Jahr 1954 hat die soziale Klassenstruktur des Ortes einen großen Wandel erlebt, der bis heute andauert. Fund, Förderung, Transport und Verarbeitung des Öls bewirkten eine erhebliche wirtschaftliche Transformation, welche die Kämpfe um politischen Einfluss und Vorherrschaft anfachte. Die Entstehung neuer Klassen hat Êlih in den Ort mit der größten Arbeiterklasse in Kurdistan verwandelt. Diese neue Klassenwerdung, mit Verwaltern und einer technokratischen Klasse auf der einen und Arbeitern auf der anderen Seite, hat auch neue Potentiale mit sich gebracht.

Der Bau von Raffinerien und alle möglichen Zwischenetappen bei der Ölverarbeitung haben auch neue Arbeitsbereiche geschaffen. Der Aufbau einer Neben-Industrie, die Entwicklung des Transportsektors und die Belebung des Handels durch den Zufluss heißen Geldes in die Stadt verstärkten den Durst einiger Menschen. Doch vom Segen des Reichtums durch das Öl profitierte nur eine kleine Zahl von Menschen. Der Natur der kapitalistischen Moderne gemäß sammelten sich Reichtum und Armut an unterschiedlichen Enden an. Der Bevölkerung von Êlih fiel die Armut zu. Diese kleine Ortschaft, die von der kapitalistischen Produktion und Warenbeziehungen geprägt war, bot eine passende Grundlage für die Zuwendung der kurdischen politischen Bewegung.

Wir können die Klassenstruktur von Êlih nach dem Öl mit drei allgemeinen Linien charakterisieren:

1. Reiche Gutsbesitzer, Kompradoren, Scheichs, einflussreiche Grundbesitzer (einheimische Kollaborationsklasse): Diese Kreise haben gute Beziehungen zur Staatsbürokratie und haben mit ihrem Anteil am Ölreichtum wichtige Ämter wie Vorsitz und Abgeordnetenposten in den lokalen Verwaltungen gewonnen. Der bekannteste Vertreter ist der Raman-Stamm. Hier lohnt es sich, kurz auf ihn einzugehen. Der Raman-Stamm hat sich bis 1972 mit seinem Anführer Emînê Perîxanê einen Namen gemacht mit seinem Widerstand gegen den Staat. Mit Mustafa Raman endete diese Phase. Mit den Prozessen während des Ausnahmezustands 1972 in Amed (Diyarbakır) wurden sie zu »braven Kindern« umgeformt und in konterrevolutionäre Positionen gebracht.

2. Klasse der Beamten und Verwalter: Unter ihnen fanden sich alte Staatsvertreter wie Eliten der Verwaltung, Manager, Ingenieure, Techniker, Armeemitglieder, Polizeivertreter, Lehrer, Doktoren und andere Staatsbeamte.

3. Arbeiterklasse und arme werktätige Volksmasse: der Rest von Êlih.

So wie die Klassenstruktur in Êlih klar voneinander getrennt war, war es auch geografisch geteilt. Die Staatseisenbahn teilte Êlih klar in zwei Hälften; in die Siedlungen oberhalb, also die Gebiete um die Raffinerien, und in die Siedlungen unterhalb. Während in den oberen Siedlungen ein lebendiges soziales Leben mit Kinos, Schwimmanlagen, Discos, Sportplätzen usw. herrschte, lebte unten die Menge der armen Leute, die am wenigsten von den Reichtümern profitierten, in der Nähe der Ölabfälle und verschmutzen Umwelt.

Politische Lage

Im Jahr 1978 ist die Atmosphäre in Êlih allgemein geprägt von Angst, Trägheit, Unbehagen und Gleichgültigkeit. Das ist gleichzeitig auch die herrschende Atmosphäre in ganz Kurdi
stan. Seit Jahren haben die Kolonialisten und lokalen Kollaborateure, wie Grundherren oder Stammesführer, das Öl ausgebeutet, die Bevölkerung eingeschüchtert und das Leben unerträglich gemacht. Dieser Einfluss wurde durch die Intervention einer Gruppe namens »Revolutionäre Kurdistans« verändert. Bei den »Revolutionären Kurdistans« arbeiteten Mazlum Doğan, Kemal Pir, Mahsum Korkmaz, A. Kadır Çubukçu, Emin Dal, Mahmut Tanrıkulu, Ahmet Kurt und viele weitere aktiv in Êlih.

Die »Revolutionäre Kurdistans« gewannen vor allem in Êlih, Amed, Riha (Urfa), Mêrdîn (Mardin), Dîlok (Antep) und Gurgum (Maraş) an Einfluss und bauten sich ein eigenes Organisationsnetzwerk auf. Diese sich schnell entwickelnde Jugendgruppe wurde in ganz Kurdistan bekannt und gewann in der Gesellschaft an Beliebtheit. Ihre Arbeit fand Widerklang bei der Gesellschaft und so dehnte sich ihr Einfluss aus. Die »Revolutionäre Kurdistans« ließen mit ihrer in der Bevölkerung durchgeführten Bildungs- und Propagandaarbeit die anderen kurdischen Organisationen hinter sich und übertrafen sie mit einem anderen Auftreten.

Wegen der zunehmenden Popularität und des Einflusses der »Revolutionäre Kurdistans« wurden primitiv-nationalistische und reformistisch-kleinbürgerliche Bewegungen (KAWA, KUK, DDKD, İGD) unruhig und schlossen sich zusammen, um der neuen Situation zu begegnen. Auf der anderen Seite spielten feudale Stammesstrukturen wie die Raman, die mit dem Staat kollaborierten, und die Sinkiler eine wichtige Rolle bei der Gegenpropaganda und der Einschüchterung der Gesellschaft. Dass der Raman-Stamm die Seiten so eindeutig wechselte, rührte daher, dass ihre Interessen eingeschränkt wurden und sie Angst hatten, an Einfluss zu verlieren. Der Raman-Stamm, der in Êlih ein Staat für sich war, begann mit dem zunehmenden Einfluss der »Revolutionäre Kurdistans« im Jahr 1976 an Einfluss zu verlieren und zerfiel. Mit der stärker werdenden Präsenz der »Revolutionäre Kurdistans« begannen die Autorität und die Macht des Stammes zu bröckeln.

Die Zeit der Wahlen

Diese Situation bewahrheitete sich in klarer Weise bei den Kommunalwahlen 1979. Bis zum Jahr 1978, also vierzig Jahre lang, hatte bei den Bürgermeisterwahlen immer der Kandidat gewonnen, der vom Raman-Stamm unterstützt wurde. Bei den Wahlen am 14. Oktober 1979 änderte sich dies und der unabhängige Kandidat Edip Solmaz gewann.

Nach einem intensiven Wahlkampf wurde Edip Solmaz mit 3.876 Stimmen zum Bürgermeister gewählt. Er hatte 199 Stimmen mehr als der nächstliegende Konkurrent von der Gerechtigkeitspartei. Trotz der Manipulationsversuche des Raman-Stamms wurde die Wahl gewonnen, was als erster politischer Erfolg der »Revolutionäre Kurdistans« bewertet wurde.

Das 28 Tage währende Experiment der Selbstverwaltung

Als Edip Solmaz gewählt wurde, stand er vor nicht leichten Aufgaben. Das politische Chaos, die Streiks aufgrund der nicht bezahlten Löhne, der Schwarzmarkt wegen des erschwerten Zugangs zu Grundversorgungsprodukten, Bestechung und Korruption, der Zusammenbruch des Preiskontrollsystems, die unbezahlten Löhne der Beamten und die hohen Erwartungen erschwerten die Arbeit.

In seiner ersten Erklärung nach der Wahl zum Bürgermeister sagte Solmaz: »Die Gemeinde kann nur ehrlich arbeitende Menschen beherbergen, sie wird gegen Bestechung und Korruption vorgehen und sie erwartet die Unterstützung der Gesellschaft.« Diese erste Verlautbarung nannte die Arbeitsprinzipien von Solmaz und war auch der erste Hinweis auf eine partizipative Bürgermeisterschaft.

Solmaz versprach Preiskontrollen und das Kontrollsystem zu aktivieren und unterband in der ersten Woche den auf dem Markt problematischen Verkauf von Eisen, Zement, Holz, Kohle und Öl. Der Verkauf begann wieder nach Rücksprache mit dem Gemeinderat. Nach der Etablierung eines wirksamen Preiskontrollsystems begann der Kampf gegen Warenhortung und Schwarzhandel. Innerhalb kürzester Zeit waren große Erfolge bei der Marktkontrolle zu verzeichnen. Die Polizei als wichtiges Standbein dieses Kontrollsystems gelangte innerhalb kurzer Zeit zu ihrer wahren Rolle. Solmaz unternahm große Anstrengungen, um die Grundbedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Bei einer Kontrolle beschlagnahmte 2.000 Flaschen Öl wurden kostenlos an das Volk verteilt.

Vom ersten Tag an setzte er sich mit den Problemen der streikenden Arbeiter auseinander und nahm Gespräche mit der Arbeitergewerkschaft Genel-İş auf, um eine mit den Interessen und Rechten der Arbeiter in Einklang stehende Vereinbarung zu erzielen.

Zusammen mit dem Gemeinderat beschloss er, dass Tank- und große Lastwagen nicht in die Stadt fahren durften, sondern in leeren Garagen oder auf zugewiesenen leeren Flächen zu parken hatten.

28 Tage nach seiner Wahl als unabhängiger Kandidat zum Bürgermeister von Êlih wurde Solmaz, der zur Eröffnung von Verkaufsläden mit behördlich regulierten Preisen entschlossen war, am 12. November 1979 bei einem bewaffneten Angriff getötet. Dieses Ereignis hat in der Gesellschaft viel Wut und Hass ausgelöst. Die Menschen von Êlih haben unter diesen Bedingungen zum ersten Mal eine große Beerdigungszeremonie veranstaltet. Zum ersten Mal sollte angesichts der Ermordung eines kurdischen Patrioten eine Demonstration organisiert werden, um sich für den vom Volk gewählten Bürgermeister einzusetzen. Fast 30.000 Menschen beteiligten sich an der Beerdigung und protestierten gegen die Ermordung von Edip Solmaz. So viele, dass ihre Zahl im Jahr 1979 fast die gesamte Bevölkerung Êlihs ausmachte.

Die Folgen

Die kurzzeitige Praxis des Bürgermeisters Edip Solmaz ist voller praktischer Beispiele und Lehren, ein hervorstechendes Beispiel als Experiment der Selbstverwaltung.

Das Experiment von Êlih beinhaltet das Manifest, wie die Zwänge des Staates durchbrochen, die lokalen Kollaborateure, feudalen Grundbesitzer und primitiv-nationalistischen kurdischen Gruppen überwunden werden und wie die Gesellschaft erreicht wird.

Die Praxis von Êlih hat nicht etwas auf dem Boden des Bestehenden aufgebaut, sondern mit viel Mühe und Schweiß aus dem Nichts zusammen mit der Gesellschaft Werte geschaffen.

Es ist eine Erfahrung, unter schwersten Bedingungen kollektiv zu arbeiten, die Gesellschaft von Stadtteil zu Stadtteil, von Straße zu Straße und von Haus zu Haus zu organisieren sowie der Gesellschaft Vertrauen zu geben. Êlih ist der Name des gegen den Schwarzhandel und die Interessen der Kollaborateure eröffneten Krieges. Es ist der Beweis, dass in kurzer Zeit große Dinge gemeistert werden können. Die Erfahrung von Êlih ist der Wegweiser dafür, der Gesellschaft unter großen Schwierigkeiten und Unmöglichkeiten zu dienen, ohne sich zu beschweren oder Ausreden zu finden.

Die Erfahrung von Êlih ist eine Widerstandsbewegung, in der die Armen und Besitzlosen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Es ist die Keimzelle der heutigen Errungenschaften ...


 Kurdistan Report 195 | Januar/Februar 2018